Kolumne von Martina Bergmann

Früher, 1989 in Westdeutschland

8. August 2024
Martina Bergmann

Lokale Kundenbindung, Verknüpfung der heimischen Wirtschaft mit den örtlichen Schulen, und eigentlich muss man für den Roman, das Abitur, die Anziehsachen nicht mal bis Bielefeld. Die Zeiten haben sich geändert. Martina Bergmann über den mühsamen Spagat bei der Literaturversorgung im Jahr 2024. 

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Martina Bergmann, Buchhändlerin und Autorin in Rietberg.

Es gibt diesen Werbefilm zu Storck Riesen, den Karamellen, die zwischen den Zähnen kleben. Der kleine Michael und Frau Lange. Die Zeiten wandeln sich; jetzt ist er groß, und die liebe Frau Lange hat graue Haare. Der Film ist von 1989, und ich bin da zur Schule gegangen, wo die Klümpchen herkommen. Man riecht das, je nach Wetter. Man rannte, bei Sport, durch den Storcken Wald. Oder man war Martina, die lieber in den Buchladen ging, weswegen sie eine Vier in Sport hatte. Aber im Buchladen roch man die Klümpchen auch.

Wir hätten es alle gern wie 1989, hier in Westdeutschland. Lokale Kundenbindung, Verknüpfung der heimischen Wirtschaft mit den örtlichen Schulen, und eigentlich muss man für den Roman, das Abitur, die Anziehsachen nicht mal bis Bielefeld. In diesem Früher konnte man sich die Kundschaft mit Höflichkeit und persönlichem Interesse gewogen halten. Gefährliche Mitbewerber: Zweitauendeins Buchversand, der Flohmarkt in Münster, und, ach ja: der Bahnhof. Beim großen Bahnhof gab es Bücher in Englisch. Aber so lange man sich über die Hochzeiten der Kundenkinder freute, war alles gut.

Verschiedene Vokabeln bieten sich an, um die Idylle zu zerschmettern. Internet ist eine. Filialist, auch ein erschreckendes Wort. Facebook, Instagram, Tiktok. Aber die schlimmste von allen: Diversität! Die Gesellschaft ist nicht mehr wie Westdeutschland 1989. Weiß man’s, ob der kleine Michael AfD wählt oder seine Frau verprügelt? Ob der Sohn von Frau Lange aus dem schönen Geschäft einen Handyladen gemacht hat? Bling, bling, mit Leuchtschrift? Kann er ja machen. In Westdeutschland wird ständig vererbt. Anstrengungsfreier Wohlstand.

Und die anderen, die in der Meistererzählung des Kleinbürgertums nicht vorkommen? Die, die bei Storck die Karamellen kochten? Die aus Fleisch und Chemie komisches Essen machten, das solche wie ich nicht verzehrten? Ich habe Hunderte Trauerbriefe geschrieben über die Jahre, Kommunion- und Konfirmationskarten, aber ich kann mich nicht erinnern, je eine Karte zur Bar Mitzwa oder zum Zuckerfest verschickt zu haben. Wenn wir ernst nehmen, was wir ritualisiert behaupten, müssen wir uns diesen Lebenswelten auch zuwenden.

Wir sind nicht nur Literaturversorger. Wir müssen auch Leseförderung für mehrsprachige Kinder anbieten, und wenn wir Teil der lokalen Landschaft sein wollen, führt kein Weg am Schützenfest vorbei. Es ist ein mühsamer Spagat zurzeit, denn die einen regen sich auf, weil Rowohlts Monographien eingestellt werden. Die anderen möchten kein Fleisch, und zwar für alle. Dritte lesen wenig, was mich nicht stört, solange sie Postkarten kaufen. In der Buchhandlung muss ich dafür sorgen, dass die Menschen nicht nur reden, sondern auch kaufen. Personen ohne Selbständigkeit vergessen das gern, und Kaffee ist nicht die Lösung.