USA

Ein Ballsaal voller Freiexemplare

28. Juni 2023
von Börsenblatt

Drei Tage lang war Buchhändlerin Anne v. Bestenbostel in Milwaukee dabei, als 340 amerikanische Kolleg:innen eingekauft, sich ausgetauscht und Neues gelernt haben. Was sie alles erlebt hat, steht in ihrem Erfahrungsbericht – so packend und lebendig, als wäre man live dabei gewesen ...

Vier Buchhändlerinnen beim Children's Institute 2023 in Milwaukee: Kristine Pikenena aus Riga, Adele Broadbent aus Havelock North, Anne v. Bestenbostel aus Nordenham und Genevieve Kruyssen aus Brisbane

Ein Riesenprogramm mit tollen ReferentInnen und perfekter Organisation bietet das Children’s Institute – und ich bin mit drei weiteren ausländischen Buchhändlerinnen im Rahmen des Austauschprogramms RISE dabei. Wir lernen, wie man eine Buchhandlung auf wirtschaftlich stabile Beine stellt, wie man Manga-Abteilungen sortiert, was die Tücken im Bereich Young Adult sind (wobei man hier noch nie von farbigen Buchschnitten gehört hat) oder wie man neurodiverse Mitarbeiter gut ins Team integriert – sehr nützlich für Kristine aus Riga, die drei bipolare Mitarbeiter im Team hat.

Wir treffen viele Autoren und Autorinnen, verschiedene Softwarefirmen stellen sich vor, jede Menge Statistik gilt es zu verdauen. Den krönenden Abschluss bietet ein Gespräch mit Ruby Bridges, die 1964 als erstes schwarzes Mädchen auf eine weiße Schule ging, unter Polizeischutz. Bekannt wurde sie durch Norman Rockwells Gemälde, ihr neues Bilderbuch taucht auch wieder auf der Liste der "Verbannten Bücher" auf. Die 500 Kolleginnen und Kollegen in Milwaukee verabschieden die Bürgerrechtlerin mit Standing Ovations.

Sieben Novitäten in fünf Minuten

Einkaufen in Amerika! Seit fünf oder sechs Jahren gibt es keine gedruckten Vorschauen mehr, alles läuft beim Children‘ Institute über das digitale Vorschau- und Bibiografiersystem Edelweiss und unglaublich viele Speed Datings. An 48 Tischen sitzen je neun BuchhändlerInnen, jede Viertelstunde kommt im Laufschritt eine neue Verlagsvertreterin und sagt "Hi, I’m Melanie from Scholastics, page 44" und redet dann im Schnelldurchgang über die wichtigsten sechs oder sieben Titel ihres Verlags. Alle sind BEGEISTERT, wir werden es LIEBEN, es ist DAS neue Vorlesebuch, im Verlag sind alle schon ganz AUFGEREGT… nach 15 Minuten kommt der nächste "from Source, page 25" und redet drauflos! Die BuchhändlerInnen schreiben fleißig mit, ich bin heilfroh, dass ich SO nicht einkaufen muss. Auf einem Ausdruck hat man mal gerade Autor, Titel, ISBN und ET, den Rest muss man sich eben merken, oder man hat es halt schon über Edelweiss gesichtet. Wahnsinnig hektisch, ich habe mich gar nicht getraut, mal einen Schluck zu trinken.

Mittagspause mit 500 Branchenvertreter.innen in Milwaukee

Verkaufstrick

"Aus allen Bestellungen, die jetzt nach dem CI reinkommen, verlosen wir eine Teilnahme am nächsten Kongress!", sagt ein Verlag. Hierzulande wurde mir noch nie eine Teilnahme an den Buchtagen in Aussicht gestellt – aber das ist doch keine doofe Idee.

Ein Ballsaal voller Freiexemplare

Wer eine LG Buch-Tagung erlebt hat, findet manche Parallelen zum Children’s Institute: Verlage präsentieren sich auf kleinen Tischen, ebenso Warenwirtschaftssysteme, die ABA = der Börsenverein und BINC = das Sozialwerk. Was aber neu für mich ist: ein Ballsaal voller Freiexemplare! Ich schätze etwa 300 Titel mit je 300 Exemplaren, nach Verlagsalphabet sortiert, viele davon Leseexemplare, aber auch bereits fertige Titel. Und praktischerweise sind gleich hinter den Tischen FedEx stationiert, Unmengen Kartons und Klebeband. Alle Buchhandlungen mit Rahmenvertrag (bei uns DPD) schicken ihre Beute gleich nach Hause. Sehr pfiffig.

50 AutorInnen signieren Bücher

Ebenso ungewohnt für mich sind die 50 AutorInnen, die am frühen Abend in einem großen U in einem anderen Ballsaal sitzen, vor sich Unmengen ihrer Bücher, bewaffnet mit einem Stift und einem Lächeln. Zwei Meter davor halten 50 Vertriebler die einzelnen Bücher hoch und fangen sofort bei Augenkontakt an, ihre Bücher anzupreisen. "Guck mal hier, ist das nicht toll, das ist ein Bilderbuch über die Erfindung der Spülmaschine!" Das gefällt mir, weil mein Sohn so wahnsinnig gerne Küchendienst macht, also stelle ich mich artig an und lasse mir dann ein Buch für ihn signieren. Ich kenne keine Bücher, keine Autoren, keine Verlage, für mich ist das Ganze recht lustig, also kann ich mir auch noch in aller Ruhe etwas vom Buffet holen. Die Taschen werden immer voller, nach anderthalb Stunden ist der Spuk vorbei. 50! AutorInnen werden nach Milwaukee gekarrt, um 90 Minuten lang ihre Bücher an 340 Buchhandlungen zu verschenken! Das habe ich bei uns noch nicht erlebt.

Lesereisen bezahlt der Verlag

Wenn ein Verlag ein neues Buch anpreisen will und den Autor auf Lesereise durch zwei Dutzend Städte schickt, dann werden in Amerika selbstverständlich alle Kosten vom Verlag getragen! Ich ernte sehr ungläubige Blicke, als ich berichte, dass bei uns die Buchhandlung die Kosten bestreiten muss, die dann manchmal von 30 Leuten im Publikum "getragen" werden müssen. Ist in den USA ein Buch schon ein Jahr alt und der Autor möchte aber trotzdem noch ein paar Buchhandlungen besuchen oder Lesungen abhalten, bekommt er in Amerika vom Verlag ein Reisebudget, das er je nach Gutdünken einteilt: Aha! Es geht also auch anders! Von den Rabatten, die dort unabhängigen Buchhandlungen eingeräumt werden, gar nicht zu reden, da klingeln einem ja die Ohren!

Fürs Sozialwerk spenden ist Ehrensache

Think Binc!  Die Book Industry Charitable Foundation stellt sich vor und ist begeistert, als ich nach zwei Minuten begreife, was sie tun! Ach, Ihr seid das Sozialwerk, das haben wir auch, sage ich. Meine Mutter ist da die Vorsitzende! Ungläubiges Staunen. Von da an bin ich "Anne! Ihre Mutter macht BINC in Deutschland, ist das nicht toll!?" Ja, das ist toll, allerdings können wir an dieser Stelle noch viel lernen. Mit grellen Ansteckern (leuchtende Bierkrüge und Regenbogenfahnen) werden Spendengelder eingetrieben, 4.500 Dollar in drei Tagen, und als vorletzten Programmpunkt gibt es ein kleines Ratespiel, bei dem alle mit Anstecker mitmachen und einer 500 Dollar gewinnen kann. Die Sponsorenliste ist ellenlang! Das kenne ich aus Deutschland leider anders, meine Mutter muss irgendwie mehr Klinken putzen, um Spenden zu kriegen für unverschuldet in Not Geratene aus der Branche. Ob sie mal Anstecker kaufen und dann "Head or Tails" auf den Buchtagen spielen sollte?

Die Spielregeln

Vor der Anreise musste ich meine Pronomen melden, meinen Impfpass rübermailen und unterschreiben, dass "ich alle liebhabe und respektiere und mich gut benehmen werde". Bei der Registrierung darf ich mir dann ein rotes (bitte Abstand halten), ein gelbes (Ellenbogengruß und ein bisschen Abstand) oder ein grünes Halsband (Handschlag ist okay) abholen und mein riesiges Namensschild umbinden. Das ist aber ganz praktisch, weil da alle Visitenkarten und Getränkemarken reinpassen, die man einsammelt. Und dann wird täglich darauf hingewiesen, dass wir uns ja alle respektieren und niemanden ausgrenzen, und alle Neulinge (viele in diesem Jahr!) bekommen Tipps, dass man genug Wasser trinken oder auf den Visitenkarten gleich ein Stichwort notieren soll oder wie man sich aus einem Gespräch rausstiehlt, um weiterzuziehen. Es hat was von Kindergarten, aber es bleiben tatsächlich keine Fragen offen. Morgens um sieben treffen sich die Anonymen Alkoholiker, "weil manche wirklich jeden Tag ein Treffen brauchen", auch "Affinity Groups" für LGBTQIA2S+, BIPoCs, behinderte Menschen und Neurodiverse werden angeboten, zu denen man aber bitte nur gehen soll, wenn man sich zugehörig fühlt.

Diversität wird groß geschrieben

Sind die Amerikaner da weiter als wir? Auf jeden Fall scheint es zu wirken. Weder die 150-Kilo-Frau in Leggins wird irgendwie beäugt noch der stämmige Mann mit Bart, Kleid und Paillettenschuhen. Nicht mal nach dem Alter wird gefragt, oder warum jemand "sweet pea" (kleingeschrieben) mit Vornamen heißt. Die Pronomen dazu habe ich nicht gesehen. Wer Gendern albern findet, und ich finde das nicht, der merkt in den USA ganz schnell, dass das erst der Anfang ist. In Milwaukee sind wir alle so dermaßen divers und bewusst, dass ich nur staune! Jede*r soll gesehen werden, für alle soll es Geschichten geben – sozusagen ganz viele Zuckersüß-Verlage. Eine Schwarze und eine Latina haben zusammen ein Kind – natürlich haben wir dafür Kinderbücher! Brauchen Sie eine Dickpappe oder ist das Kind schon älter? Es ist auch Pride-Month, aber ich glaube, die sind das ganze Jahr über so. In Nordenham wurden uns in der einen Woche zweimal unsere Regenbogenposter zerfetzt. Vielleicht sollte da mal jemand zum Kinderbuchkongress … Die australische Buchhändlerin sortiert ihre Bilderbücher nach australischen oder ausländischen AutorInnen, manchmal präsentiert sie auch nur "First Nation"-Titel. Ich sage, ich lese manchmal Krimis, ohne auch nur zu merken, wo sie spielen, und wenn nicht gerade um einen Mittsommerbaum getanzt wird, wüsste ich oft nicht, woher meine Bilderbücher kommen.

Zu Besuch in einer Buchhandlung, die auf lateinamerikanische Frauenliteratur spezialisiert ist

Die Leute!

Die nettesten Menschen arbeiten im Buchhandel! Das scheint überall so zu sein. Wo sonst reise ich hin, ohne eine Menschenseele zu kennen und sitze eine halbe Stunde nach Ankunft in fröhlicher Runde im Restaurant? BrocheAroe Fabian aus Wisconsin war mit RISE in Irland und wusste, wie es als "Ausländerin" dort ist. Sie lädt uns vier Frauen aus Deutschland, Neuseeland, Australien und Lettland ein, mit ihr und einem Haufen Freundinnen essen zu gehen, und von da an sind wir die ganze Zeit über in den besten Händen! Die Bustour zu allen unabhängigen Buchhandlungen ist ausgebucht? Macht nichts, Rosanne ist mit dem Auto da und fährt uns gerne. Dass Rosanne auch Autorin ist ("Als der Wolf den Wald verließ" bei Coppenrath) ist total nebensächlich, bis eine Teilnehmerin vor Ehrfurcht anfängt zu weinen und sie erstmal in den Arm nehmen muss.

Jemand wie ich (Abitur, Ausbildung, seitdem im Buchhandel) ist drüben total ungewöhnlich. Ich war früher weder Lehrerin noch betreibe ich ein Nachhilfezentrum, ich habe keinen gemeinnützigen Verein, treibe keine Spenden ein, schreibe keine Bücher und stehe nicht an 300 Büchertischen für verschiedene Sozialprojekte. Ich habe noch nicht mal einen Leseclub (was ich allerdings nach den vielen Ideen aus Milwaukee gerne ändern möchte) oder bin in der Jury zum Jugendliteraturpreis. Ich bin wirklich ein bisschen ehrfürchtig geworden und habe mich sehr gefreut, so tolle Leute kennenlernen zu dürfen.

Rosanne Perry, Buchhändlerin und Autorin bei Coppenrath (links), und Anne v. Bestenbostel

Zensur und Klagewege

DAS Thema für die Amerikaner sind die BANNED BOOKS und die immer weiter gehende Zensur. Bisher wurden nur Bibliotheken gezwungen, bestimmte Titel aus den Regalen zu nehmen, nun soll es auch den Buchhandlungen an den Kragen gehen. Mrs. Miller kommt mit ihrer Tochter in die Buchhandlung und findet ein Buch in der Auslage unangemessen? Die Tochter könnte vom bloßen Anblick Schaden nehmen? Sie kann die Buchhandlung verklagen! Damit das nicht passiert, verklagt die American Booksellers Association jetzt den Bundestaat Arkansas, um zu retten, was zu retten ist. Unangemessen ist derweil alles, was queer ist, aber auch allerlei Geschichtliches. Früher wurden Schwarze als Sklaven gehalten? Ja, aber das erwähnen wir bitte nicht mehr!

Ich darf jede Menge T-Shirts bewundern, von Buchhandlungen, aber auch mit Zitaten, lustigen Sprüchen oder der Aufforderung READ BANNED BOOKS.

Dragqueens lesen vor

Jonathan Hamilt aus New York spricht über DRAG STORY HOUR, eine Organisation, die Dragqueens in Schulen und Büchereien schickt, um dort vorzulesen. Wieder sollen alle Kinder gesehen werden bzw. die queeren Kinder Leute zum Identifizieren finden können. Eine Teilnehmerin fragt "Wir hatten Euch schon gebucht, aber dann bekamen wir Bombendrohungen und jetzt fühlt sich das Team nicht mehr sicher! Hast Du Tipps, wie wir den Termin doch noch hinkriegen können?" Mir fehlen die Worte – ob der Verein in Berlin auch soviel Gegenwind bekommt? In Florida und Arkansas musste die DRAG STORY HOUR schon wieder schließen. Beim allerletzten Programmpunkt Drag Karaoke bin ich leider schon weg, verpasse aber was, wie ich später erfahre.

Dafür war ich beim Kostümwettbewerb. Buchhändlerinnen ist gar nichts peinlich! Captain Underpants war dabei, jede Menge Drachen und Schnecken ("oh, Dein Schneckenschleim ist ja schön!!" dürfte ein seltenes Kompliment sein.), Wikinger, Pippi  Langstrumpf, Catniss Aberdeen, zwei Harry Potters und jede Menge andere Gestalten.

Fazit: Hat sich sowas von gelohnt!

Und jetzt? Nach dreieinhalb Tagen voller Input und voller neuer Bekanntschaften bin ich wirklich froh, dass RISE mich ausgesucht hat und ich mitfahren durfte. Ursprünglich wollte ich nur für drei Tage in der Schweiz arbeiten. Wer auch Lust hat, mal über den eigenen Tellerrand hinauszublicken und unsere tolle Branche neu kennenzulernen, dem sei als erstes der Newsletter von RISE Bookselling empfohlen. Dann kriegt man nämlich alles mit und verpasst auch keine Deadlines für die Programme mehr. Oder Einladungen nach Milwaukee …