Deutscher Jugendliteraturpreis

Diese Titel gehen ins Rennen!

22. März 2023
Redaktion Börsenblatt

Beltz & Gelberg ist gleich viermal mit dabei, Klett Kinderbuch und Fischer Sauerländer dreimal, Carlsen und der Kibitz Verlag zweimal: Aus 670 Titeln haben drei Jurys für den Deutschen Jugendliteraturpreis die Nominierungen in den Sparten Neue Talente, Bilder-, Kinder-, Jugend- und Sachbuch ausgewählt.

KRITIKERJURY SPARTE BILDERBUCH

Chris Naylor-Ballesteros

Frank und Bert

Aus dem Englischen von Hanna Schmitz

Coppenrath, 15 €, ab 3

Begründung der Jury:

Fuchs Frank und Bär Bert sind beste Freunde; sie verbindet unter anderem eine große Begeisterung für das Versteckspiel. Das erfahren die Lesenden vom Ich-Erzähler Frank, der sie mitnimmt in eine ebenso lustige wie bedeutungstiefe Spielerfahrung: Wenn der große, flauschige Bert sich versteckt, findet Frank ihn immer. Sogar das extra lange Zählen bis Hundert, bevor die Suche losgeht, ändert daran nichts. Eine sich aufrollende, neon-pinke Wollfadenspur von Berts Schal, die sich durch die gesamte Geschichte zieht, führt Frank zu seinem Freund. Der kauert unbeholfen in einer Felsspalte. Franks Freude über den Sieg aber ist von allerkürzester Dauer. Zwischen zwei Doppelseiten schlägt sie um in tiefe, mitfühlende Nachdenklichkeit. Damit auch Bert sich einmal freuen kann, gibt Frank ihm die Chance, als Gewinner aus dem Versteck zu springen. Seelig lächelnd schmiegen die beiden sich aneinander.

Mit diesem Bild könnte die Geschichte, die von Empathie, Selbstlosigkeit und Gewinnen(lassen) erzählt, enden. Dass sie es nicht tut, sondern in gelungenem Twist die Verhältnisse umkehrt und ausgleicht, macht den ganz besonderen Charme dieser witzig-warmen Bilderbucherzählung aus.

Benjamin Gottwald

Spinne spielt Klavier. Geräusche zum Mitmachen

Carlsen, 18 €, ab 3

Begründung der Jury:

Spinne spielt Klavier ist ein nahezu textloses Bilderbuch mit hohem Aufforderungscharakter, bei dem Lesende selbst Töne produzieren sollen. Kräftig-bunte Bilder im Comic-Stil zeigen Dinge und Figuren in Situationen, die mit Geräuschen einhergehen. „Mach die Geräusche einfach nach“, fordert Benjamin Gottwald eingangs auf und fragt: „Kannst du hören, was du siehst?“ Mag dies bei den ersten Bildern noch einfach gelingen, entwickelt das Bilderbuch auf 160 Bildseiten immer skurrilere und komplexere Szenen. Manche Doppelseiten stellen Geräusche einander gegenüber, die sich ähneln, aber in ganz unterschiedlichen Situationen entstehen. Das Trappeln von Pferdehufen klingt fast genauso wie das Auftreffen eines Tischtennisballs auf dem Schläger; der Kuss zweier Liebender klingt wie das Ansaugen einer gekochten Spaghetti. Andere Doppelseiten entfalten kleine Erzählzusammenhänge und spielen auf kreative Weise mit dem Potenzial von Geräuschen und Situationen.

Beim Blättern in diesem lebendigen Buch formen sich die Geräusche in den Mündern der Betrachtenden von ganz allein. Es sind laute und leise, sichere und suchende Töne, die evoziert werden von den klug komponierten Bildern und Bildfolgen. Dass sich dabei auch die Welterfahrung erweitern kann, verdankt sich der bestechenden Originalität des Konzepts.

Caspar Salmon (Text)

Matt Hunt (Ill.)

Wie man bis eins zählt. Und fang erst gar nicht mit größeren Zahlen an!

Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn

Kunstmann, 16 €, ab 3

Begründung der Jury:

Dass Wie man bis eins zählt innerhalb des Genres Zählbuch etwas Besonderes ist, deutet sich bereits im Untertitel an. Die Warnung: „Und fang erst gar nicht mit größeren Zahlen an!“, ist Programm. In verschmitzter Unterforderungsgeste verlangt der Erzähler auf allen Doppelseiten das Zählen bis eins. Zu sehen ist zunächst ein roter Apfel auf weißem Grund. Es folgt ein grauer Elefant. Noch ist die Zählsituation klar. Aber dann wird es seitenfüllend bunter, gegenständlich komplexer und immer wieder auch skurril. Zu sehen sind etwa zwei große blaue Wale, aber gezählt werden darf nur das Würstchen auf der Fontäne des einen – woher das Würstchen kommt, wird nicht erklärt. Vielmehr geht es nun um das Spiel, um den Bruch mit Erwartungen. Es ist der Reiz des Verbotenen, von dem eine erzählerisch raffinierte Animation zum Zählen ausgeht.

Humorvoll wiederholt der Text in immer neuen Wendungen, dass keinesfalls weiter als bis eins gezählt werden darf. Zugleich ist die Paradoxie dieses Verbots offensichtlich, denn auf jeder einzelnen der farbenfrohen Doppelseiten ergreift der vorauseilende Blick spontan Zählbares in zunehmend größeren Mengen. Für die Verschmitztheit des Erzähltons in direkter Leser:innenansprache findet die Übersetzung von Uwe-Michael Gutzschhahn Wörter und Sätze, die die spielerische Gesamtanlage aufs Beste unterstreichen.

Oren Lavie (Text)

Anke Kuhl (Ill.)

Konrad Kröterich und die Suche nach der allerschönsten Umarmung

Aus dem Englischen von Mathias Jeschke

Fischer Sauerländer, 16 €, ab 4

Begründung der Jury:

Konrad Kröterich ist eine skurrile Figur. Er ist liebenswert und lädt zur Identifikation ein, aber er ist auch selbstverliebt und fordert distanzierte Betrachtung heraus. In bester Weise bewegt begleiten Lesende ihn auf seiner „Suche nach der allerschönsten Umarmung“.

Anke Kuhl setzt Begegnungen mit Giraffe, Goldfisch, Känguru, Kuh und weiteren Tieren variantenreich in Szene. Nach insgesamt 16 Umarmungen, die in mehreren Comic-Panels beschrieben oder in knappen, schnell gereihten Einzelszenen gezeigt werden, schaltet Konrad eine Zeitungsannonce. Was die Bilder bis dahin zeigten, hat der Text pointiert: Keine der Umarmungen war vollkommen. Für das Umarmungstreffen im Stadtpark stehen die Tiere schließlich in einer den Bildrand sprengenden Schlange an. Der perfektionsbesessene Kröterich wird immer unzufriedener, bis er schließlich von seinem sprichwörtlichen Podest stürzt. In den Trostumarmungen der zuvor zurückgestoßenen Tiere findet er endlich das gesuchte Umarmungsglück.

Die Fülle der Umarmungen und die großgemeinschaftliche Zugewandtheit der Tiere tun gut. Dabei zeigen Text und Bild mit viel Witz auch, dass nicht jede Umarmung als angenehm empfunden werden muss.

Bettina Obrecht (Text)

Julie Völk (Ill.)

Wie anders ist alt

Tulipan, 16 €, ab 4

Begründung der Jury:

Ein Quartett aus Großmutter, zwei Kindern und Hund macht einen Ausflug in den Freizeitpark und endet eng aneinander gekuschelt auf einer Bank. In aquarellierten Buntstiftzeichnungen erzählt Julie Völk diese kleine Episodengeschichte. Begleitet wird sie von einem Text, der der Großmutter das Wort gibt, ausgehend von der Frage des Kindes: „Oma, wie ist das, alt zu sein?“. Jeder bildlich dargestellten Szene fügen die Textzeilen von Bettina Obrecht eine Reflexion über den Vergleich des Alt- und Jung-Seins bei. Ganz nah beieinander liegen die Lebensgefühle bei der Freude am Lachen, der Lust am Tanzen, dem Genuss am Austausch mit Freunden und den körperlichen Unzulänglichkeiten. Durchaus unterschiedlich sind sie beim Zeitempfinden und beim Träumen. Zusätzliche Tiefe bekommen die Antworten der Großmutter durch nur in roten Umrissen gezeichnete Gestalten in den Bildern. Diese sind auf jeder Doppelseite dabei und werden – so vermitteln es Gestik und Mimik – nur von der Großmutter wahrgenommen. Sie erweitern die farbenfrohe Gegenwart der Alltagssituationen um die erinnerte Vergangenheit der Großmutter. Der Gedanke ans eigene Lebensende, der zu einem vollständigen Bild vom Altern gehört, wird ebenso unaufgeregt wie zart ins Bild gesetzt.

Wie anders ist alt ist ein generationenvermittelndes Gesprächsangebot. Eine anregungsreiche Einladung zum Philosophieren und zum Austausch.

Heinz Janisch (Text)

Michael Roher (Ill.)

Schneelöwe

Tyrolia, 16 €, ab 5

Begründung der Jury:

Schneelöwe entfaltet die poetisch-metaphorische Idee des inneren Wesens. „Ich bin ein weißer Schneelöwe“, verkündet ein kindlicher Ich-Erzähler zu Beginn des Buches und lädt die Lesenden ein, nach- und mitzuvollziehen, was es bedeutet, außen ein Kind und innen ein Tier zu sein. Das Schneelöwen-Ich des Erzählers bewegt sich geschmeidig durch Räume, hört die leisesten Töne und kann – wenn Unrecht geschieht – gefährlich knurren. So wie dem jungen Erzähler der Schneelöwe zum Spiegelbild und zur Projektionsfläche des Selbst wird, spricht er auch allen anderen Menschen innere Tiere zu. Werden sie entdeckt und in ihrer Vielschichtigkeit wahrgenommen, erhalten Selbst- und Fremdsicht neue Dimensionen und achtsame Tiefen.

Die direkte Ansprache der Lesenden verleiht dem leicht fließenden Text Nähe und Vertrautheit. Wo er Fragen stellt und Geheimnisse andeutet, schlagen die ganz in Blau-Weiß gehaltenen, mit Kugelschreiber gezeichneten Bilder Antwortmöglichkeiten vor und schaffen Räume für Magie und Phantastik. In einem Wechselspiel verschiedener Blicke nähern sich Heinz Janisch und Michael Roher den komplexen Fragen der Identität an.

Schneelöwe ist ein geheimnisvoll-selbstbezügliches Bilderbuch, das auf kunstvolle und vielschichtige Weise zu Entdeckungen im Buch, in sich selbst und in anderen einlädt.

KRITIKERJURY SPARTE KINDERBUCH

Bjørn F. Rørvik (Text)

Claudia Weikert (Ill.)

Fuchs & Ferkel. Torte auf Rezept

Aus dem Norwegischen von Meike Blatzheim

Klett Kinderbuch, 16 €, ab 5

Begründung der Jury:

Dieses Erzähl-Bilderbuch gestaltet den Spaß am Rollenspiel voller Fabulierlust aus. Fuchs spielt Arzt und Ferkel ist Patient. Statt mit einer Grillzange möchte Ferkel lieber mit Schokoküssen und Limonade therapiert werden. Um beides zu bekommen, wird die Pünktchenkrankheit erfunden. Diese bringt dem Ferkel zwar keine Schokoküsse, wohl aber Marzipantorte ein. Zugleich spricht sich die Therapiekunst des selbst ernannten Fuchs-Arztes bei den Tieren des Waldes herum und Behandlungswillige kommen in Scharen. An ein gemütliches Tortenessen ist erst wieder zu denken, als die schmerzhafte Büffelspritze ins Spiel gebracht wird und das Wiesenwartezimmer sich schlagartig leert.

Witzig und frech wird hier ein kunstvoll komponierter kleiner Lügenschwank erzählt. Die anthropomorphisierten Tiere laden zur Identifikation und zum Wiedererkennen eigener Spielerfahrungen ein. Autor Bjørn F. Rørvik gelingt ein erfrischend antipädagogischer Blick auf kindliche Spielpraktiken. Gekonnt verwischt er die Grenze zwischen erzähltem Spiel und spielerischer Fiktion. Der dialogreiche Text in der Übersetzung Meike Blatzheims ist ganz nah an kindlichem Sprachhandeln in Rollenspielen. Die colorierten Zeichnungen von Claudia Weikert ergänzen Witz, Schwung und Spritzigkeit des Textes kongenial.

Matthias Kröner (Text)

Mina Braun (Ill.)

Der Billabongkönig

Beltz & Gelberg, 15 €, ab 8

Begründung der Jury:

Krokodil Ben ist ein Billabongkönig und als solcher tierisches Oberhaupt über den Mangrovensumpf. In einer Situation körperlicher Schwäche gerät er in Abhängigkeit von einem skrupellosen Vogel, der die Machtübername im Sumpf anstrebt.

Der Billabongkönig ist eine wortwitzige und fabelartige Geschichte. Es geht um Herrschaft und Revolution, Macht und Ohnmacht, Verrat und Solidarität, Verbrechen und Moral, Diktatur und Demokratie. Gekonnt setzt Matthias Kröner diese komplexen Themen kinderliterarisch in Szene und entfaltet dabei einen lebendigen Dialog zwischen der Erzählinstanz und seiner Hauptfigur. Ben fällt dem Erzähler häufig ins Wort. Vor allem ist ihm oft zu peinvoll, was da erzählt wird. Zeigt es doch ihn, der den Duktus des angeberischen Machos gerade erst wiedererlangt hat, schwach, moralisch angreifbar und angstvoll. Der Weg aus beißender Bedrängnis führt über den Mut zum Widerstand, loyale Freundschaft und die Bereitschaft zur Vergebung. Nach schwerer Erschütterung erholt sich das soziale Gefüge der Mangrovenwelt in der Entstehung einer Demokratie.

Das gemeinsame von Sticheleien und Rangeleien durchzogene Erzählen verleiht den gewichtigen Themen zugängliche Leichtigkeit, ohne dabei Tiefe und Ernsthaftigkeit einzubüßen. Plakative Illustrationen von Mina Braun im Vierfarbdruck unterstreichen die Besonderheit dieses Buches.

Tanja Esch

Boris, Babette und lauter Skelette

Kibitz, 20 €, ab 8

Begründung der Jury:

Es ist die Geschichte einer eigenwilligen Selbstfindung, die in diesem farbenfrohen Kindercomic erzählt wird. Babette, vor Jahren als Haustier gekauft, entzieht sich nicht nur für ihre Besitzerin Lynette jeder Zuordnung. Sie hat Kleinkindgröße, strahlend gelbes Fell, kann sprechen, liebt es fernzusehen und Flips zu essen. Als die 16-jährige Lynette für ein Jahr ins Ausland geht, übernimmt der jüngere Nachbar Boris die Verantwortung für Babette und gerät mit ihr in einen fröhlich-chaotischen Trubel anstrengender Fürsorgearbeit. Insbesondere Babettes ausgeprägtes Bedürfnis, sich zu gruseln, bereitet ihm viel Mühe. Ebenso die Geheimhaltung vor den Eltern. Vor allem aber ist es Babettes ungestilltes Zugehörigkeitsbedürfnis, das Boris und mit ihm die Lesenden anrührt und herausfordert.

Tanja Eschs Zeichnungen überzeugen durch einen reduzierten, aber präzisen Stil. In bunt-knalliger Flächigkeit erzählen übersichtliche Panelfolgen temporeich und mit viel Humor vom Selbstfindungsweg einer kurios charmanten Ausnahmefigur. Die detailreiche und konsequente Figurenzeichnung belustigt und berührt. Es ist eine starke (bild)sprachliche Leistung, eine Figur zu schaffen, die zugleich fordernd und sehnsüchtig, komisch und verloren ist. Glücks- und Teilhabeanspruch werden originell auserzählt.

Katja Ludwig (Text)

Heike Herold (Ill.)

Ellie & Oleg – außer uns ist keiner hier

Klett Kinderbuch, 16 €, ab 9

Begründung der Jury:

Mit Ellie & Oleg ist die Pandemie in der Kinderliteratur angekommen. Als unerhörte Begebenheit führt sie dazu, dass die zwölf Jahre alte Ellie und ihr achtjähriger Stiefbruder Oleg sich allein und noch dazu ohne Handy im neuen Zuhause ihrer Patchworkfamilie mitten auf dem Land wiederfinden. Aus Ellies Perspektive wird von den Erlebnissen des herausforderungsreichen Auf-sich-gestellt-Seins erzählt. Die kinderliterarisch bekannte Zumutung des Alleinseins wird zu einem Handlungsraum voller Möglichkeiten, um über sich selbst hinauszuwachsen.

Die Lesenden werden mitgenommen auf einen emotional aufwühlenden Abenteuertrip mit Ungewissheit über den Verbleib der Eltern, einem Haus ohne Nachbarn, zur Neige gehenden Lebensmitteln, dem Verirrt-Sein im freien Feld und viel zu viel Verantwortung für den kleinen Bruder. Der Erzählton transportiert die quicke Wachheit und tapfer kontrollierte Verzweiflung der Erzählerin sehr genau. Oft lässt Katja Ludwig es unterstützt durch die cartoonhaften Illustrationen Heike Herolds lustig werden. Aber nie zu lustig, denn dafür ist die Lage zu ernst. Das wird an keiner Stelle dieses anspruchsvoll erzählten kinderliterarischen Endzeitszenarios vergessen. Ellies Besonnenheit, ihr Durchhaltewillen und die unverbrüchliche Solidarität der beiden ungleichen Geschwister machen Mut und fordern zum Nachdenken über die eigene Positionierung in ähnlicher Situation heraus.

Helen Rutter

Neun Wünsche für Archie

Aus dem Englischen von Silke Jellinghaus

Atrium, 17 €, ab 10

Begründung der Jury:

Neun Wünsche für Archie erzählt die berührende Geschichte eines resilienten Kindes. In einer spielerisch leichten Verbindung von Realistischem und Phantastischem erreicht Helen Rutter eine feinsinnige Bedeutungstiefe. Der elfjährige Ich-Erzähler Archie Crumb muss sich in belastenden prekären Verhältnissen zurechtfinden. Seine vormals lebensfrohe Mutter hat Depressionen und kann ihren Alltag kaum mehr bewältigen; sein Vater hat eine neue Familie, in der Archie nicht willkommen ist. Auf sich allein gestellt, versucht Archie den Eindruck des gut funktionierenden Mutter-Sohn-Alltags aufrecht zu erhalten.

Phantastische Hilfe bekommt er von seinem Lieblingsfußballer Lucas Bailey, der ihm neun Wünsche gewährt. Das erzählerische Einfallstor für diese Wunschmagie ist ein Fahrradsturz. Ob die Begegnung mit dem Fußballer tatsächlich stattgefunden hat oder der Phantasie Archies entspringt, bleibt offen. Die gewährten Wünsche aber entfalten eine zauberhafte Kraft, die Archie in absurd komische Situationen bringt und ihn schließlich erkennen lässt, dass er Hilfe annehmen darf und kann.

Der Entwicklungsweg des unsicheren Archie hin zu selbstbewusstem Zutrauen in sich und seine Fähigkeiten spiegelt sich in humorvollen Spruchweisheiten, die zu Beginn jedes Kapitels sowohl Lucas Bailey als auch die Hauptfigur Archie Crumb zu Wort kommen lassen.

J.M.M. Nuanez

Birdie und ich

Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann

dtv Reihe Hanser, 15 €, ab 11

Begründung der Jury:

Sensibel, warmherzig und poetisch greift Birdie und ich das Thema Verlust auf. Der Tod ihrer Mutter hat die zwölfjährige Ich-Erzählerin Jack und ihren neunjährigen Bruder Birdie in ein verändertes Leben geschleudert. War es zuvor kein Problem, dass Birdie genderfluid lebt, führt dies in neuer Umgebung mit anderen Erwachsenen zu Turbulenzen. Birdie selbst lebt einen offenen Umgang mit Interessen und Vorlieben, die an keine Genderrolle gebunden sind – allein das neue Umfeld zieht Restriktionen ein, vor allem der konservative Onkel Patrick sorgt sich um Birdie; Jack leistet dabei Ausgleichs- und Vermittlungsarbeit. Für die feinfühlige Ich-Erzählerin gilt es, vieles zu hinterfragen und zu verstehen, was die familiale Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbindet. Dass dabei niemand verurteilt wird – nicht Birdie, nicht die beiden Onkel, nicht die tote Mutter – ist eine gelungene Erzähl- und Konstruktionsleistung. Alle machen Fehler. Alle müssen mit dem Verlust eines geliebten Menschen klarkommen. Alle haben Enttäuschungen verursacht. Weil sie aber versuchen, sich gegenseitig zu unterstützen und zu verstehen, dürfen alle so bleiben wie sie sind.

Den eindringlichen und gewandten Erzählton, der eine sensible Sprache für Inneres und Äußeres findet, hat Birgitt Kollmann leichtfließend und differenziert ins Deutsche übertragen.

KRITIKERJURY SPARTE JUGENDBUCH

Josephine Mark

Trip mit Tropf

Kibitz, 20 €, ab 12

Begründung der Jury:

Ein kleiner Hase, der im Waldbehandlungszimmer auf seinen nächsten Tropf wartet, rettet zufällig einen Wolf vor der Kugel eines Jägers. Damit beginnt die ungeplante Reise eines ungewöhnlichen Duos. An den Wolfskodex gebunden, muss sich der Gerettete beim Häschen revanchieren. Es entspinnt sich ein herzerwärmend fröhlicher Weg, an dessen Ende Hase und Wolf nicht nur einander fest verbunden sind, sondern auch eine schwere Erkrankung überwunden ist.

Der geschickt mit den formalen Möglichkeiten von Panelrahmen und Sequenzen arbeitende Comic lässt sich in seiner bunten und starken Bildsprache auf mehreren Ebenen lesen. Unterschiedlichste Erfahrungshorizonte werden angesprochen. Wer bereits Begegnungen mit einer Krebserkrankung gemacht hat, wird schnell erkennen, womit sich der Hase auseinandersetzen muss. Da dies aber nie explizit verbalisiert wird, lässt sich die Geschichte auch als ereignisreicher Roadtrip lesen, der die Entwicklung einer Freundschaft ins Zentrum stellt.

Josephine Mark greift das etablierte Muster der Road Novel auf und übersetzt es in eine gelungene Comicbildsprache. Sie bettet unzählige Verweise auf populärkulturelle Medien ein, zitiert filmische Einstellungen und entwirft einen vielschichtigen, humorvollen, nie vereinfachenden Text.

Angeline Boulley

Firekeeper’s Daughter

Aus dem Englischen von Claudia Max
cbj, 20 €, ab 14

Begründung der Jury:

Das Leben zwischen verschiedenen kulturellen Kontexten prägt den Alltag der 18-jährigen Daunis. Sie ist eine Figur des Dazwischen. Einerseits gehört sie durch ihren Vater zur Kultur der Native Americans im Ojibwe-Reservat. Andererseits ist sie durch ihre weiße Mutter auch Teil einer anderen Welt außerhalb. Diese ambivalente Herkunft, bei der die Kategorien Race und Class unmittelbar miteinander verwoben sind, prägt Daunis‘ Selbstwahrnehmung, die sie in ihrer Ich-Perspektive selbstreflexiv und selbstbewusst verhandelt.

Firekeeper’s Daughter verbindet die Aspekte der Identitätssuche im interkulturellen Spannungsfeld geschickt mit einem Thriller-Plot. Als Daunis Zeugin eines Mordes wird, wird ihr Alltag massiv aufgestört; viele sind nicht die, als die sie sich ausgeben, aber am Ende entdeckt Daunis ein Ankommen in ihrem Dazwischen-Sein.

Der Roman rückt eine marginalisierte Stimme ins Zentrum, ohne sie zu reduzieren. Angeline Boulley gelingt es, vielschichtig und komplex von den Verhältnissen zu erzählen. Claudia Max hat dies treffend und sensibel ins Deutsche übersetzt, lässt sprachliche Besonderheiten bestehen und bettet Wörter aus der Kultur der Ojibwe ein. Das dadurch bei den Lesenden herausgeforderte Fremdheitsgefühl bleibt indes nicht in einer entfernten Distanz, sondern öffnet in der poetischen Kraft des Romans neue Räume des Denkens und Empfindens.   

Nils Mohl

Henny & Ponger

Mixtvision, 18 €, ab 14

Begründung der Jury:

Am Anfang des Romans Henny & Ponger steht eine unerhörte Begebenheit: In einer S-Bahn erspäht der Junge Ponger das Mädchen Henny, denn beide scheinen den gleichen Roman zu lesen. Kurz darauf zieht sie die Notbremse, steckt ihm noch ein Wegwerfhandy zu und flüchtet vor Polizeibeamten in Zivil aus dem Waggon. Natürlich kreuzen sich die Wege der beiden bald darauf wieder. Einfache Begegnungen aber sind es nicht. Vielmehr blättert sich Seite für Seite in verwirrender Deutlichkeit Rätselhaftes auf.

Für Ponger, Flipper-Mechaniker mit unbekannter Herkunft, kommt es zur Konfrontation mit einem extraterrestrischen Flugobjekt und ein Roadtrip nach Amrum wirbelt seine bisherige Weltsicht kräftig durch. Die personale Erzählkonstruktion holt dabei die Lesenden unmittelbar in sein verwirbeltes Erleben hinein. Am Ende bleibt die Frage, was wirklich passiert ist.

Sprachlich schöpft Nils Mohl virtuos aus dem Bildbereich des Weltalls, wenn sich Namen und Motive daran anlehnen. Mit dem Hauch von Science-Fiction findet er einen neuen und erfrischenden Kniff, um im Gewand einer Liebesgeschichte vom Erwachsenwerden als Fremdheitserfahrung zu erzählen.

Chantal-Fleur Sandjon
Die Sonne, so strahlend und Schwarz

Thienemann, 17 €, ab 14

Begründung der Jury:

Das Heranwachsen der jugendlichen Nova ist geprägt durch „Vielheiten“, wie sie es selbst nennt. Gerade erst hat sie sich gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder Cosmo und der Mutter aus dem gewalttätigen Einflussbereich des Stiefvaters gelöst und steht nun nicht nur in einer leeren Wohnung, sondern auch vor der Suche nach ihrem Selbstbild. Der Versroman zeichnet ihre Schritte im neugewonnenen Alltag nach. Langsam überwindet sie die seelischen und physischen Verletzungen der Vergangenheit. Hilfe findet sie bei ihren alten und neuen Freund:innen, ihrer Leidenschaft für das Rollschuhfahren und Tanzen sowie in einem ersten Verliebtsein in die gleichaltrige Akoua.

Chantal-Fleur Sandjon erzählt in einer eindringlich verdichteten Verssprache mit unverbrauchten Metaphern von einer komplexen Identität. Mit dem im deutschen Sprachraum noch seltenen Versroman schreibt sie sich in eine US-amerikanische Tradition der Spoken Word Community ein und erweitert diese für einen deutschsprachigen Kontext. Das Heranwachsen als Schwarze, queere junge Frau in Deutschland wird in all seinen Vielheiten und Komplexitäten entwickelt. Konsequent führt Sandjon das individuelle Schicksal auch mit einer gesellschaftlichen Ebene zusammen und verweist auf gegenwärtige Themen wie Polizeigewalt und historische Ereignisse wie die Einwanderung afrikanischer Arbeitskräfte in die DDR.

Aiden Thomas

Yadriel und Julian. Cemetery Boys

Aus dem Englischen von Stefanie Frida Lemke

Dragonfly, 18 €, ab 14

Begründung der Jury:

In Yadriels Familie sind die Frauen Heilerinnen und die Männer können als „Brujos“ Geister beschwören. Kurz vor dem so genannten Día de Muertos (Tag der Toten) will Yadriel beweisen, dass er ein richtiger „Brujo“ ist. Da er sich aber als Transjunge geoutet hat, wird er ausgeschlossen. Mit seiner Cousine und besten Freundin Maritza sucht er nach einem Weg, um das für sein eigenes Selbstbild so wichtige Übergangs-Ritual dennoch vollziehen zu können. Es gelingt ihm, mit dem Geist des kürzlich ermordeten Julian in Kontakt zu treten, dessen mysteriösem Tod er nachgeht. Rückhalt findet Yadriel bei einer neuen Freundesgruppe, die sich gegenseitig als Wahlfamilie Unterstützung gibt.

Aiden Thomas‘ Urban Fantasy erzählt sensibel vom Weg eines Transjungen hin zur Akzeptanz durch seine Familie. Dass in dieser Form die Pronomen er/ihm selbstverständlich gesetzt sind, untermauert auch das gefestigte Selbstverständnis Yadriels, für den die Geschlechtsidentität nicht mehr in Frage steht. Die kulturellen Traditionen der Latinx-Gemeinschaft bilden den zentralen Bezugsrahmen, der mit aktuellen Fragen von Identitätsentwürfen geschickt verwoben wird. In flapsig-leichtem Ton, der dabei jegliche Oberflächlichkeit sicher vermeidet, erzählt der Roman in der Übersetzung von Stefanie Frida Lemke mit viel Humor von der Ernsthaftigkeit seiner Themen.

Cornelia Travnicek (Text)

Michael Szyszka (Ill.)

Harte Schale, Weichtierkern

Beltz & Gelberg, 15 €, ab 14

Begründung der Jury:

Die 17-jährige Fabienne, deren Initialen bezeichnenderweise „FCK“ ergeben und damit subtil auf die ganz eigene Wahrnehmung ihrer Umwelt verweisen, erzählt in Tagebuchform über ihre Sommerferien. Für sie gilt es, ihren „Gedankenstrudel“ nach der Trennung von ihrem Freund wieder in den Griff zu bekommen. Hilfe holt sie sich dafür bei einem Therapeuten, der sukzessive die Diagnose „Asperger“ erstellt.

Mit viel Ironie und Humor gibt Fabienne ihre Sichtweise auf sich selbst, aber auch ihre Umweltbeobachtungen und -bewertungen wieder. Der Oktopus in einer Kokosnussschale, auf den der Titel verweist, ist dabei die zentrale Metapher für ihr Erleben. Sie gibt sich als mysteriöse und intelligente Einzelgängerin und ist hinter einem Panzer aus entwaffnenden Worten eine verletzliche Person.

Vielschichtig erzählt Cornelia Travnicek von einer jungen Frau im Autismus-Spektrum, und vermeidet dabei jegliche Verharmlosung oder Vereinfachung. Ergänzt wird der Erzähltext durch variantenreiche Illustrationen, die die Themen und Motive des Textes verdichten. Dabei arbeitet das Buch stark mit seiner Materialität: Ganze Seiten bleiben leer, Haftzettel werden angedeutet, karierte Notizbuchseiten sind eingebettet und die mit Tusche gemalten Illustrationen von Michael Szyska fügen sich (ver)fließend ein.

KRITIKERJURY SPARTE SACHBUCH

Monika Vaicenavičienė

Was ist ein Fluss?

Aus dem Schwedischen von Cornelia Boese

Knesebeck, 16 €, ab 5

Begründung der Jury:

Dem Fluss vom Cover ins Buch hinein folgend werden wir zur Rahmengeschichte des poetischen Sachbilderbuchs von Monika Vaicenavičienė geführt: Eine Großmutter und ihr Enkelkind picknicken am Fluss, das Kind sammelt Fundstücke, seine Oma bestickt mit blauem Faden eine Decke. In dieser Szene münden die Gedanken des Kindes zum Thema „Fluss“ in großen Fragen: „Fluss, wer bist du?“ „Oma, was ist ein Fluss?“ Ab hier strömt das in vielen Lebensjahren angesammelte Flusswissen der Großmutter als Binnengeschichte durch das Buch, dabei fließen Texte und pluriszenische Bilder ebenso ineinander wie naturwissenschaftlich-historische Fakten mit mythisch-märchenhaft-metaphorischen Elementen. Ein Fluss ist ein Spiegel, ein Weg, ein Duft, eine Tiefe und Energie, Erinnerung und Ozean.

Jede Doppelseite widmet sich einem komplexen Thema, poetisch verdichtet und mit sachlich knapp gehaltenen, sorgsam ausgewählten Fakten (aus aller Welt). Unerschöpflich scheint das hier dargestellte Wissen über Flüsse und die Geschöpfe, die die Flusslandschaften bevölkern. Unerschöpflich wie der Gedankenstrom der Großmutter, die selbst auch offene Fragen formuliert und so dazu einlädt, die eigenen Gedanken in Fluss zu bringen. In diesem Buch mischt sich das Wesen des Flusses in die Antworten und wird so zum erzählenden Subjekt.

Alea Horst (Text, Fotos)

Mehrdad Zaeri (Ill.)

Manchmal male ich ein Haus für uns. Europas vergessene Kinder

Klett Kinderbuch, 16 €, ab 8

Begründung der Jury:

Nach dem Brand im Flüchtlingslager Moria befragte die Fotografin und Nothelferin Alea Horst Kinder und Jugendliche im Ersatzlager Kara Tepe nach ihren Erlebnissen, nach ihren Ängsten, Träumen, und Hoffnungen. Der titelgebende Wunsch der zehnjährigen Tajala aus Afghanistan spricht von der Sehnsucht nach der Befriedigung ganz fundamentaler Bedürfnisse. Auf Lesbos gibt es keine Geborgenheit, keinen Schutz, keine Struktur. Mit großformatigen Fotoporträts schließen eindringliche Sätze sich zusammen zu tief berührenden Einblicken in 22 junge Leben. Aus Afghanistan, aus Syrien oder aus dem Kongo stammend, eint die Sechs- bis 14-Jährigen der Verlust der Heimat, der Schrecken der Flucht und das qualvolle Warten im Transitraum Lager, der ihre Hoffnungen und ihren Mut auf härteste Proben stellt. Die Fotos zeigen die Kinder und Jugendlichen in oder vor Zelten, allein oder zu zweit, auf Kissen sitzend, auf Decken liegend oder beim Spiel. Alea Horsts Haltung ist dabei nie voyeuristisch, vielmehr immer auf Augenhöhe.

Es sind die Stimmen der brutal an den Rand gedrängten Kinder, die hier Gehör bekommen. Das vermittelt ein differenziertes Bild der individuellen Schicksale hinter den Nachrichtenbildern. Gezeichnete Vignetten des Illustrators Mehrdad Zaeri heben zart das Erlebte, Gewünschte, Vermisste hervor – ein Haus ist immer dabei.

Agata Loth-Ignaciuk (Text)

Bartłomiej Ignaciuk (Ill.)

Ins ewige Eis! Nordpol und Südpol in einem Jahr

Aus dem Polnischen von Dorothea Traupe

Gerstenberg, 18 €, ab 10

Begründung der Jury:

Minus 50 Grad. Ein 150 kg schwerer Schlitten. Zwei junge Männer. Ein nahezu unerreichbares Ziel. Das abenteuerliche Sachbuch erzählt einfühlsam und klar von den Expeditionen des polnischen Abenteurers Marek Kamiński. Zusammen mit seinem Freund Wojtek Moskal reiste er an den Nordpol und – noch im gleichen Jahr – ohne Begleitung an den Südpol. Gezeigt wird, wie es ist, herausragende Ziele aus eigener Kraft und ohne größere technische Unterstützung zu erreichen.

Im klassischen Doppelseitenprinzip werden anhand von Sach- wie auch von biografischen Informationen die zeitintensiven Vorbereitungstrainings und der so beschwerliche wie gefährliche Weg durch eisige Welten beschrieben. Der Text und Bartłomiej Ignaciuks linolschnittartige Illustrationen fügen sich wie Eisschollen aneinander, die Bilder wirken ebenso wie die Eiswelt und die Ausrüstung der Expeditionen maximal reduziert, eisblau, schwarz und weiß mit Kontrasten in neonorange. Diese Kontraste heben insbesondere die Momente hervor, in denen sich die beiden Abenteurer angesichts der harschen Wildnis schwach, unfreiwillig komisch oder winzig klein fühlen.

Wer wissen will, was es wirklich braucht, um große Träume zu verwirklichen, findet in diesem Buch ermutigende Hinweise und erhält nebenbei Einblicke in eine menschenleere, faszinierend schöne Wildnis.

Nadine Beck (Text)

Rosa Schilling (Text)

Sandra Bayer (Ill.)

Sex in echt. Offene Antworten auf deine Fragen zu Liebe, Lust und Pubertät

migo, 17 €, ab 11

Begründung der Jury:

Aufklärungsbücher sind festes Inventar des Sachbuchs für Kinder und Jugendliche. Nadine Beck und Rosa Schilling legen eine ganz neue Form vor. Unverkrampft und umfassend widmen sie sich dem Thema Sexualität, ganz ohne sich jungen Lesenden anzubiedern. Auch über wenig behandelte Themenfelder wird sachlich informiert. Von Solo-Sex und Menstruation, bis hin zu Sextoys und Pornos gibt es keine Tabus. Immer aber wird die Option aufgezeigt, sich jederzeit auch gegen dargestellte Praktiken zu entscheiden.

Die Autorinnen erschaffen einen sprachsensiblen Erfahrungsraum, der Transidentitäten selbstverständlich einschließt und (Non-)Konformitätsdruck konsequent vermeidet.

Die vielschichtige visuelle Gestaltung mit Illustrationen von Sandra Bayer sorgt in knallig- bunten Farben und plakativ-cartoonhaftem Stil für Individualität auf jeder einzelnen Seite. Variantenreich setzen sich ganzseitige Illustrationen mit Comicelementen und kleinen Vignetten zu Erzählräumen zusammen. Gezeigt wird eine Körpervielfalt, bei der unterschiedliche Hautfarben oder Körperformen ebenso selbstverständlich mitgedacht werden wie Verschiedenheiten des Alters oder Behinderungen.

In großartiger Verquickung von Bild und Text stellt Sex in echt heraus, wie spannend Sexualität sein kann.

Kathrin Köller (Text)

Irmela Schautz (Ill.)

Queergestreift. Alles über LGBTIQA+

Hanser, 22 €, ab 11

Begründung der Jury:

Das bekannte Muster des ABC-Buchs stellt dieses Sachbuch gleich zu Beginn auf den Kopf: Die repräsentativen Buchstaben der queeren Gemeinschaft (LGBTIQA+) gliedern hier die Kapitel und stellen den vielfältigen Kosmos queerer Identitäten vor. Kathrin Köller nimmt sprachlich gewandt und sensibel queere Themen auf. Von Homosexualität in gesellschaftlichem oder historischem Kontext, über Transpersonen und geschlechtliche Vielfalt jenseits binärer Vorstellungen von Mann und Frau, bis hin zu Asexualität und Modellen von Beziehung und Sexualität: Queergestreift spart keinen Aspekt aus.

Gesundheitliche, rechtliche und soziale Fragen werden anschaulich und respektvoll vermittelt. Die überbordende und ästhetisch ansprechende Buchgestaltung mit Illustrationen von Irmela Schatz schöpft aus der vollen Vielfalt der Jugendmedienkultur. Liedzitate oder Verweise auf Memes sowie Erfahrungsberichte queerer Menschen setzen sich mosaikartig zu einem großen Ganzen zusammen. Queergesteift ist ein wichtiges Handbuch, das nicht nur queeren Jugendlichen einen sicheren Erfahrungs- und Erprobungsraum bietet, sondern auch alle anderen einlädt, sich auf queeres Leben einzulassen. Mit Regenbogen-Cover und farbigem Buchschnitt setzt auch die Materialität ein starkes Zeichen für Vielfalt.

Lucia Zamolo

Jeden Tag Spaghetti. Wie es sich anfühlt von hier zu sein, aber irgendwie auch nicht

Bohem, 16 €, ab 12

Begründung der Jury:

Read + watch + listen = grow! Diese Achtsamkeits-Formel gibt Lucia Zamolo den Lesenden mit auf den Weg, um sich in humorvollen Erfahrungsskizzen mit den Themen Othering, Rassismus, Intoleranz und Diskriminierung zu beschäftigen. In ihrem autobiografischen Buch wählt Zamolo zarte Pastelltöne, um vermeintlich harmlose Vorurteile darzustellen, mit denen Menschen, die in Deutschland als irgendwie „anders“ angesehen werden, tagtäglich konfrontiert sind.

Die ausdrückliche Subjektivität der Darstellung betont sie typografisch mit durchgehendem Handlettering, grafisch mit kleinen (auto)biografischen Comicszenen, Notizen und tagebuchartiger Seitengestaltung. Inhaltlich wird aus der Betroffenenperspektive von Gedanken und Gefühlen berichtet, die in typischen Othering-Situationen aufkommen. Sei es bei der Wohnungssuche von Menschen mit nicht deutsch klingenden Namen oder bei der Frage: „Wo kommst du EIGENTLICH her?“ Wissenschaftlich fundiertes Faktenwissen fließt über die adäquate Erläuterung von Fachbegriffen – was beispielsweise sind „Mikroagressionen“? – in die humorvoll bewegenden Erfahrungsskizzen mit ein.

Es ist eine fröhliche Lust auf Sensibilisierung und Veränderung, die aus dem Erzählgestus dieses engagierten Buches spricht. Achtsameres Verhalten mag nach der Lektüre für die hierin wiederholt direkt angesprochenen Lesenden selbstverständlich(er) sein.

Sonderpreis NEUE TALENTE Autor:in

Matthias Kröner

Nominiert für

Der Billabongkönig

Illustriert von Mina Braun

Beltz & Gelberg, 15 €, ab 8

Begründung der Jury:

Ben, uneingeschränkter Herrscher über seinen schlammigen Sumpf, ist ein Krokodil, ein Billabongkönig. Er führt ein sorgenfreies Leben, bis zu dem Tag als eine Gräte quer zwischen seinen Zähnen stecken bleibt. So genannte Krokodilwächter, kleine Vögel, sorgen für Sauberkeit in den Gebissen, indem sie die Reste aus den Mäulern der Krokodile picken. Eine absolute Win-Win-Situation. Ben macht sich auf den weiten Weg zu einem Grätenzieher, dessen legendärer Ruf ihm vorauseilt. Nach diesem Besuch wird für Ben nichts mehr so sein, wie es vorher war.

Eine Geschichte über Macht und Machtmissbrauch, und wie die filigrane Ordnung einer Gemeinschaft durch einen Einzelnen ganz schnell zerstört werden kann.

Trotz der aktuellen Thematik gelingt es Matthias Kröner, Bens Geschichte mit einer gehörigen Portion Humor zu erzählen. Das Buch ist ganz im Dialog zwischen Erzähler und Krokodil geschrieben und das macht es so besonders. Es ist ein Vergnügen, diesen Dialogen zu folgen, weil Ben sich gerne in die Erzählung einmischt, nicht immer zur Freude des Erzählers. Ganz nebenbei fließen Details über das Leben von Krokodilen in die Geschichte ein. Dabei gelingt es Matthias Kröner, zusätzlich Sachwissen zu vermitteln. Bis zur letzten Seite ein großes Lesevergnügen.

Josefine Sonneson

Nominiert für

Stolpertage
Carlsen, 14 €, ab 12

Begründung der Jury:

Es sind Zeiten des Umbruchs und des Aufbruchs: Jettes beste Freundin ist schon lange weggezogen und der Kontakt zu ihr eingeschlafen. Die Eltern haben sich getrennt und die Mutter hat einen neuen Partner kennengelernt, mit dem sie nun zusammenziehen möchte. Der Umzug steht an und damit der endgültige Verlust des Elternhauses. Doch damit nicht genug: Jettes engste Vertraute und zugleich fester Orientierungspunkt ihres Lebens, die Schwester, wird nach dem Abitur eigene Wege gehen, ebenso wie Jettes dementer Großvater, dessen Leben an sein Ende kommt.

„Bricht etwas ab, fängt wieder was Neues an. So ist das. Aber manchmal ist das eben doch nicht so.“ (S. 7) Zwischen diesen beiden Polen, die auf den ersten Blick oftmals gar nicht genau auseinanderzuhalten sind, vollzieht sich dieser eine, besondere Frühling der Ich-Erzählerin Jette, deren Alltag zwischen Erinnerungen an eine vermeintlich unbeschwerte Vergangenheit und ungewisser Zukunft oszilliert. Nichts ist gewiss, alles ist möglich in diesen Stolpertagen, die als Metapher für die Empfindungen der jungen Protagonistin fungieren. Adoleszenz erscheint hier, inhaltlich wie sprachlich in sehr überzeugender Weise verdichtet, als Kaleidoskop von Mosaikstücken, deren Zusammensetzung und Bedeutung ganz in die Wahrnehmung der Lesenden gelegt wird.

Annika Büsing

Nominiert für

Nordstadt

Steidl, 12 €, ab 14

Begründung der Jury:

Die 25-jährige Nene ist in der Bochumer Nordstadt aufgewachsen. Ihre Kindheit und Jugend war von Gewalt und Armut geprägt. Der Vater hat sie im Suff geschlagen und die Mutter hat weggeschaut, bis sie an Krebs gestorben ist. Geholfen hat nur das Schwimmen im Verein, wo sie Anerkennung und auch den Zuspruch ihrer Trainerin fand. Männer sind für Nene eigentlich passé, doch als sie Boris im Schwimmbad begegnet, ist es anders. Boris ist gehbehindert, weil seine esoterische Mutter eine Impfung gegen Polio verweigert hat. Er ist arbeitslos, menschenscheu und ein chronischer Lügner, aber Nene ist fasziniert und verliebt. Die Annäherung ist so kompliziert, wie die Kindheitswunden der Protagonist:innen auch.

Annika Büsings Debüt verbleibt trotz der sozialen Problematisierung positiv und verschiebt die herkömmlichen Grenzen eines Jugendromans. Kraftvoll werden Kindheitsepisoden, Traumata und psychische Verletzungen offenbart, ohne dass die Erzählerin ihren Lebensmut, ihre Empathie oder ihren Optimismus verliert. Die Figuren sind gebrochen und stark zugleich und sie entsprechen einer Zeit, die sich Resilienz als Überlebensprinzip auf die Fahne geschrieben hat.

Nominierungen der JUGENDJURY

Stefanie Höfler
Feuerwanzen lügen nicht
Beltz & Gelberg, 15 €, ab 11

Begründung der Jury:

Die besten Freunde Mischa und Nits sind eng verbunden, sie reimen und philosophieren. So z.B. über den Ehrgeiz von Feuerwanzen, die lieber über vier Turnschuhe klettern statt daran vorbeizukrabbeln. Auch der 14-jährige Mischa muss viel Ehrgeiz entwickeln, um den schönen Schein zu wahren und dafür zu sorgen, dass niemand, nicht mal Nits, der Ich-Erzähler des Romans, von seinem Geheimnis erfährt. Der perfekte Schüler und große Bruder Mischa trägt auffällig unauffällig die Maske der heilen Welt. Im Laufe der Geschichte wird er gezwungen, Nits seine prekäre finanzielle und familiäre Situation nach und nach zu offenbaren.

Stefanie Höfler gelingt es äußerst beeindruckend, die Lage von in Armut Aufwachsenden berührend und nachvollziehbar zu erzählen. Obgleich Armut in Deutschland heute immer noch ein gesellschaftliches Tabuthema ist, regt das Buch dazu an, sich damit intensiv und ohne Scham auseinander zu setzen. Gleichzeitig macht es Betroffenen Mut, sich zu öffnen, Hilfe zu suchen und diese ohne schlechtes Gewissen anzunehmen. Mit einfachen, jedoch sehr präzise gewählten Worten verankert Stefanie Höfler die Geschichte unvergesslich im Gedächtnis der Lesenden. LESEN!

Liz Kessler
Als die Welt uns gehörte.
Aus dem Englischen von Eva Riekert
Fischer KJB, 17 €, ab 12

Begründung der Jury:

Liz Kessler erzählt die Geschichte von drei Freunden – Elsa, Leo und Max –, deren Lebenswege durch die zeitgeschichtlichen Umstände getrennt werden. Die Bedeutung dieser Freundschaft zeigt sich in der Momentaufnahme einer gemeinsamen Fahrt im Riesenrad auf dem Wiener Prater 1936. Dort fühlen sich die Freunde beim Blick über die Stadt so, als ob die Welt ihnen gehört. Ein Foto dieses perfekten Moments wird für die drei Kinder ein unauslöschliches Erinnerungsstück bleiben, während die fortschreitende Machtübernahme Hitlers ihre Welt unausweichlich verändert.

Erzählt werden die Ereignisse der Jahre 1936 bis 1945 abwechselnd aus den Perspektiven der drei Freunde. Die Erlebnisse von Leo und Elsa – beides jüdische Kinder – schildert die Autorin in der Ich-Perspektive, das Leben von Max, dessen Vater ein Nationalsozialist ist, in der dritten Person. Eva Riekert hat die drei Erzählstimmen ins Deutsche übertragen.

Der Roman, der in Teilen auf der Familiengeschichte der Autorin basiert, gibt einen tiefen, erschütternden Einblick in die Jahre des Nationalsozialismus, in persönliche Schicksale und das Lebensgefühl der damaligen Zeit. Dabei gibt es für die Lesenden keinen Schonraum. Die Schrecken dieser Zeit werden authentisch dargestellt.

Djaïli Amadou Amal

Die ungeduldigen Frauen
Aus dem Französischen von Ela zum Winkel

Orlanda, 18 €, ab 14

Begründung der Jury:

Sollte Heirat nicht eine selbstbestimmte Entscheidung sein und die Tür zu einem glücklichen gemeinsamen Leben öffnen? In ihrem Debüt beschreibt die kamerunische Autorin Djaïli Amadou Amal drei Schicksale junger Frauen in ihrer Heimat: Ramla, 17, wird eine Zukunft als gebildete Frau durch die Zwangsehe verbaut. Hindou, 17, wird von ihrem Ehemann körperlich und seelisch zerstört. Safiras Illusion einer glücklichen Beziehung zerbricht, als sich ihr Mann die junge Ramla zur Zweitfrau nimmt.

Angeblich zu ihrem eigenen Wohl wird den Frauen in dieser patriarchalen, von Traditionen geprägten Gesellschaft gepredigt, sich in Geduld zu üben. Amal zeigt in überzeugender Verdichtung, was „Geduld“ hier bedeutet: bedingungslose Unterwerfung, Unfreiheit und das Verschweigen von Gewalt an Frauen.

Afrikanische Literatur ebenso wie das hier autobiografisch gefärbte Thema der Zwangsheirat, sind auf dem deutschen Jugendbuchmarkt eine Seltenheit. In ihrem Übersetzungsdebüt lässt Ela zum Winkel Amals Stimme auch im deutschen Sprachraum unverblümt erklingen.

Junge Lesende werden von der Autorin in ein aufwühlendes, polyphones Leseerlebnis hineingerissen, das ihr Mitgefühl mit unbekannten Lebenslagen schürt. Darüber hinaus gibt der Text in seiner Universalität unterdrückten Stimmen eine Bühne und ist ein Plädoyer für Weltoffenheit.

Deb Caletti
Wie ein Herzschlag auf Asphalt
Aus dem Englischen von Susanne Just

Arctis, 20 €, ab 14

Begründung der Jury:

Annabelle läuft, sie läuft durch zwölf Staaten der USA, sie läuft 4.375 Kilometer. Und sie läuft weg, sie flieht vor ihrem Leben, flieht vor dem Gefühl des Allein-gelassen-Werdens und vor allem flieht sie vor dem „Stehler“!

Was spontan in Seattle beginnt, wird dank ihrer Freunde, ihrer Familie und der Menschen am Wegesrand zu einem professionellen Lauf mit Eventcharakter. Und je weiter sich Annabelle von ihrem Wohnort Seattle und damit auch von dem Stehler entfernt, je mehr sie sich, ihren Körper und den Asphalt unter sich spürt, desto mehr nähert sie sich wieder sich selbst an: Sie setzt sich mit quälenden Erinnerungen auseinander, durchläuft Phasen der Schuldbewältigung, der Trauer, der Wut, der Erkenntnis – und die Lesenden werden bis fast zum Schluss im Dunkeln gelassen und fragen sich: Was ist eigentlich passiert?

Einfühlsam und subtil erzählt Deb Caletti vom Kampf einer jungen Frau gegen ein erlittenes Trauma, dem Annabelle im wahrsten Sinne des Wortes atemlos entgegentritt. Susanne Just hat das Buch ausdrucksstark und sensibel ins Deutsche übersetzt. Ein echter Lese-Marathon!

Holly-Jane Rahlens
Future Fairy Tales. Geschichten aus einer anderen Welt
Aus dem Englischen von Christiane Steen

Rotfuchs, 25 €, ab 14

Begründung der Jury:

Das neueste Werk von Holly-Jane Rahlens ist eine fiktive Märchen-Sammlung aus der Zukunft, genauer aus dem Jahr 2440. Es zeichnet sich vor allem durch seine Vielseitigkeit aus. Die Geschichten, in der gelungenen Übersetzung von Christiane Steen, unterscheiden sich nicht nur inhaltlich, sondern auch in ihren Textsorten: Von Interviews über Tagebucheinträge bis hin zu Liedtexten ist alles dabei. Bemerkenswert ist, dass die Figuren und Sichtweisen von den für Märchen üblichen Geschlechterrollen abweichen und Lesenden damit großes Identifikationspotenzial bieten.

Die individuellen Illustrationen, die von zehn Kunststudentinnen stammen, unterstreichen die Vielfalt der Geschichten. Die Autorin zeigt mit Future Fairy Tales auf beeindruckende Weise, dass Märchen auch heute noch aktuell sind und einen zauberhaften Sog auf ihre Lesenden ausüben. Außerdem gelingt es ihr, auch schwierige Themen wie psychische Krankheiten, Gleichberechtigung und Diskriminierung auf einfühlsame, teils humorvolle Weise zu behandeln. Sie zeigt, dass einschlägige Normen wie Gut und Böse oft allein von der Perspektive der Betrachtenden abhängen.

Neal & Jarrod Shusterman
Roxy. Ein kurzer Rausch, ein langer Schmerz

Aus dem Englischen von Pauline Kurbasik und Kristian Lutze

Fischer Sauerländer, 16 €, ab 14

Begründung der Jury:

Das Vater-Sohn-Autorenduo Neal und Jarrod Shusterman ermöglicht einen einzigartigen und ehrlichen Einblick in das Leben zweier drogenabhängiger Geschwister. Alleinstellungsmerkmal des Romans: Alkohol, Aderall, Crystal Meth und andere Drogen erscheinen in menschlicher Gestalt, haben eine Persönlichkeit und locken mit einzigartigen Reizen. Inspiriert von der Götterfamilie der griechischen Mythologie haben nicht nur die Hauptfiguren ihre inneren Kämpfe zu bewältigen. Auch in der Großfamilie der Drogen gibt es Intrigen, Streitereien und Konkurrenz.

Mit korrektem medizinisch-chemischem Hintergrund werden die Wirkungsprozesse der bekanntesten Drogen dargelegt. Im Fokus steht dabei der Weg in die Abhängigkeit. Sowohl das seelische als auch das körperliche Leid der beiden jugendlichen Protagonist:innen wird detailliert beschrieben. Dabei wird besonders auf die sozialen, psychischen und körperlich negativen Auswirkungen von Medikamenten- und Drogenmissbrauch eingegangen. Roxy will umfassend über die Lage von Drogenabhängigen aufklären und somit einen Beitrag zur Drogenprävention bei Jugendlichen leisten.