Lesemotive in der Warengruppe 470

Alles (k)eine Glaubensfrage

17. Mai 2024
von Börsenblatt

Spiritualität ist ein weites Feld – auch wenn die buchhändlerische Warengruppensystematik sie kurz und knapp unter der Nummer 470 zusammenfasst. Welches Lesemotiv gibt bei den spirituellen Büchern den Ton an? Und warum sind konfessionelle Titel eher beim Sachbuch zu finden? Eine Analyse nach Novitäten, Lesemotiven und Umsätzen.

Spiritualität, was ist das eigentlich? Im „Dorsch“, dem Standard-Lexikon der Psychologie, ist folgende Definition zu finden: „Spiritualität meint all jene Bereiche und Erfahrungen von Menschen, die über die je unmittelbare Wirklichkeit des Individuums hinausreichen.“

Wäre es da nicht naheliegend, dass die Warengruppe Spiritualität alle Bücher bündelt, die auf die geistigen Bedürfnisse der Menschen, auf ihre Sinn- und Wertfragen einzahlen? Inhaltlich würde es dabei ebenso um Themen des christlichen Glaubens wie um andere Weltreligionen, um Esoterik, Lebensdeutung oder Persönlichkeitsbildung gehen. Trotzdem sind in der Unterwarengruppe 470, die zum Ratgebersegment gehört, nur selten christliche Titel von traditionellen, konfessionellen Verlagen zu finden. Denn solche Bücher haben ihre Heimat im Sachbuch, Warengruppe 9.

Warum ist das so? Das fragt sich Stephanie Lange, Vertriebsexpertin und Lesemotiv-Botschafterin bei MVB. Vielleicht, weil sich der konkrete Nutzen als Grundprinzip der Ratgeber-Literatur hier so schwer messen lässt? Oder weil die konfessionellen Verlage dieses Versprechen nicht geben wollen? „Verlage aus den Themenfeldern Lebenshilfe, Esoterik, spirituelle Weisheit haben diese Scheu jedenfalls nicht“, bilanziert Stephanie Lange. Grund genug, einmal genauer zu betrachten, welche Bedürfnisse die Leser:innen im Segment Spiritualität haben.

Zentrales Lesemotiv: Orientieren

Die Warengruppe 470 wird von drei Lesemotiven geprägt: Orientieren, Optimieren, Entdecken. Das Lesemotiv Orientieren ist dabei das Wichtigste – bei Ratgebern im Allgemeinen wie bei spirituellen Titeln im Besonderen. 2023 stellte es einen Anteil von 56,1 Prozent am Gesamtumsatz der Unterwarengruppe 470. Gegenüber 2022 sind die Einnahmen um 21,2 Prozent in die Höhe geschnellt. Spirituelle Ratgeber mit dem Lesemotiv Orientieren erleben damit eine überraschende Sonderkonjunktur im rückläufigen Ratgeber-Umfeld. Das gilt auch in der längerfristigen Betrachtung (plus 22,3% gegenüber 2019).

Das Lesemotiv Orientieren steht für das Kundenbedürfnis nach Sicherheit, die sich auf Wissen stützt. Buchautoren werden dabei zu vertrauenswürdigen Expert:innen. Bestes Beispiel: Autor Eckhart Tolle, der mit Büchern wie „Jetzt! Die Kraft der Gegenwart“ das Lesemotiv Orientieren bedient und gleich mit drei Longsellern in der Warengruppen-Top 10 des Jahres 2023 vertreten ist. Longseller sind hier eher die Regel als die Ausnahme. Unter den meistverkauften zehn Titeln können sich nur zwei Novitäten von 2023 platzieren.

Spannend: Im Zusammenhang mit christlichen Ratgebern ist das Lesemotiv Orientieren in der Warengruppe Sachbuch mehr als doppelt so häufig zu finden wie in der Ratgeber-Warengruppe 470. „Verlage scheinen also klassische Ratgeber im Sachbuch zu verorten“, so die Analyse von Stephanie Lange. Wie lassen sich diese vielen Ratgeber, die häufig als solche nicht erkennbar sind, sichtbar machen? Für Verlage und Buchhandlungen eine entscheidende Frage im Marketing, bei Websuche und Präsentation.

Topseller-Phänomen beim Optimieren

An zweiter Stelle folgt das Lesemotiv Optimieren, mit einem Umsatzanteil von 23,4 Prozent im Jahr 2023. Leser:innen, die diese Bücher bevorzugen, streben nach Leistungsverbesserung. Bücher sind für sie eine Möglichkeit, sich persönlich weiterzuentwickeln und erfolgreich zu sein. Der Umsatz mit diesem Lesemotiv war in der Warengruppe 470 im vergangenen Jahr rückläufig (minus 19,9 Prozent gegenüber 2022), im längerfristigen Vergleich mit 2019 zeigt die Umsatzkurve jedoch nach oben (plus 66,2 Prozent).

Erklären lässt sich diese gegenläufige Entwicklung durch den herausragenden Erfolg „Soul Master“ (Gräfe und Unzer / Unum), der 2023 zwar immer noch auf Platz zwei der Warengruppen-Charts steht, sich im Erscheinungsjahr 2022 allerdings noch deutlich besser verkauft hatte.

Eine wichtige Frage bei diesem Lesemotiv: Wird die Selbstoptimierung in der Spiritualität weiterhin boomen? Oder gehen die Menschen in schwierigen Zeiten auf Nummer sicher und kaufen spirituelle Ratgeber, die eher Orientierung als Optimierung versprechen?

Das Lesemotiv Entdecken hat Potenzial

Die Bronzemedaille geht an das Lesemotiv Entdecken, das für den stimulierenden, inspirierenden Teil der Ratgeber-Literatur steht. Es sicherte sich im vergangenen Jahr 17,6 Prozent der Umsätze in der hier betrachteten Warengruppe 470 (plus 5,4 Prozent gegenüber 2022, plus 2,8 Prozent gegenüber 2019).

Dieses Lesemotiv bietet neue Chancen, wie die Verlage mit diversen Novitäten bestätigen. Auf Entdeckungsreise zu neuen, spirituellen Praktiken und Erfahrungen zu gehen – ein naheliegender Gedanke. Das gilt übrigens auch für christlich aufgestellte Programme.

Handlungsfelder für den Buchhandel

  • Welches Umsatzpotential christliche Ratgeber haben, ist schwer abzuschätzen, denn aktuell wird dieses Potenzial nach Meinung von Stephanie Lange nicht voll ausgeschöpft. Je nach lokaler Zielgruppe dürfte sich ein Versuch jedoch lohnen.
  • In jedem Fall sollten spirituelle und christliche Titel mit ausgeprägtem Ratgebercharakter im Sortimentskonzept zusammengeführt werden. Dezidierte Sachbücher sind woanders besser aufgehoben. Ihr Anspruch auf theoretische Vertiefung in Glaubensfragen unterscheidet sich deutlich vom praktischen Ratgeber-Nutzen.
  • Entdecken ist ein modernes Lesemotiv, das auch bei spirituellen Ratgebern an Bedeutung gewinnt. Im Laden bietet sich eine Kombination mit anderen, artverwandten Themenfeldern an - wie Weltreligionen, Reise, Philosophie, Natur. Sofern es sich hier ebenfalls um Ratgeber zum Lesemotiv Entdecken handelt.

Handlungsfelder für Verlage

  • Auch konfessionelle Verlage sollten die Chance ergreifen, die sich aus den Lesemotiven Orientieren, Optimieren und Entdecken ergeben - und geeignete Manuskripte offensiv als Ratgeber umsetzen, etwa durch Bildsprache, Titel, Produktversprechen.
  • Wichtig ist auch Klarheit bei den Metadaten: Welchen Nutzen verspricht das Buch?
  • Eindeutige Klassifikationszuordnungen, Schlagworte und Werbetexte nicht vergessen: Wenn es sich bei dem Buch um einen Ratgeber handelt, darf das auch klar benannt werden.
  • Titel zum Lesemotiv Entdecken haben einen anderen Ansatz als Bücher zu Orientieren und Optimieren. Sie sollen dazu inspirieren, neue Denkweisen und Praktiken auszuprobieren. Es lohnt sich deshalb, nicht nur inhaltlich, sondern auch bei der Ausstattung des Titels aus dem Rahmen zu fallen – etwa durch neue Formate, aber auch durch ganz neue Produktformen wie Kartensets oder Kalender.

Ein Artikel von 

Stephanie Lange

Sabine Cronau

Jan Lippmann