Fokustage Börsenverein

Hurra, wir leben noch - und wie!

6. Juni 2024
von Michael Roesler-Graichen

Auch im Zeitalter von KI und Pushnachrichten bleiben Qualitätsmedien unverzichtbar. Davon ist Nils von der Kall, Chief Commercial Officer der "Zeit", überzeugt. Seine Keynote zur Eröffnung des Fokustage-Programms stieß bei den Branchenteilnehmern auf große Zustimmung. 

Nils von der Kall

 Die Zeit der Gratismentalität im Netz ist vorüber.

Nils von der Kall

"Eigentlich müssten wir alle tot sein", meint Nils von der Kall, Geschäftsführer und Chief Commercial Officer der Zeit Verlagsgruppe zu Beginn seiner Keynote. Nein, natürlich nicht wir persönlich, aber die Zeitungen, Zeitschriften und Buchverlage. Aber wie das mit Prognosen häufig so ist, vor allem jenen aus der Zeit des jungen E-Book-Zeitalters, sie treten nicht ein. Jedenfalls nicht für eine Qualitätszeitung wie die "Zeit". Im Gegensatz zum landläufigen Trend hat sie ihre Auflage seit dem Jahr 2000 um rund 50 Prozent gesteigert - und dies auch dank der digitalen Abonnements, deren Anteil inzwischen stark gestiegen ist.

Wie ist das möglich? "Wir verkaufen Journalismus, wir sorgen für Aufklärung und Einordnung der Ereignisse, von Kriegen, Krisen, sozialer Verunsicherung und vielem mehr", so von der Kall, unabhängig vom jeweiligen Format. Nicht einfach in einer Zeit, in der die meisten Menschen ihre Informationen aus Social Media beziehen, und jede(r) Vierte Nachrichten generell meidet.

Andererseits: Es gibt heute wesentlich mehr Menschen mit einem Hochschulabschluss als noch im Jahr 2000. Und wer über Bildung verfügt, will sich informieren und ist bereit, dafür auch zu bezahlen. Die Zeit der Gratismentalität im Netz sei vorüber, nachdem Streamingdienste das Bezahlmodell durchgesetzt hätten. Wie man jüngere Zielgruppen erreicht? "Dort, wo sie sich aufhalten", so von der Kall. Eben auch auf TikTok, wo Literaturkritiker Volker Weidermann Abiturienten die Lösung von Literaturaufgaben verrät.

Worin liegt das Erfolgsrezept der Zeit? Von der Kall nennt drei Punkte: "Wir sind die Stimme der Vernunft, unsere Recherchen gehen in die Tiefe, und wir zeichnen uns durch Meinungsvielfalt aus." Die Zeit stehe für "ausgeruhten" Journalismus, und lege auch in der "schnellen" Online-Berichterstattung Wert auf Tiefe und Abstand.

Das alles hat seinen Preis: Die Zeit investiert viel in ihre neuen Plattformen und Produkte, und sie engagiert Top-Journalist:innen, die wiederum Kollegen aus anderen Qualitätsmedien anziehen: "Talent attracts talent", so von der Kall. Zu den innovativen Formaten, die großen Erfolg auch bei Jüngeren haben, gehören Newsletter, Podcasts (wie "Zeit Verbrechen") und Communitys. Auch die Chancen von (generativer) KI werden genutzt.

Viele Fragen, die sich die Zeitungsbranche stellt, sind auch für die Buchbranche relevant. Etwa die der Qualität und des Vertrauens in die Information

Nach der Keynote war Zeit für eine Gesprächsrunde mit Nils von der Kall und den Sprecherinnen der IGen Digital, Nachhaltigkeit und Ratgeber, die Börsenvereinsvorsteherin Karin Schmidt-Friderichs moderierte. Viele Fragen, die sich die Zeitungsbranche stellt, sind auch für die Buchbranche relevant. Etwa die der Qualität und des Vertrauens in die Information, die beispielsweise ein Ratgeberverlag biete, wie Nicole Schindler (IG Ratgeber, Ulmer Verlag) betonte. Derzeit arbeite man an einer übergreifenden Kampagne für Ratgeber und sei mit der Buchmesse in Gesprächen über Themenwelten, in denen die Ratgeberverlage ihr breites Spektrum zeigen könnten. Für die IG Digital wiederum ist zentral, die Branche im Transformationsprozess zu unterstützen, wie Carmen Udina (IG Digital, Friedrich Verlag) sagte. Projekte wie der Digitale Wissenshub, Best Practices oder die Checkliste Innovation trügen dazu bei. Nadja Kneissler (IG Nachhaltigkeit) hob die Resilienz der Branche hervor, ihre Fähigkeit, sich an neue Situationen anzupassen. Allerdings gab sie zu bedenken, auch in Richtung Nils von der Kall, dass es bei der Digitalisierung der Inhalte durchaus noch Nachhaltigkeitslücken gebe.

Mit der "Zeit" (im doppelten Sinne) zu gehen, bedeutet letztlich, Mut zu haben, eine Fehlerkultur zuzulassen und sich dabei "nicht zu verdrehen" (von der Kall).

Böv-Fokustage

In Frankfurt haben heute, am 6. Juni, die BöV-Fokustage begonnen. Nach dem Treffen der Fachausschüsse am Vormittag wurde das Programm mit der Keynote von Nils von der Kall eröffnet. Am Nachmittag und am Freitagvormittag (7. Juni) finden Sessions der IG Digital, der IG Nachhaltigkeit und der IG Ratgeber statt.