Börsenverein

Geschwister-Scholl-Preis für Andrej Kurkow

13. Oktober 2022
Redaktion Börsenblatt

Für sein "Tagebuch einer Invasion" (Haymon Verlag) erhält der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow den mit 10.000 Euro dotierten Geschwister-Scholl-Preis 2022.

Der Landesverband Bayern des Börsenvereins und die Landeshauptstadt München verleihen ihm den Preis am 28. November 2022.

Die Jury begründet ihre Entscheidung so:

"Zwei Wochen nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine notiert Andrej Kurkow in seinem ‚Tagebuch einer Invasion‘: ‚Mich schaudert es dabei, die folgenden Worte niederzuschreiben, aber ich werde es trotzdem tun: Die Ukraine wird entweder frei, unabhängig und europäisch sein, oder es wird sie überhaupt nicht mehr geben.‘ Auch wenn vielen Menschen inzwischen deutlicher geworden ist, dass der 24. Februar 2022 eine tiefe historische und politische Zäsur markiert und dass die zivilisierte Welt eine Mitverantwortung dafür trägt, ob die Zerstörung der Ukraine verhindert wird, so fehlt es nach wie vor vielfach an einem tieferen Verständnis dafür, was in diesem Krieg alles auf dem Spiel steht.

Der Schriftsteller Andrej Kurkow, einer der bekanntesten Romanciers und politischen Intellektuellen der Ukraine, hat es sich zum Ziel gesetzt, gegen das weitverbreitete Unwissen über Geschichte und Kultur der Ukraine, auf das er in den westlichen Gesellschaften stößt, anzukämpfen. Er will aufklären über die komplizierte und leidvolle Vergangenheit und Gegenwart dieses multiethnischen und multikulturellen Landes. Sein Engagement für die Zukunft der Ukraine führt ihn auf zahlreiche Vortragsreisen ins Ausland, er publiziert unermüdlich journalistische Beiträge in europäischen und amerikanischen Medien, um die internationale Unterstützung für den Widerstand der Ukraine zu stärken. Darüber hinaus setzt er sich als Präsident des ukrainischen PEN-Clubs auch ganz praktisch für in Not geratene Kolleginnen und Kollegen ein.

Andrej Kurkow wurde 1961 in Sankt Petersburg geboren, seit seiner Kindheit lebte er in Kiew, der Stadt, aus der er durch den Krieg vertrieben wurde. Das Spannungsverhältnis zwischen der russischen und der ukrainischen Sprache und Kultur, das er in seinem ‚Tagebuch‘ vielfach reflektiert, prägt auch seine eigene Existenz als ukrainischer Autor, der seine Romane und fiktionalen Texte in seiner Muttersprache Russisch schreibt.

Mit Andrej Kurkows ‚Tagebuch einer Invasion‘ wird ein Werk ausgezeichnet, das zugleich als eindringliche Chronik wie als kritische Reflexion einer politischen und zivilisatorischen Katastrophe zu lesen ist. Das Buch setzt bereits Monate vor dem russischen Angriff ein und legt in persönlichen Aufzeichnungen sowie längeren essayistischen Passagen ein bewegendes Zeugnis davon ab, was in der Ukraine geschieht. Auch wenn Kurkow notiert, dass ihm ‚schon längst die Worte für das Grauen ausgegangen‘ seien wirft er einen genauen Blick darauf, wie der Krieg das Leben der Menschen verändert. Nicht zuletzt im Nachdenken über die eigene Familiengeschichte führt Kurkow einem zudem die lange Unterdrückungsgeschichte der Ukraine vor Augen, die von zahlreichen Deportationen und Zwangsvertreibungen gekennzeichnet ist und dennoch eine nun bedrohte politische Tradition des Individualismus und der Liberalität hervorgebracht hat, die Freiheit höher bewertet als Sicherheit und ökonomische Stabilität.

Sowohl in seinem ‚Tagebuch einer Invasion‘, das einen Vorgänger von 2014 hat, in dem die Majdan-Proteste und die russische Annexion der Krim im Mittelpunkt standen, als auch in seinen jüngsten Romanen, die ebenfalls die Kontinuitäten und Tragödien der ukrainischen Geschichte thematisieren, beweist Andrej Kurkow ganz im Sinne des Vermächtnisses der Geschwister Scholl ein hohes Maß an intellektueller Unabhängigkeit und moralischem Verantwortungsbewusstsein im Kampf um ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung."

Der Geschwister-Scholl-Preis wird vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels – Landesverband Bayern e.V. und der Landeshauptstadt München seit 1980 vergeben. Sinn und Ziel des Geschwister-Scholl-Preises ist es, jährlich ein Buch jüngeren Datums auszuzeichnen, das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern und dem verantwortlichen Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben. Er ist mit 10.000 Euro dotiert. Zu den Preisträgerinnen und Preisträgern zählten in den letzten Jahren unter anderem Joe Sacco, Dina Nayeri, Ahmet Altan, Götz Aly, Achille Mbembe, Glenn Greenwald, Otto Dov Kulka, Liao Yiwu, Joachim Gauck, Roberto Saviano, David Grossman und Anna Politkovskaja.

Der Jury unter dem Vorsitz von Kulturreferent Anton Biebl und Klaus Füreder, Vorsitzender des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels – Landesverband Bayern e. V., gehörten 2022 an: Prof. Dr. Aleida Assmann (Literatur- und Kulturwissenschaftlerin), Patrick Bahners (Frankfurter Allgemeine Zeitung), Niels Beintker (Bayerischer Rundfunk), Johannes Ebert (Goethe-Institut), Margit Ketterle (Droemer Knaur), Michael Krüger (Schriftsteller und Publizist), Thomas Rathnow (Penguin Random House), Dr. Michael Schmitt (3sat / Kulturzeit), Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky (LMU / Institut für Soziologie) und Dr. Mirjam Zadoff (NS-Dokumentationszentrum) sowie von Seiten des Stadtrats Dr. Florian Roth (Fraktion Die Grünen-Rosa Liste), Leo Agerer (Fraktion CSU) und Kathrin Abele (Fraktion SPD/Volt). Beratende Mitglieder waren Dr. Hildegard Kronawitter (Weiße Rose Stiftung e. V.), die Stadträtin Mona Fuchs (Fraktion Die Grünen-Rosa Liste) sowie Stadtrat Matthias Stadler (CSU).