Ist die Situation der russischen Opposition aussichtslos? Ist es Wladimir Putin gelungen, alle für einen organisierten Protest notwendigen gesellschaftlichen Strukturen zu zerstören? Um diese und weitere Fragen ging es bei einer Gesprächsrunde im Frankfurt Pavilion, das Sabine Adler, Journalistin beim Deutschlandfunk und Osteuropaexpertin, moderierte.
Auf dem Podium saßen die Historikerin Irina Scherbakowa, die dieses Jahr für ihre Arbeit in der Organisation Memorial mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, und die Autoren Michail Schischkin und Leonid Wolkow („Putinland“, Droemer Knaur).
Für Irina Scherbakowa war die Auszeichnung ein Zeichen der Hoffnung. Memorial versuche, auch unter starkem Druck weiterzuarbeiten.
Michail Schischkin, einer der schärfsten Kritiker Wladimir Putins, verspürt derzeit Wut und Verzweiflung: „Es tut weh, Russe zu sein angesichts der Verbrechen, die im Namen unseres Landes verübt werden. Wir kann man die Mutter lieben, die ihre eigenen Kinder frisst?“ Was Russland anrichte, sei Ausdruck eines humanitären Bankrotts.
Sabine Adler spricht Leonid Wolkow auf die ausbleibenden Proteste in Russland an. Als Alexej Nawalny vor anderthalb Jahren inhaftiert wurde, habe es in 180 Städten Proteste gegeben. Ein Jahr später, zu Beginn des Überfalls auf die Ukraine, habe in diesen 180 Städten Ruhe geherrscht. „Was war da los“, fragt Adler.
Das stimme so nicht, entgegnet Wolkow. Seit Beginn des Krieges seien 20.000 Menschen bei Protestaktionen festgenommen worden, und es gebe auch jetzt noch Proteste. „Aber Putin hat sich gut vorbereitet. Zuerst hat er versucht, Nawalny zu vergiften, und dann hat er die politischen Strukturen zerstört – alles zur Vorbereitung des Krieges“, so Wolkow. „Es sollte keine Protestbewegung mehr geben.“ Heute seien Massenproteste nicht mehr möglich.
Irina Scherbakowa beschreibt aus der Sicht der Historikerin, wie Russland allmählich in die Diktatur gerutscht sei, wie Putin die Gesellschaft atomisierte habe, und sich die Menschen an die Diktatur gewöhnt hätten.
Michail Schischkin hat keinen größeren Protest erwartet, lediglich darauf gehofft. „Die Menschen wissen nicht, wo die Grenze zur Diktatur verläuft. Sie gehorchen und stellen keine Fragen. Und wenn die Mütter die Särge ihrer Söhne in Empfang nehmen, sagen sie: 'Die Ukrainer haben meinen Sohn getötet.'"
Im weiteren Verlauf des Gesprächs geht es auch um die Frage, wer schuld daran sei, dass in Russland eine faschistische Diktatur entstehen konnte. Während Leonid Wolkow dem Westen eine Mitschuld an der Entwicklung gibt, sieht Scherbakowa es differenzierter. „Der Westen hat Putin den Weg gebahnt, aber er ist nicht ‚schuld‘ daran.“ Michail Schischkin prophezeit, dass sich die Russen dereinst, nach dem Ende des Krieges, als Opfer ihres "kranken" Herrschers Putin gerieren werden. Damit es aber zu einem wirklichen Wandel in Russland komme, müsse es ein nationales Schuldanerkenntnis geben. Die erste Amtshandlung, die der nächste russische Präsident nach Putin vornehmen müsse, sei ein Besuch in Butscha.
Damit sich überhaupt etwas ändert, ist Scherbakowa überzeugt, müsse die Ukraine den Krieg gewinnen. Geschehe dies nicht, werde sich auch in Russland nichts ändern. Der Nawalny-Vertraute Leonid Wolkow will von Litauen aus, wo er im Exil lebt, eine Untergrundorganisation aufbauen, die in einem ersten Schritt zum Ende des Krieges beitragen will.
Ohnmacht und Ratlosigkeit, aber dennoch Hoffnung – so könnte man den Zustand charakterisieren, in dem die russische Opposition gerade lebt. Der Spielraum für politische Aktionen ist sehr gering, und alle Akteure müssen sich, ganz gleich, wo sie sich aufhalten, schützen.