Neue Kolumne von Hermann Eckel

Warum sich Verlage wie Suhrkamp ändern müssen

24. Oktober 2024
Hermann Eckel

In seiner neuen Kolumne erläutert Hermann Eckel, warum sich Publikumsverlage in Zukunft stärker um die Bedürfnisse ihrer Kund:innen kümmern müssen, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können.

Stellen Sie sich vor, Ihr Kind muss wegen einer schweren Krankheit Wochen oder Monate im Krankenhaus verbringen. Eigentlich voller Energie und Bewegungsdrang, ist es durch allerlei Kabel und Schläuche in der Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt. Und nun stellen Sie sich vor, es würde etwas erfunden, das seine langweiligen Tage in der Kinderklinik aufhellen könnte. So geschehen am Prinses Máxima Centrum voor Kinderoncologie in Utrecht. Dort gibt es seit Kurzem Infuuts: Dreiräder mit integriertem Infusionsständer, mit denen die krebskranken Kinder über die Flure und zu ihren Behandlungen fahren können! Eine ebenso einfache wie geniale Idee, die den Kindern unglaublich viel Freude macht und vielleicht auch ein wenig ihre Angst nimmt.

@howthingswork_official

The Princess Maxima Center for Pediatric Oncology in Utrecht recently introduced a special 'Infuuts' for children attached to tubes and IVs. This way, despite their illness, they can continue to happily cycle through the hospital corridors! 👌🏼 🚲 🥰#wholesome#howthingswork

Warum ich diese Geschichte hier erzähle? Weil das eines der schönsten Beispiele für kundenorientierte Innovation ist, von der ich je gehört habe!

In meiner letzten Kolumne bin ich bereits ausführlich auf kundenzentrierte Innovationsmethoden eingegangen. Aber man kann es einfach nicht häufig genug betonen, wie wichtig es für den langfristigen wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen und ganzer Branchen ist, immer wieder neue Angebote zu entwickeln, die echte Kundenbedürfnisse befriedigen.

Dazu muss man seine Kunden und Kundinnen natürlich erst mal kennen. Genau hier liegt jedoch bei vielen Publikumsverlagen der Hase im Pfeffer: Während Fachverlage schon seit den ersten Tagen der Loseblattsammlung ziemlich genau wissen, wer Ihre Kund:innen sind, sind selbst große Belletristikverlage mitunter erst jetzt dabei, ein CRM-System für Leser:innen einzurichten. Unglaublich, aber wahr! Genau das ist aus meiner Sicht der Hauptgrund, warum Fachverlage regelmäßig innovativer und erfolgreicher sind als Publikumsverlage.

Und damit kommen wir zum Suhrkamp Verlag, um den es ja kurz vor der Buchmesse viel Wirbel gab. Was nämlich in sämtlichen Interviews mit dem neuen Alleigentümer Dirk Möhrle und dem Verleger Jonathan Landgrebe auffiel: Bei der Frage nach den Zukunftsaussichten des Verlags betonten sie ausschließlich, wie sie das Bisherige künftig besser machen wollen. Das heißt: Einfachere Gesellschafterstruktur (in diesem Fall tatsächlich unumgänglich), schlankere Kostenstruktur und attraktivere Programmstruktur, auch dank größerer finanzieller Risikobereitschaft des Eigentümers. Sicher alles richtige und wichtige Stellschrauben.

Das allein aber wird nicht reichen, um sich bei weiter steigenden Kosten im immer härter werdenden internationalen Wettbewerb um erfolgsträchtige Manuskripte gegen die großen Verlagsgruppen zu behaupten. Darüber hinaus braucht es innovative, kundenzentrierte Ideen, um Kund:innen (und Autor:innen!) zu erreichen und noch viel enger an sich zu binden und neue Erlösquellen zu generieren. Diese Perspektive fehlt in den Interviews jedoch völlig.

Die "Pain Points“ von Suhrkamp-Leser:innen mögen nicht so krass sein wie diejenigen krebskranker Kinder in einer Onkologieklinik und entsprechende Lösungen nicht so nahe liegend wie Dreiräder mit Infusionsständern (auf die allerdings bis vor Kurzem auch noch niemand gekommen war). Aber auch sie haben mit Blick auf Lesen als Hobby oder im Beruf tiefsitzende, bislang nicht ausreichend adressierte Nöte und Bedürfnisse: Zum Beispiel wollen sie geistige Anregung und Impulse, haben aber eigentlich zu wenig Zeit zum Lesen.

Oder, um es in der Sprache der 2021 eingeführten Lesemotive auszudrücken: Typische Suhrkamp-Fans wollen verstehen und eintauchen, sich orientieren und mit Inhalten auseinandersetzen. Das bietet nicht nur für die Programmgestaltung wunderbare Anhaltspunkte, sondern auch für weiter gehende, innovative Angebote, ob in Form von neuen Buchformaten oder Marketing-Ansätzen, Themen-Communities oder klugen Kooperationen mit zielgruppengerechten Partnern wie der ZEIT, exklusiven Treffen mit bekannten Autor:innen oder KI-gestützten Dialogen mit den Größen der Frankfurter Schule. Der eigene Podcast, den Suhrkamp unter dem schönen Titel Dichtung & Wahrheit betreibt, weist bereits in diese Richtung.

Die Lesemotive stehen übrigens selbst für eine stärkere Orientierung an Kundenbedürfnissen im Buchhandel – mit deutlichem Erfolg: Die zehn Buchhandlungen eines Pilotprojekts im letzten Jahr waren auf Anhieb begeistert von längeren Verweildauern und höheren Umsätzen. „Der Kunde ist König“ (in unserer Branche eher „Königin“) bedeutet eben nicht, um ihn herum zu scharwenzeln, sondern seine eigentlichen Bedürfnisse zu erkennen und zu befriedigen.

Sollte Suhrkamp künftig stärker in diesem Sinne neue, kundenzentrierte Wege beschreiten, kann der Verlag – den ich hier stellvertretend für etliche andere Belletristikverlage sehe – noch sehr lange bestehen. Er wird dann aber deutlich verändert erscheinen, ohne am eigenen programmatischen Anspruch Abstriche machen zu müssen. Anderenfalls wird er früher oder später von einem der großen Konzerne geschluckt werden oder ganz vom Markt verschwinden. Wie man es also dreht und wendet: Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass es Suhrkamp in der heutigen Form in ein paar Jahren nicht mehr geben wird. Ich hoffe sehr, der Verlag wählt die erste Option und investiert nicht nur in teure Manuskripte, sondern auch und vor allem in innovative Ansätze – bevor es zu spät ist.

Unser Kolumnist

Foto Herrmann Eckel

Nach dem Lehramtsstudium der Germanistik und Geschichte durchlief Hermann Eckel verschiedene Vertriebs­stationen beim Bärenreiter-Verlag und bei Oxford University Press und war von 2010 bis 2016 Managing Director beim Musikverlag Peters. Im Dezember 2017 übernahm er die Geschäfts­leitung bei tolino media und war dort v.a. für den Ausbau der Selfpublishing-Plattform verantwortlich. Seit September 2024 ist Hermann Eckel Chief Digital Officer bei ArchiTangle, einem unabhängigem Buchverlag mit angeschlossenem Tech-Startup. Als Partner des Beraternetzwerks Heinold & Friends begleitet er Unternehmen der Buch- und Druckbranche bei den vielfältigen Aspekten der digitalen, organisatorischen und kulturellen Transformation. Daneben engagiert er sich seit 2019 als Sprecher der IG Digital im Börsenverein.