Hintergrund

Sachbücher zur Kolonialgeschichte

12. Oktober 2021
Stefan Hauck

Wie viel Blut an Raubkunst klebt – darüber wird derzeit heftig debattiert. Ebenso, wie schwer sich Deutschland mit seiner unrühmlichen kolonialen Vergangenheit tut. Welche Titel sollte man zur Debatte gelesen haben? Eine Übersicht.

Ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte: Im August 1904 trieben deutsche Soldaten die Herero in eine Halbwüste. Wer sich einer der wenigen Wasserstellen nähern wollte, wurde durch Schüsse vertrieben. »Am 2. Oktober erging der sogenannte Schießbefehl: ›Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen‹«, zitiert Winfried Speitkamp in »Deutsche Kolonialgeschichte«. Es war der erste Völkermord im 20. Jahrhundert; im Jahr darauf wurde die Bevölkerung der Nama halbiert. Die Menschen wurden in Konzentrationslager gepfercht, rund 80 000 gezielt getötet, Schädel nach Berlin geschickt, um eine Rassentheorie zu untermauern. Speitkamp zeichnet Expansion, Verwaltung, Justiz und Wirtschaftspolitik in allen deutschen Kolonien (siehe Karte) sowie das Streiten im Reichstag um die Kolonialreformen unaufgeregt nach; die menschenverachtende Sprache deutscher Originaldokumente lässt sich nur mit Entsetzen lesen.

»Kultur« als Rechtfertigung 

Obwohl die größten deutschen Kolonien in Afrika lagen, definierte das Kaiserreich seit 1871 auch Osteuropa als seinen Expansions- und Wirkungs­bereich. Im Wettlauf der Großmächte um die letzten noch »verfügbaren« Flächen wurde im Osten ein Gebiet konstruiert, das sich wegen fruchtbarer Böden und dünner Besiedelung zur Kolonisation eignen sollte. Christoph Kienemann hat unzählige zeitgenössische Quellen ausgewertet und analysiert die Prozesse der kolonialen Aneignung: welche Rolle Landkarten spielen, wie jenen Gebieten und den darin lebenden Menschen das Vorhandensein einer »hohen Kultur« abgesprochen wird – die müsse erst von den Deutschen importiert werden. »Auf der Mental Map der Deutschen findet sich im Osten viel Platz für eine koloniale Expansion«, hält Kienemann in »Der koloniale Blick gen Osten« fest und gibt die damalige öffentliche Meinung wieder: »Die ›Kulturlosigkeit‹ oder die ›Leere‹ des Raumes verpflichten ein ›Kulturvolk‹ zur Kolonisation.« So wundert es nicht, dass sich die deutsche Kriegszieldebatte im Ersten wie Zweiten Weltkrieg verhängnisvoll nach Osten richtet.

Der vom Territorium her kleinsten Kolonie widmet Helga Rathjen eine eigene Untersuchung. 1897 besetzte das Kaiserreich die 552 Quadratkilometer große chinesische Bucht Kiautschou, die zu einer Musterkolonie werden sollte. Rathjen vermittelt in ihrem Fachbuch »Tsingtau« den damaligen Topos der hygienischen deutschen Musterstadt und die Diskursfigur vom »schmutzigen Chinesen«. So plante man in Tsingtau die deutsche Stadt als Zentrum und die chinesischen Viertel am Rand, bürgerliche und proletarische Schichten werden getrennt. Tsingtau war letztlich eine städtebauliche Selbstinszenierung des Deutschen Reichs, die eine rassistische Ausgrenzung und Disziplinierung der chinesischen Bevölkerung offenbarte. »Das koloniale Tsingtau als Insel von Wohlstand und Sicherheit hat seine Entsprechung in der Festung Europa von heute, beide verteidigt gegen einen ›Ansturm‹ von außerhalb der europäischen Grenzen«, zieht Rathjen Parallelen zur Gegenwart.

AKTUELLE TITEL ÜBER (POST-) KOLONIALISMUS

Geschichte:
  • Sebastian Conrad: »Deutsche Kolonialgeschichte«, C. H. Beck, 128 S., 9,95 €
  • Winfried Speitkamp: »Deutsche Kolonialgeschichte«, Reclam, 208 S., 6,80 €
  • Jürgen Zimmerer (Hrsg.): »Hamburg. Tor zur kolonialen Welt. Erinnerungsorte der (post-)kolonialen Globalisierung«, Wallstein, Oktober, 640 S., 28 €
  • Oumar Diallo u. a.: »Berlin. Eine postkoloniale Metropole. Ein historisch-kritischer Stadtrundgang im Bezirk Mitte«, Metropol Verlag, 224 S., 19 €
  • Helga Rathjen: »Tsingtau. Eine deutsche Kolonialstadt in China«, Böhlau, 324 S., 45 €
  • Karl Josef Rivinius: »Wir sind Weiße und wollen Weiße bleiben. Rassismus in Deutsch-Südwestafrika«, EOS, 496 S., 29,95 €
  • Lars Kreye: »›Deutscher Wald‹ in Afrika. Koloniale Konflikte um regenerative Ressourcen. Tansania 1892 – 1916«, Vandenhoeck & Ruprecht, 536 S., 65 €
  • Christoph Kienemann: »Der koloniale Blick gen Osten. Osteuropa im Diskurs des Deutschen Kaiserreiches von 1871«, Brill / Schöningh, 310 S., 69 €
  • Wolfgang Reinhard: »Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415 – 2015«, C. H. Beck, 1 648 S., 58 €

Raubkunst in Museen 

Wie gezielt die Europäer gerade in Afrika nicht nur Natur-, sondern auch Kunstschätze raubten, davon erzählt Bénédicte Savoy in »Afrikas Kampf um seine Kunst«. Schon kurze Zeit, nachdem 18 Kolonien in Afrika ihre Unabhängigkeit erreicht hatten, forderte 1965 der in Benin geborene Dichter und Journalist Paulin Joachim: »Gebt uns die Negerkunst zurück« – ein Aufruf, der »in Museumskreisen wie eine Bombe einschlug«, schreibt die Professorin für Kunst­geschichte an der TU Berlin. Sie schildert die daraufhin einsetzenden Bemühungen um Restitution, aber auch die ständigen Gegenargumente und zermürbenden Hinhaltetaktiken, mit
denen die durchgängig weißen Museumsleute und Politiker Lösungen zu verhindern suchten; sie wollten nicht verstehen, was der Verlust der Kunstwerke bei den Bestohlenen auslöst, und: »Museen mit außereuropäischer Kunst im Herzen Europas sind begehbare Schaufenster kolonialzeitlicher Aneignungspraktiken.« Bekanntestes Streitobjekt sind zurzeit die Benin-Bronzen, die zentral im Berliner Humboldt-Forum ausgestellt werden sollten und die Nigeria seit fast 50 Jahren zurückfordert.

Dezidiert widmet sich Götz Aly einem einzigen Objekt, das als Zeugnis einer Hochkultur ebenfalls eine Hauptattraktion im Humboldt-Forum werden soll: dem 1903 geraubten Auslegerboot von der Insel Luf, die damals zu Deutsch-Neuguinea gehörte. Der Historiker legt in »Das Prachtboot« dar, wie Händler, Wissenschaftler und Marinesoldaten die Inseln ausplünderten, gewaltsam Lebensgrundlagen entzogen, Suchtmittel einsetzten, uralte Kulturen vernichteten und Plantagen anlegten – und auch hier gab es wieder Entführungen, Massenmorde, das Niederbrennen von Dörfern, um die Handelsinteressen deutscher Firmen durchzusetzen. Aly zeigt darüber hinaus den Umgang mit den Fakten: So habe die Stiftung Preußischer Kulturbesitz noch 2018 von einem »Bevölkerungsrückgang auf der Insel« geredet. Aly nennt die Dinge offen beim Namen und fordert wie Savoy, nicht länger eine Verweigerungshaltung einzunehmen.

AKTUELLE TITEL ÜBER (POST-) KOLONIALISMUS

Museumspolitik und Restitution:
  • Bénédicte Savoy u. a. (Hrsg.): »Beute. Ein Bildatlas zu Kunstraub und Kulturerbe«, Matthes & Seitz, 38 €
  • Bénédicte Savoy: »Afrikas Kampf um seine Kunst«, C. H. Beck, 276 S., 24 €
  • Götz Aly: »Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten«, S. Fischer, 240 S., 21 €
  • Pia Schölnberger (Hrsg.): »Das Museum im kolonialen Kontext«, Czernin, 432 S., 35 €
  • Khadija von Zinnenburg Carroll: »Mit fremden Federn. Quetzalapanecáyotl. Ein Restitutionsfall«, Mandelbaum, 256 S., 25 €

Themen der Debatte 

Ein im doppelten Wortsinn gewichtiger Band von 600 Seiten ist »Deutschland postkolonial? Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit«. Er betrachtet die Entwicklung seit dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft, skizziert die Bewegungen für eine Rückgewinnung der Kolonien bis in die NS-Zeit und beschäftigt sich vor allem intensiv mit den Nachwirkungen der wilhelminischen Großmachtfantasien. Ebenso spannend wie überraschend: Zwei Beiträge befassen sich mit der Frage, wie die Kolonialzeit im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft in Togo und Kamerun verhaftet ist. Und Gilbert Dotsé Yigbe etwa berichtet von einer Germanophilie in Togo, die ihre Wurzeln in der Missionierung hat (und dadurch in der ab 1847 gültigen kirchlichen Ordnung sowie der Verschriftung der Ewe-Sprache, die so zur Verkehrssprache werden konnte).

Weitere interdisziplinäre Beiträge der 32 Geschichts- und Kulturwissenschaftler zeigen die neokoloniale Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik – und wie Unabhängigkeitsgeschenke an Staaten als ein Mittel genutzt wurden, um sich wieder ins Spiel zu bringen. Wer in der aktuellen Debatte mitreden will, kann hier auf größtmögliches Hintergrundwissen zugreifen, denn ebenso geht es um Raubkunst, Dekolonialisierung, um Analysen zur Postkolonialität in der Gegenwartsliteratur, den Medien sowie der Geschichtsdidaktik.

Langlebige Zerrbilder 

Kolonialismus und das Gefühl deutscher Überlegenheit wirken bis in die heutige Zeit hinein. Alice Hasters erzählt von vielen Alltagssituationen, in denen sie allein aufgrund ihrer Hautfarbe als Fremde und nicht der deutschen Sprache mächtig eingestuft wird. »Sozialer Status und Rassifizierung scheinen sich nur schwer voneinander trennen zu lassen. Das ist meist tief verankert: Reich / gebildet = weiß. Arm / ungebildet = BIPoC«, zieht Hasters in »Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten« Bilanz. Menschen mit anderer Hautfarbe werden häufig gefragt, wo sie denn nun »eigentlich« herkommen, auch wenn sie in Stuttgart oder Wuppertal geboren sind. Es sind demütigende Erfahrungen, woran auch die Schule ihren Anteil hat. »Im Unterricht entstand der Eindruck, dass alle Menschen in Afrika, dem zweitgrößten Kontinent der Erde, absolut nichts taten, nur mit Speer und Bastrock rumsaßen, bis dann die Weißen kamen. Bis heute hält sich das Bild: Menschen in Afrika seien hilflos, unfähig und ohne Unterstützung des Westens verloren.«

Hasters geht auch auf Rechtfertigungen ein, warum Deutschland einer Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus aus dem Weg geht, etwa weil es seine Kolonien schon 1919 abgeben musste, was zur Verdrängung führte: »Die anderen waren viel schlimmer, und Deutschland wollte ja nur irgendwie mithalten.« Dabei bestand das deutsche Kolonialreich 34 Jahre lang.

Auch Emilia Roig berichtet in »Why We Matter« von vielen Stigmatisierungen: »Ob in Büchern, Liedern, Filmen, in der Werbung oder bei Spielzeug: Unserem kollektiven Unterbewusstsein wurden und werden permanent Bilder von unterlegenen Schwarzen geliefert.« Und wenn eine Erzieherin in der Kita rüge, »schwarz« solle man nicht sagen, das sei nicht nett, ist für alle Kinder klar: »Schwarz« scheint eine negative Eigenschaft zu sein. Es sind langlebige Muster der Unterdrückung, die Roig nicht nur in Bezug auf Hautfarben, sondern auch auf sexuelle Orientierungen und mehr offenlegt.

AKTUELLE TITEL ÜBER (POST-) KOLONIALISMUS

Zum Stand der Diskussion:
  • Emilia Roig: »Why We Matter. Das Ende der Unterdrückung«, Aufbau, 320 S., 22 €
  • Johny Pitts: »Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa«, Ü: Helmut Dierlamm, Suhrkamp Tb, Oktober, 460 S., 14 €
  • Wolfgang Geiger, Henning Melber (Hrsg.): »Kritik des deutschen Kolonialismus. Postkoloniale Sicht auf Erinnerung und Geschichtsvermittlung«, Brandes & Apsel, Oktober, 224 S., 24,90 €
  • Alice Hasters: »Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten«, Hanserblau, August, 224 S., 10 €
  • Mark Terkessidis: »Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute«, 224 S., 14 €
  • Stiftung Humboldtforum im Berliner Schloss (Hrsg.): »(Post)Kolonialismus und kulturelles Erbe. Internationale Debatten im Humboldt Forum«, Hanser, 272 S., 18 €
  • Marianne Bechhaus-Gerst (Hrsg.) u. a.: »Deutschland postkolonial? Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit«, Metropol Verlag, 610 S., 29 €

Den Blick weiten 

Wer die gesamte Debatte um Deutschlands koloniale Vergangenheit in nuce haben möchte, sollte zu »Wessen Erinnerung zählt?« greifen. Migrationsforscher Mark Terkessidis breitet auf einem Parforceritt die Vorstellungswelten vor allem des 19. Jahrhundert aus, mit »Entdeckern«, die auf angeblich unbewohntes Land stoßen – die dort lebenden Kollektive zählten nicht. Er umreißt die verschiedenen Interessen, die deutsche Kaufleute und Politiker durchzusetzen versuchten, und spannt den Bogen bis in die Bundesrepublik, die bis in die 1970er Jahre gezielt unqualifizierte Industriearbeiter anwarb. Die wurden dann mit einem rassistischen »Wissen« als unterentwickelt, ungebildet, schmutzig usw. abqualifiziert. Viele würden noch nicht wahrnehmen, dass sich die Blickwinkel inzwischen längst erweitert hätten, so Terkessidis – etwa in einer Schulklasse: »Kinder haben eine andere Perspektive auf die His­torie des deutschen Nationalstaats, wenn dieser Staat etwa die eigenen Vorfahren als minderwertig angesehen hat, als zu beeinflussende oder zu erobernde Bevölkerung oder gar als Menschen, die vernichtet werden mussten.«