Stadtentwicklung

Einseitige Fokussierung hat der Stadt geschadet

1. April 2022
Sabine van Endert

"Wir haben unsere Innenstädte zu einseitig auf Handelsnutzung ausgerichtet. Das rächt sich jetzt", sagt Christine Reicher, Professorin für Städtebau und Entwerfen an der RWTH Aachen

Ihr Lehrstuhl an der RWTH Aachen befasst sich mit dem Weiter- und Umbau zukunftsfähiger Städte. Welche Lehrveranstaltungen bieten Sie den künftigen Stadtplaner:innen im Sommersester an? 
Das Thema der Weiterentwicklung und des Umbaus von zukunftsfähigen Quartieren und Städten ist ein Kernanliegen unseres Lehrstuhls und Instituts. Im kommenden Sommersemester bieten wir hierzu zum Beispiel Lehrveranstaltungen zur Zukunft der Essener Innenstadt, wir beschäftigen uns mit Rothenburg ob der Tauber, einer Stadt, die unter der Pandemie und dem wegbrechenden Tourismus stark gelitten hatten, und mit der Entwicklung eines innovativen Campus in Fulda. In jedem Semester richten wir aber auch den Blick über den Tellerrand: diesmal zur Waterfront Sevilla. 

Wie sieht Ihre Stadt der Zukunft aus?
Die Stadt der Zukunft ist grüner und urbaner als bisher. Das mag auf den ersten Blick als Widerspruch erscheinen, muss es aber nicht.  Wir müssen an den richtigen Stellen unsere Städte verdichten und mit neuen Nutzungen urbaner und lebendiger machen – und bewusst an der anderen Stelle Freiräume schaffen, damit das Grün wieder verstärkt in die Städte einziehen kann. 
  
Seit vielen Jahren sollen die Städte grüner werden, mehr konsumfreie Aufenthaltsqualität bieten, der Individualverkehr soll raus aus den Zentren. Aber selbst ein paar neue Bänke und Blumenkübel oder eine Fahrradspur brauchen ewig. Warum dauern stadtplanerische Entscheidungen so lange? Und warum fallen die Maßnahmen dann auch noch so klein aus? 
Die Umsetzung von städtebaulichen Projekten und Maßnahmen benötigt in der Tat viel Zeit und braucht einen langen Atem. Selbst wenn ein guter Masterplan für die zukünftige Entwicklung relativ schnell und in großem Konsens mit den Menschen vor Ort erstellt worden ist, benötigen die Schaffung von Planungsrecht und die sich hieran anschließenden Genehmigungsprozesse viel Zeit.  

Nimmt Stadtentwicklung zu viel Rücksicht auf Handel und Wirtschaft?
Stadtentwicklung ist immer eine Übereinkunft unterschiedlicher Interessen. In der Vergangenheit haben wir den Fehler gemacht, dass wir unsere Innenstädte zu einseitig auf Handelsnutzungen ausgerichtet haben. Der zunehmende Onlinehandel und die Corona-Pandemie haben sich bitter an dieser monofunktionalen Strategie gerächt.     

Umfragen zeigen – nur zum Einkaufen gehen zumindest jüngere Leute nicht mehr unbedingt in die Innenstädte. Welche Zukunft hat das Erdgeschoss in Citylagen?   
Je nach Lage und Umfeld müssen Nutzungen in den Erdgeschossen Einzug halten, die den öffentlichen Raum beleben. Ob die richtige Nutzung eher Handwerk, Dienstleistung, Wohnen oder Gastronomie ist, hängt stark von den Rahmenbedingungen und dem Umfeld ab. Die Erdgeschoss-Aktivierung ist jedenfalls eine ganz zentrale Stellschraube für die Belebung und die Attraktivität der Innenstädte.   

Leerstände temporär mit Pop-up-Stores zu kaschieren funktioniert immer schlechter. Welche Hürden erschweren eine Umnutzung?
Pop-up-Stores und sonstige Zwischennutzungen können hilfreich sein, um Schneeballeffekte des Leerstands zu reduzieren, aber sie sind keine langfristige Aktivierungsstrategie.  

Immer mehr Städte kaufen einzelne Immobilien auf, um die Stadtentwicklung voranzutreiben. Kann man sich das im großen Stil vorstellen? Wäre das überhaupt die Aufgabe von Politik? 
Städte müssen die Entwicklung stärker selbst in die Hand nehmen. Der Erwerb von Immobilien ist – sofern es die jeweilige Haushaltssituation zulässt – eine gute Strategie, um die Gestaltungshoheit wieder zurückzugewinnen und Einfluss zu nehmen. Das erfordert oft die Gründung eigener Stadtentwicklungs- oder Stadterneuerungsgesellschaften. Die Beispiele in der Praxis zeigen, dass dieses proaktive Agieren schneller zum Ziel führt. 

Onlinehandel und Corona haben den Innenstädten zugesetzt. Inwieweit trägt der über die Pandemie hinaus anhaltende Trend zum Homeoffice zur Krise bei?  
Homeoffice scheint zur neuen Normalität zu werden. Mit den Veränderungen der Arbeitswelt sinkt der Bedarf an Büroflächen. 33 Prozent aller gewerblichen Immobilien stehen heute entweder leer oder werden nur zum Teil genutzt. Auch nach dem Abklingen der Pandemie werden viele Menschen zumindest teilweise weiter im Homeoffice arbeiten. Wenn wir die nicht mehr benötigten Büroimmobilien nutzen, um die Nutzungsmischung zu stärken, dann kann Homeoffice sogar ein Gewinn für die Innenstädte sein.  

Im Homeoffice haben einige ihren Stadtteil erst richtig kennengelernt – und die Läden, die es dort vielleicht noch gibt, wertgeschätzt und aktiv unterstützt. Ist die Konzentration auf die City noch sinnvoll?  
Das Quartier – jenseits der zentralen Innenstadtlage – hat in der Tat von der Pandemie profitiert. Die soziale Infrastruktur und Versorgungsangebote im unmittelbaren Umfeld haben an Bedeutung gewonnen. 
Während die monofunktionale Innenstadt zu den Verlierern gehört, hat das Stadtquartier als soziale Einheit und als überschaubarer räumlicher Bezugsrahmen an Bedeutung gewonnen. Gerade auch die wohnungsnahen Freiräume haben eine neue Wertschätzung erfahren. Insgesamt kann man festhalten, dass sich das Verhältnis zwischen dem innerstädtischen Zentrum und seinen Stadtteilen und Quartieren neu sortiert hat und die dezentrale Versorgungsstruktur an Relevanz gewonnen hat. 

"Atmende Städte", Springer Verlag

Im Springer Verlag erscheint in Kürze das Buch "Atmende Städte" von Christine Reicher und dem Architekturjournalisten Jürgen Tietz, das die Folgen von Coronapandemie und Klimawandel für Stadt und Land behandelt.