Nicola Bardola: Sie untersuchen die Argumente der "Verteidiger der Kunstfreiheit, die sich vor den radikalen Zuspitzungen der jüngsten Zeit gruseln" sehr kritisch. Diese wichen allzu schnell in den Modus der Verteidigung aus. Kunst müsse frei bleiben, man müsse sie eben in ihrem historischen Kontext verorten, ggf. mit kleinen erläuternden Hinweisen versehen oder aber für sich selbst sprechen lassen: So werde sie sich und ihre Verfasser – auch wohl ihre unkritischen Leser – schon selbst entlarven, und das funktioniere allemal besser, wenn man sie nicht nachträglich manipuliere. Sie fragen daher, ob dahinter nicht die gleiche problematische Haltung wie bei den Cancellern stecke, ob nicht auch hier, nur eben im Namen der Freiheit, von einem hohen moralischen Ross herab gesprochen werde, ganz so, als ob die Gegenwart "besser" wäre. Und Sie fragen, ob nicht auch hier der Leser der Gegenwart vorsorglich "entmündigt", derjenige der Vergangenheit an den Pranger der Unaufgeklärtheit gestellt werde. Also argumentieren beide Lager falsch, sowohl die Änderwütigen als auch die Verteidiger der Freiheit?
Melanie Möller: Im Grunde ja. Natürlich ist die historische, auch historisch-kritische, Argumentation besser, weil sie sachlich begründet und das Moralische unterordnet. Dennoch weicht sie häufig in den Modus der Verteidigung und Bewertung aus, nach dem Motto: Die einfältigen Leutchen damals wussten es halt nicht besser, also seien wir großzügig und sehen wir es ihnen nach, indem wir eine erläuternde Klausel beigeben, um uns deutlich genug von deren Haltung, und sei es nur eine in der Sprachwahl verbürgte, zu distanzieren. Das finde ich ziemlich mutlos, um es euphemistisch auszudrücken.
Es geht bei Triggerwarnungen (1), Anpassungen (2) und beim Gendern (3) doch nicht um unterschiedliche Lesarten, es geht um die realen Auswirkungen von Literatur auf Menschen.
Zu 1: Die Frau, die vergewaltigt wurde, deren furchtbare Erinnerungen noch frisch sind und die deshalb gerade nichts über das Thema lesen möchte. Oh, wie kann sie es nur wagen, alle mit ihren "Befindlichkeiten" zu nerven. (Beim Wort "Befindlichkeit" denke ich übrigens eher an die Leute, die es nicht aushalten können, wenn ihnen mangelnde politische Korrektheit vorgeworfen wird ...) Und es wird doch kein Verlag gezwungen, Triggerwarnungen abzudrucken! Aber wenn es gemacht wird, dann können Menschen wie die eingangs erwähnte Frau auf einfache Art und Weise etwas zu lesen finden. Alle anderen müssen die Triggerwarnungen ja nicht lesen, deshalb befinden sich diese normalerweise auch hinten im Buch, damit niemand versehendlich gespoilert wird. Es ist das gute Recht eines jeden Menschen, wenn er keine Rücksicht auf seine Mitmenschen nehmen und deshalb keine Triggerwarnungen für seine Texte haben möchte. Aber er soll sich dann auch bitte nicht beschweren, wenn seine mangelnde Rücksicht kritisiert wird. Genau, wie niemand gezwungen ist, im Bus aufzustehen, um einem alten Menschen einen Sitzplatz zu geben. Es ist halt einfach respektvoll.
Zu 2: Literatur, insbesondere solche für Kinder, hat auch einen Bildungszweck. Und gesellschaftlich wäre es schon ganz cool, wenn wir den Rassismus, der Kindern eh schon an allen Ecken und Enden beigebracht wird und bei Erwachsenen mehr oder weniger fest verankert ist, nicht auch noch durch Bücher verstärken. Wenn Menschen vielleicht sogar darüber informiert werden und etwas lernen. Aber auch hier, es gibt kein Gesetz, das ein solches Vorgehen vorschreibt. Es ist einfach nur eine Bildungsmaßnahme, genau, wie es auch in früheren Zeiten Lehrstücke gab. Heutzutage spiegelt sich die Bildung eben eher in kleinen Änderungen als in ganzen literarischen Formen, was auch daran liegt, dass heutzutage so eine Masse an Literatur zur Verfügung steht, dass Botschaften breit gestreut werden müssen, um ihr Ziel zu erreichen. Übrigens, wenn wir schon bei Bildung sind, ich fände es sehr wünschenswert, wenn Frau Möller mal ein Buch zu psychischer Gesundheit lesen würde. Es freut mich ja für sie, dass sie offenbar weder Traumata erlitten hat, noch unter einer psychischen Krankheit leidet, aber da geht es leider mehr als einem Viertel der Deutschen anders. (Und nein, Formulierungen können selbstverständlich keine Traumata auslösen, sie können aber retraumatisierend wirken. Was ich jetzt nicht weiter erläutere, ich will ja niemandem die Mündigkeit aberkennen.)
Zu 3: Dass jemand sich Wissenschaftlerin nennt, aber die Studien zum generischen Maskulinum nicht kennt, finde ich sehr interessant. Übrigens geht es beim Gendern nicht nur um Frauen, sondern auch um nicht-binäre Menschen. Und auch hier gilt: Niemand wird zu irgendetwas gezwungen. Es ist einfach nur eine schöne Möglichkeit, die eigene Einstellung mit der verwendeten Wortwahl zu transportieren.
Frau Möller, ich denke nicht, dass Sie meinen Kommentar lesen werden, aber falls doch: Ich bin gerne bereit, mit Ihnen zu diskutieren. Auch wenn Sie mich aufregen. Zurückhalten würde ich mich jedenfalls ganz sicher nicht, das müsste Ihnen ja theoretisch zusagen.