Amazon fresh: Ein Blick hinter die Kulissen

Amazon: Vom Einzelhandel lernen heißt siegen lernen?

6. August 2017
von Börsenblatt
Vor einem Vierteljahr startete Amazon in Berlin seinen Lieferdienst Amazon fresh. Innerhalb dieser drei Monate wurde das Sortiment von 85.000 auf 300.000 Artikel ausgedehnt. Fürchtet nun der Berliner Lebensmittel-Einzelhandel um seine Existenz? Es sieht nicht danach aus. Einige Geschäfte arbeiten sogar eng mit dem größten Online-Kaufhaus der Welt zusammen.

Im Mai vergangenen Jahres verpasste Amazon dem Berliner Lebensmittel-Einzelhandel mit seinem Lieferdienst Prime now einen enormen Schub. Kunden wurden in Zeitfenstern von zwei Stunden innerhalb eines Tages beliefert. Wir haben darüber ausführlich auf bookbytes hier berichtet. Amazon fresh ist jetzt ein eigenständiger Lieferdienst, der auf ein anderes Kaufverhalten setzt, wie Amazon-Pressesprecher Stephan Eichenseher uns erläutert hat. Während Prime now nach wie vor den Kunden beliefern möchte, der »etwas vergessen« hat oder aus aktuellem Anlass etwas rasch bestellen muss oder will, zielt Amazon fresh auf die Kunden, die gezielt einen gesamten Wocheneinkauf inklusive aller Frischeprodukte online abwickeln möchten. Und im Unterschied zu Prime now liefert Amazon fresh – wie der Name schon verrät – erstmals auch Frischwaren wie Obst und Gemüse, Fleisch und Fisch, Milch- und Backwaren in einer bis dato nicht vorhandenen Sortimentstiefe. Darunter über 6.000 Bio-Produkte. Damit verfügt Amazon fresh mit Abstand über das größte Angebot des Online-Handels mit täglicher Lieferung von Lebensmitteln, Haushalts- und sonstigen Waren in Deutschland. Nur zum Vergleich: ein gut sortierter Supermarkt hält hierzulande rund 12.000 Artikel vorrätig.

Kooperation mit der Konkurrenz

Eine weitere Besonderheit von Amazon fresh besteht darin, dass der neue Lieferdienst mit seinen Mitbewerbern kooperiert. Neben anderen Lieferanten stehen in Berlin auch etwa 25 Feinkostgeschäfte (Lieblingsläden im Amazon-Speech), vom Filialisten bis zum Einzelgeschäft, mit einem Sortiment im Premium-Bereich auf der Lieferantenliste. Butter Lindner, Filetstück, Kochhaus, Sagers Kaffeerösterei, Zeit für Brot, Fruitshop Berlin und der Biohändler Basic gehören dazu – Läden, die überwiegend eigene Lieferdienste aufgebaut haben, in Berlin einen hervorragenden Ruf genießen und deren Kunden sich aus nahezu dem gesamten Stadtgebiet rekrutieren. Seit der vergangenen Woche nutzt auch Roßmann mit weiteren 5.000 Artikeln Prime Now als Infrastruktur.

In persönlichen Gesprächen mit einigen dieser Läden habe ich herausgefunden, wie die Zusammenarbeit funktioniert. Im Wilmersdorf beispielsweise wartet in der Emser Straße täglich von 9:00 bis 10:00 Uhr ein Amazon-Wagen auf die diskrete Zulieferung der verschiedenen Einzelhändler. Und, wie mir versichert wurde, nicht eine Minute länger. Ohne minutiöses Timing läuft im Liefergeschäft mit Frischwaren nichts. Amazon fresh kassiert 16% vom Warenwert als Provision für sich und erhöht den Preis für den Endkunden bei manchen Produkten um etwa den gleichen Wert. So kostet das vegetarische Gericht Rainbow Buddha Bowl mit Quinoa, Avocado und Tahin-Limetten-Dressing beim Kochhaus für zwei Personen € 11,40 und bei Amazon fresh € 13,40. Ein Preisunterschied von 17,5%. Der Einkauf bei Amazon fresh ist für den Endkunden also nicht gerade preiswert. Jedenfalls bei einer Reihe von Artikeln.

Die Antwort auf meine Frage an einen Berliner Einzelhändler, wieso der Handelsriese im Berliner Einzelhandel und nicht im Großhandel einkauft, wo er bessere Konditionen bekommen würde, ist nur auf den ersten Blick verblüffend: »Weil Amazon von Frischwaren keine Ahnung hat.« Die Kenntnis von Qualität und Haltbarkeit seien unerläßlich für den Einkauf der richtigen Menge. Dazu gehöre ein großer Erfahrungsschatz, über den Amazon nicht verfüge. Dafür kenne sich Amazon wie kaum jemand sonst in Fragen der Logistik aus. Also nutze der Handelsriese das Qualitätsmanagement des Berliner Einzelhandels und kombiniere es mit seiner logistischen Stärke. Und dabei nicht ganz unwesentlich: Amazon wälzt Kundenbeschwerden auf den Zulieferer ab. Der haftet, wenn der Kunde unzufrieden ist.

Stephan Eichenseher möchte diese Aussagen so nicht stehen lassen. Nach seiner Auskunft arbeiten in den riesigen Hallen im Amazon fresh-Lager in Tegel auch ausgesprochene Food-Experten, die sehr wohl die Qualität und Haltbarkeit der angelieferten Waren überprüfen können und somit die Belieferung der Kunden mit qualitativ hochertigen Produkten sicherstellen. So sei Amazon fresh in der Lage, auch solche Frischeprodukte aus den Lieblingsläden zu liefern, die noch nie online bestellt werden konnten. Sogar aufgeschittene Wurst und Schinken gehören dazu. Man könne hier auch die Schnittstärke in Auftrag geben.

Die Motivation zur Zusammenarbeit mit Amazon fresh besteht für die Einzelhändler in den erhofften und realisierten Zusatzumsätzen. Vor allem jedoch in der Aussicht auf Umsätze bei schlechtem Wetter, wenn die Kunden ungern einkaufen gehen und dann vermutlich zunehmend die Haus-Lieferung von Lebensmitteln in Anspruch nehmen. Aber nicht alle Angesprochenen haben positiv auf das Kooperationsangebot von Amazon fresh reagiert. Ein Supermarktleiter erzählte mir, er habe nach reiflicher Überlegung von dem Angebot Abstand genommen. Bei der kalkulierten täglichen Bestellmenge hätte er sein Personal aufstocken und zusätzliche Lagerfläche bereitstellen müssen. Und er könne ja nicht ausschließen, dass er Waren aus seinen Regalen nehmen muss, um die Bestellung von Amazon fresh ausführen zu können. Waren, die seine Stammkunden dann nicht vorfinden würden. Dies alles hat ihn bewogen, auf die Lieferung an Amazon fresh zu verzichten.

Die Konditionen für Kunden

Amazon fresh liefert nur an Mitglieder von Amazon Prime. Diese Jahresmitgliedschaft kostet € 69. Nach einem kostenlosen Probemonat wird bei Amazon fresh ein Mitgliedsbeitrag von monatlich zusätzlich € 9,99 fällig – unabhängig davon in welchem Umfang und ob man den Lieferdienst in Anspruch nimmt. Amazon fresh-Kunden zahlen also insgesamt knapp € 16 pro Monat, um in den Genuss der Lieferung zu kommen – neben den vielen anderen Leistungen von Amazon Prime. Doch die kostenlose Lieferung für Amazon fresh-Kunden gilt nur bei einem Bestellwert von über € 40. Wer weniger bezieht, zahlt zusätzlich € 5,99 pro Lieferung.

Bei Bestellungen bis 12:00 Uhr wird noch am gleichen Tag geliefert. Das gilt aber nicht für alle Artikel. Viele Brot-, Gemüse-, Obst und Fleischwaren können erst am Folgetag zugestellt werden. Wie vormals bei Prime Now kann man für die Lieferung 2-Stunden-Fenster von 8:00 bis 22:00 Uhr wählen.

Testgebiet Fasanenstraße

Am vergangenen Samstag habe ich mich bei Amazon fresh angemeldet, um den Service zu testen. Ich setzte Obst und Gemüse, Sekt und Wein, Dosen, Fleisch und Hülsenfrüchte (im Wert von knapp über € 40,-) auf die Einkaufsliste und habe diese zweimal (bis 12:00 Uhr) nachträglich ergänzt. Mein gewählter Zeithorizont: zwischen 18:00 und 20:00 Uhr. Um kurz vor 20:00 Uhr war die Lieferung noch nicht eingetroffen. Für Nachfragen zur Lieferung findet man auf der Homepage von Amazon zwar keine Servicenummer, dafür aber ein Formular, in dem man seine Telefonnummer angeben und um sofortigen oder späteren Rückruf bitten kann. Ich bat um sofortigen Rückruf – und bekam einen leichten Schreck. Kaum war das Formular abgeschickt, klingelte mein Telefon. Ich schilderte der freundlich-besorgten Anruferin mein Problem und noch während sie versuchte, die Ursache für die bisher nicht erfolgte Lieferung bei DHL (dem Exklusiv-Partner von Amazon fresh) in Erfahrung zu bringen, klingelte es an der Tür. Fünf Minuten nach 20:00 Uhr traf die Bestellung bei mir ein.

Dass der Rheingauer Riesling vom Weingut Leitz für immerhin 7,99 pro 0,7l-Flasche nicht zufrieden stellte, ist sicherlich nicht Amazon anzulasten. Aber Amazon fresh übertreibt es offenbar mit der Sorge um die Haltbarkeit seiner Frische-Produkte. Die Petersilie und der Kopfsalat kamen in halbgefrorenen Zustand bei mir an und konnten nach kurzer Auftauzeit nur noch bedingt verarbeitet werden.

»Wie ein Tornado«

Nicht alle reagieren so gelassen auf den neuen Lieferservice, wie die Berliner Einzelhändler, die Amazon fresh beliefern. Der REWE-Chef Alain Caparros befürchtete in der Welt am Sonntag: »Amazon fresh wird wie ein Tornado in die Branche einziehen und so manchen Händler in Schwierigkeiten bringen.« Seiner Meinung nach wolle Amazon fresh nicht in erster Linie Geld verdienen. »Das einzige Ziel von Amazon sind die Daten der Verbraucher, darüber sollten sich die Konsumenten im Klaren sein.« Der Roßmann-Chef Raoul Roßmann sieht die neue Zusammenarbeit dagegen otimistisch: »Die Kooperation gibt uns Aufschluss darüber, wie ein zeitnaher Lieferservice von unseren Kunden in Belrin angenommen wird.« Wer letztlich von diesem Wissen profitieren wird, ist wohl eine offene Frage. Vor sechs Wochen wurde bekannt, dass Amazon die amerikanische Bio-Supermarktkette Whole Foods Market für knapp 14 Milliarden Dollar übernommen hat. Und nicht nur das. Vor einer guten Woche hat das Online-Portal von t3n ausführlich darüber berichtet, dass Amazon inzwischen als Produzent eine ganze Reihe eigener Marken im Handel vertreibt: »Neben der Kosmetikmarke Beauty Bar, den Wäschemarken Arabella und Mae, den Bekleidungs-Brands James & Erin, Lark & Ro sowie North Eleven und Smart is Beautiful zählen dazu auch die Werkzeugmarke Denali und die Kindermodemarken Scout & Ro sowie Mama Bear.« Würde man sich heute noch wundern, wenn Amazon beispielsweise eine starke deutsche Biomarkt-Kette übernimmt?

Seit gut drei Wochen liefert Amazon fresh übrigens auch nach Hamburg. Mit DHL von Berlin aus. Und in München, so wird jedenfalls in Fachkreisen gemunkelt, stehe Amazon fresh auch am Start.

Nach einer Analyse der Strategieberatung Oliver Wyman könnten schon mittelfristig bis zu acht Milliarden Euro im Handel mit Lebensmittel in den Online-Handel abwandern. Das wäre das Vierfache des jetzigen Umsatzes. Dies wiederum könnte 40.000 Arbeitsplätze im stationären Handel kosten. In unserer Branche haben wir erlebt, wie groß das Tortenstück ist, das sich Amazon abgeschnitten hat. Der Lebensmittelhandel sollte gewarnt sein.