Neuer Standort und Start der Amazon Academy

Amazons Technologielabor in Berlin

12. Juni 2015
Redaktion Börsenblatt
Der Internetkonzern Amazon hat in Berlin einen neuen Standort eröffnet und will damit die digitale Revolution im Online-Handel und in anderen Wirtschaftszweigen weiter vorantreiben. Die neuen Räume in den Krausenhöfen in Berlin-Mitte sind für bis zu 450 Spezialisten ausgelegt, die sich künftig mit Themen wie dem sogenannten Machine Learning und dem Cloud Computing beschäftigen und neue Technologien entwickeln. Dass am selben Tag die EU-Kommission kartellrechtliche Untersuchungen gegen Amazon wegen möglicherweise unzulässiger E-Book-Vertragsklauseln einleitete, trübte die Festlaune in Berlin nicht.

Großer Bahnhof zur Eröffnung der neuen Amazon Offices in Berlin: Der US-Botschafter in Deutschland, John B. Emerson, kam persönlich, um Amazon an der neuen Adresse zu begrüßen. Berlin sei der ideale Standort für das neue Entwicklungszentrum, weil sich die deutsche Hauptstadt zu einer globalen Drehscheibe für Unternehmen und Unternehmertum entwickelt habe. Emerson, der gerade den G7-Gipfel miterlebt hat, betonte, wie essenziell die Partnerschaft zwischen Deutschland und den USA sei. Dies gelte auch für das Freihandelsabkommen TTIP, das Emerson als Plattform für Innovation sieht, das aber gute Standards für Beschäftigte und die Umwelt nicht außer Acht lassen werde. Emerson beschwor den Start-up-Geist Amazons, der typisch für sein Land sei: „Our country was a start-up.“

Zuvor hatte bereits die Berliner Senatorin für Wirtschaft, Technologie und Forschung, Cornelia Yzer (CDU), für Berlin als führenden digitalen Standort geschwärmt: "Berlin boomt". Dass Amazon jetzt sein „digitales Kompetenzzentrum“ in der Hauptstadt eröffne, sei ein klares Bekenntnis dazu. Yzer betonte, dass Amazon längst nicht mehr nur Online-Händler sei, sondern ein „Technologieunternehmen und Infrastrukturanbieter“. Die Vernetzung Amazons mit der Wissenschaft, die es bereits mit dem Fraunhofer Institut, dem Konrad-Zuse-Zentrum für Informationstechnik Berlin und der TU Berlin gebe, werde nun weiter ausgebaut. Diese Zusammenarbeit trug bereits in der Vergangenheit Früchte: So wurde in Berlin der Musik- und Audio-Dienst SoundCloud von Amazon entwickelt.

Ein besonderer Tag war die Eröffnung eines eigenen Hauses in Berlin für Ralf Kleber, Country Manager Amazon Deutschland, der in den vergangenen Monaten selten gute Presse für sein Unternehmen gewohnt war. Kleber, der 1999 zu Amazon kam, pries den innovativen Geist des Unternehmens: „Innovation haben wir in unserer DNA“. Man werde auch in Berlin „Neuland betreten“ und viele Dinge auf den Kopf stellen. Es mache ihm Freude, so Kleber, für einen „Entdecker“ zu arbeiten – Entdecker, nicht Eroberer, wie er klarstellte.

Vorhersagen für Mode, sprachgesteuerte Lautsprecher

Die Wahl Berlins als Standort für das neue Technologie-Zentrum hat eine Vorgeschichte: Bereits 2011 wurde in Berlin ein Kundenservice-Center eröffnet, und seit 2013 gibt es erste Development Center. Für Ralf Herbrich, Geschäftsführer des Amazon Development Centers in Deutschland und jetzt Hausherr in den Krausenhöfen, steht das sogenannte Machine Learning im Fokus der Entwickler. Die Technologie, die aus großen Datenmengen bestimmte Muster herauslesen kann, um dann mit Hilfe bestimmter Algorithmen Vorhersagen zu treffen, soll in verschiedenen Branchen genutzt werden: Herbrich nannte das Beispiel Mode: Hier könne die Machine-Learning-Technologie die Vorhersage von Produkten ermöglichen. Händler könnten so beispielsweise nur Ware ordern, bei der ein bestimmter Absatz auf Grund der vorhandenen Daten zu erwarten ist. Ein Anwendungsbeispiel des maschinellen Lernens für Bücher sei die automatische Generierung von Indizes für E-Books – auch über viele E-Books, beispielsweise den kompletten „Harry-Potter“-Zyklus hinweg. Die Machine-Learning-Technologie ist zudem bereits in ein konkretes Produkt eingeflossen: einen sprachgesteuerten Lautsprecher, mit dem man sich auch E-Books vorlesen lassen kann.

In der anschließenden Podiumsrunde mit dem Blogger und Journalisten Richard Gutjahr, dem Handelsexperten Kai Hudetz (IfH / ECC), der Trendforscherin Karin Frick (Gottlieb Duttweiler Institut) und Ralf Kleber wurde über die „Zukunft der Möglichkeiten“ diskutiert. Dass die vor allem im Internet zu suchen sein wird, legten Thesen der Teilnehmer nahe: Inhalte würden künftig granularer, Streaming würde zunehmen (Gutjahr); der stationäre Einzelhandel werde wegbrechen, wenn er dem Kunden keinen Mehrwert liefere (Hudetz). Ralf Kleber betonte aber zugleich, dass auch physische Händler mit guten Dingen erfolgreich sein und zugleich via Internet ihre Reichweite immens vergrößern können.

Bezos' Spirit plus Start-up-Charme

Beim anschließenden Presserundgang konnte man sich einen Eindruck von den neuen Räumlichkeiten verschaffen. Die sechs Etagen des Gebäudes, in dem früher unter anderen die Akademie der Landwirtschaftswissenschaften der DDR residierte, sind großzügig eingerichtet. Neben klassischen Schreibtischgruppen gibt es zahlreiche Sitzecken und Rückzugsräume (sogenannte flex rooms); die Wände zieren (Klebe-)Graffitis; einen Tisch-Kicker gibt es ebenfalls. Unternehmenssprache ist Englisch - bei einem globalen Unternehmen, das ständig mit den Entwicklungszentren in Seattle und Bangalore im Kontakt steht und seine Spezialkräfte weltweit akquiriert, nicht anders zu erwarten. Durch die Räume weht ein Spirit, der einerseits Jeff Bezos‘ Mission spiegelt, das Beste für den Kunden zu tun (auf einer der obligatorischen Statement-Wände steht auch der Begriff „Customer Obsession“), andererseits Start-up-Charme verbreitet. Manches Gesicht, das einem bei Amazon begegnet, kennt man übrigens auch aus der deutschen Start-up-Szene. Sie dient dem Konzern offenbar auch als Rekrutierungsfeld. Am Eröffnungstag waren bereits 150 Schreibtische besetzt, bis Jahresende sollen es 350 sein; allein 180 Mitarbeiter sollen sich lauf Amazon mit dem Machine Learning beschäftigen.

Die Datenschätze, mit denen Amazon in Berlin arbeitet und die eines Tages vielleicht Händlern und Herstellern vollkommen neue Produktions- und Distributionszyklen bescheren werden, sind streng bewacht. Sicherheit, und das schließt Cyber Security ein, hat für Ralf Herbrich höchste Priorität.

Ein weiteres Projekt, das Amazon in Berlin gestartet hat, ist die Amazon Academy – ein Dialog- und Vernetzungsprogramm für Autoren (Selfpublisher), Händler, Entwickler und Wissenschaftler, das nach dem Start in Deutschland europaweit umgesetzt werden soll. Rund 250 Gäste lauschten am Nachmittag in mehreren geschlossenen Sessions Vorträgen und konnten die Gelegenheit zum Netzwerken nutzen.

roe