Leyla Dakhlis Laudatio auf Mathias Énard

"Der Orient und der Okzident sind ein und dieselbe Welt"

24. März 2017
Redaktion Börsenblatt
Die derzeit am Berliner Centre Marc Bloch forschende französische Historikerin und Spezialistin für die Arabische Welt, Leyla Dakhli, hielt am Mittwochabend im Leipziger Gewandhaus eine bewegende Laudatio auf Mathias Énard, den Empfänger des Leipziger Preises zur Europäischen Verständigung. Boersenblatt.net publiziert den vollständigen Text im Wortlaut.

"Meine Damen und Herren, lieber Mathias

Als ich im Januar 1996, kaum 20 Jahre alt, in Damaskus ankam, um über das zu arbeiten, was meine Doktorarbeit und dann mein Beruf werden sollte, wusste ich, dass ich im Begriff stand, einen für den Rest meines Lebens entscheidenden Schritt zu tun. Ich dachte an Archive, Forschungsfragen, Besuche und Begegnungen mit Personen, mit Zeugen. Ich wollte mir ein Land erobern, das ich nicht gut kannte und dem ich mich zuwendete, um seine Geheimnisse zu erforschen. Was ich nicht wusste, war, dass ich dort anderen Personen begegnen würde, die ebenfalls auf der Suche nach dem Wissen waren ("talab al-'ilm" sagt man im Islam). Unter ihnen war jemand, mit dem damals eine Freundschaft und eine Weggemeinschaft von mehr als zwanzig Jahren begann, Mathias Enard. Ja, ich weiß, man könnte meinen, wir sind in "Kompass" ... aber, wie man sagt, "jede Ähnlichkeit mit Personen, die tatsächlich gelebt haben, ist rein zufällig".

Obwohl wir uns in den Jahren danach aus den Augen verloren haben, Mathias war in Teheran, in Beirut, in Barcelona, in Rom, ich selbst an anderen Orten, habe ich mitverfolgt,  dass du einen Weg eingeschlagen hast, den Weg der Sprache und der Sprachen. Du hast Sprachen unterrichtet, du hast einige davon übersetzt, du hast auf Französisch geschrieben. Das war nicht völlig unerwartet für diejenigen, die dich ein wenig kannten, wie dies bei mir der Fall war. Es lag auf der Hand, dass du ein Schriftsteller, ein Dichter werden würdest. Die Liebe zu den Wörtern, den Wortspielen, den Lauten, den Harmonien und den Geschichten, die diese Wörter transportierten, war schon ein großer Teil von dem, was ich von dir wusste, als in Damaskus jedes Abendessen in der Stadt von Liedern und Texten begleitet war und du zum Ausklang des Abends gern Texte  des modernistischen irakischen Dichters Badr Shakir al-Sayyab vorgelesen hast.

Damals sah man, ganz wie in Kompass, in Damaskus und auch anderswo zahlreiche Europäer mit Leib und Seele eintauchen in andere Klänge und andere Rhythmen und sich einbinden in die gemeinsame Menschlichkeit der Leute von "dort unten". In Syrien unter dem Vater Assad waren die Orte zum Ausgehen nicht sehr zahlreich, und man traf dort alle möglichen Leute an, vor allem syrische Studenten, junge Leute, mit denen wir über das Leben sprachen und dabei sorgfältig vermieden, uns über das Regime zu äußern.

Heute steckt in dieser geteilten Lebenserfahrung eine unsagbare Melancholie. Sie scheint von einem Orient zu sprechen, den es nicht mehr gibt. Zunächst wegen der Zerstörungen und des Desasters, die darauf folgten seit dem Einmarsch in Irak im Jahr 2003, der Zedernevolution 2005, der grünen Revolution im Iran 2009  und der syrischen Revolution 2011. Dann vielleicht auch, weil diese Zeit die Zeit unserer Jugend war und ein Teil dieser Jugend dort unten geblieben ist.

Wir haben das Gefühl, einen Orient zwischen zwei Kriegen erlebt zu haben (nach den zwei monströsen Konflikten, dem Bürgerkrieg im Libanon und dem Krieg zwischen dem Iran und dem Irak). Wir haben Öffnungen miterlebt, die wir erwartet hatten, Wünsche nach Freiheit, in denen wir nicht nur uns selbst wiedererkannten, sondern auch unsere Freunde und unsere Gefährten dort unten. Wir haben mitangesehen, wie sie die Unterdrückung erlitten haben, wie sie geflohen sind und verzichtet oder ihre Kämpfe weitergeführt haben, nun von einer Basis "bei uns" aus.

Von der Literatur aus hat Mathias sich der Nostalgie bemächtigen können, hat aus ihr eine Waffe machen können, hat sie aufschreiben können, ohne sie in Bitterkeit zu verwandeln. Er hat sie in die verschiedenen Räume transportiert, die seine Romane erfinden und abwandern.

Denn er hat sich natürlich von der kleinen Welt der Orientalisten und der Orientalen entfernt. Er hat den Krieg und die Gewalt einfließen lassen, von unten gesehen, mag es auch über die Stimme von jemandem geschehen, der von oben schießt ("La perfection du tir", 2003). Er hat seine Nostalgie in die Transsibirische Eisenbahn transportiert ("L' Alcool et la Nostalgie", 2011), er hat sie auf seine Streifzüge durch die Gewalt und die Abscheulichkeiten eines adriatischen Mittelmeers mitgenommen, zwischen Italien, dem früheren Jugoslawien und einigen Gassen in Ägypten, und das in einem Atemzug ("Zone", 2008).

Mag er sich auch mit der ganzen Welt befassen und sie mittels seiner Figuren und seiner Landschaften umfassen, so hat er sich sein "Zuhause" im Mittelmeer errichtet. Er wacht über die beiden Tore. Das der Meerengen, die Europa und Asien verbinden und trennen, und über die er eine imperiale Brücke imaginiert in "Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten" (2010), und das Tor, das lange Zeit als ein Ende der Welt galt, und wo alljährlich Hunderte Menschen sterben, die Meerenge von Gibraltar ("Straße der Diebe", 2012). Diese dichten und bildungsgesättigten Romane mit ihren tausend polyglotten Geschichten drücken alle das Mittelmeer aus, "mare nostrum", sein Meer mit den tausend Sehnsüchten.

Denn er ist da, der Schmerz, er ist da, der bittersüße Geschmack, in diesem Raum, den du durchquerst und den du so gut kennst, in diesem Raum, der für alle Winde offen ist und zugleich verschlossen ist für alle Wünsche nach einem Woanders. Von Latakia bis Alexandria, vom Piräus bis Tunis, Malta, Barcelona, Tanger, Algier, Marseille ... ein und dieselbe anhaltende Vibration. Du nimmst sie besser wahr als sonst jemand, du, der du praktisch alle Sprachen, die dort gesprochen werden, sprichst oder verstehst. Das Arabische/ die arabischen Varianten, das Italienische, das Spanische, das Katalanische, ein wenig Griechisch, ein wenig Serbokroatisch, eine Spur Maltesisch (das eine Mischung von zwei Sprachen ist, die du gut kennst)...

Und eben weil du die Sprachen kennst und verstehst, weil du gern Geschichten hörst und in den Archiven wühlst, schreibst du, so scheint mir, nicht diese Literatur  des "Zusammenlebens", der Versöhnung, der Freundschaft zwischen den Völkern, die immer von oben gesehen wird. Deine Literatur lässt Raum für die Gemeinheit, die Gewalt, die Perversität und die Machtbeziehungen. Sie lässt Raum für die Freiheit und die Leichtigkeit, die Leidenschaft und die Liebe. Die Leidenschaften, die sich darin befinden, sind zunächst die Leidenschaften der Frauen und Männer (eher der Männer, muss man sagen, Mathias beschreibt so gut die Gesellschaft der Männer), die von der leidenschaftlichen Liebe  zur Schönheit und Harmonie beseelt sind, aber auch zur Angst und zum Tod, zur Zerstörung.

Ich habe Mathias im Herbst 2013 in Berlin wieder getroffen. Wir lebten in einer neuen Zufluchtsstadt, zwanzig Jahre nach Damaskus, in einer anderen Sprache, anderen Landschaften, anderen Lauten. Wir waren in einem anderen Abschnitt unseres Lebens in Berlin. Wir waren in Berlin, und die syrische Revolution verwandelte sich Tag  für Tag in eine monströse Tragödie. Wir wohnten in Berlin und wir hörten von Tag zu Tag immer öfter die schöne syrische Sprache und ihre besondere Musik in der S-Bahn. Wir haben sehr wenig darüber gesprochen, aber wir haben viel über die Wissenschaft gesprochen, über den Orientalismus und die Kritik an ihm. Mathias schrieb damals "Kompass", ich wusste von einem sehr vagen Thema, den Orientalisten. Ich setzte meine Arbeit fort und versuchte geduldig, die Stimme der arabischen Völker und ihrer Suche nach Freiheit und Würde zu Gehör zu bringen.

Ohne darüber zu sprechen, wanderten wir ein wenig auf demselben Weg. Denn meiner Ansicht nach ist "Kompass" ein Weg der Erkenntnis und des Verstehens. Der Roman zeigt die Möglichkeit eines glücklichen Wegs auf. Er verläuft über die Wissenschaft, die Liebe und die Schönheit der Bücher wie der Menschen.

Manche Zeitungen wunderten sich, dass "Kompass" eine "arabische Welt ohne Probleme/ ganz ohne Politik und Terror" beschreibt. Ich selber sehe darin weder ein Versäumnis noch Naivität und nicht den Willen, "die gute Seite der Dinge" zu zeigen. Sondern durchaus eine Treue zu dem, was wir wissen und worauf wir Wert legen, der Orient und der Okzident sind ein und dieselbe Welt, und genauso wenig wie hier stehen dort unsere Mitmenschen mit dem Wunsch zu sterben oder zu töten auf. Ihre Daseinsbedingungen, die des syrischen Volkes, sind nachvollziehbar für uns, wenn wir die Anstrengung unternehmen, sie zu begreifen und zu lesen.

Mathias Enard, der Reisende, ist kein Entwurzelter. Er lebt überall dort, wo er nicht zuhause ist, weil er buchstäblich imstande ist, die Welt zu bewohnen. Er trägt überall und ununterbrochen seinen Wunsch zu verstehen und zu sagen mit, einen Wunsch, der zugleich ein Elan und ein Mangel ist. Deshalb kann er sagen "Das europäische Zuhause ist der Osten", wie eine andere und reichere Weise, den hier angekommenen Orientalen zu sagen "Ihr seid hier zuhause".

Lieber Mathias. Es ist natürlich eine große Ehre für mich und eine immense Freude, dich hier zu feiern, in einer deutschen Sprache, die für mich immer noch eine stockende ist. Ich möchte also mit einigen Worten in einer anderen Sprache schließen:
          
Mahmud Darwich, "Der Pass" (Vorlesung auf Arabisch)

Sie erkannten mich nicht,
die Farben in meinem Paß waren verblaßt.
Sie betrachteten meine Wunde wie Touristen,
die Bilder sammeln,
eine Ausstellung.
Sie erkannten mich nicht,
ach, keine Sonne schien auf meine Hand.
Die Bäume kennen mich.
alle Regenlieder kennen mich.
Ich will nicht verblassen wie der Mond.
Alle Spatzen begleiteten mich zur Flughafentür,
die in die Ferne führt.
Alle Weizenfelder,
alle Gefängnisse,
alle weißen Gräber,
alle Grenzen,
alle winkenden Taschentücher,
alle schwarzen Augen,
alle Augen begleiteten mich.
Aber das steht nicht im Paß.
Nur der nackte Name.
Heimatlos in einem Land,
das meine Hand bebaut?
Hiob schreit heute gen Himmel:
Strafe mich nicht noch einmal!
Meine Herren! Meine Herren Propheten!
Fragt nicht die Bäume nach ihrem Namen,
fragt nicht die Täler nach ihren Müttern.
Meinen Gedanken entspringt Licht,
meiner Hand Wasser.
Meine Heimat – alle Menschenherzen.
Behaltet meinen Paß."