Für die französischsprachigen Gebiete auf dem Globus wird, zumindest in Frankreich, der Begriff der „Francophonie“ verwendet. Ist dieses Wort kolonial belastet?
Und ob! Schließlich geht er zurück auf den französischen Kolonialgeographen Onésime Reclus, der die Termini "francophone" und "francophonie" um 1880 erstmals erwähnt, mit kolonialexpansiver Stoßrichtung, damals in Abgrenzung zum Deutschen Reich, das gleichfalls koloniale Gelüste hegte, heute eher als Gegengewicht zur anglo-amerikanischen Normierung der Welt.
Der erste postkoloniale Impuls zu einer institutionalisierten Francophonie ging Anfang der 1960er von den Staatspräsidenten Tunesiens und des Senegal aus, Bourguiba und Senghor. Heute finden sich, über 5 Kontinente verteilt, 57 Staaten unter dem Siegel Organisation Internationale de la Francophonie (OIF) zusammen, bisweilen unabhängig vom Status des Französischen in ihrem Land: Albanien, Ägypten oder Armenien sind etwa Mitglied im Club, Marokko und Tunesien auch; Algerien mit 21 Millionen Französischsprechenden dagegen hält sich bis heute fern, der koloniale Stachel sitzt noch immer tief.
Haben zeitgenössische Autoren wie Boualem Sansal (den Sie übersetzen) ein unverkrampftes Verhältnis zum Französischen? Und warum schreiben sie nicht auf Arabisch?
Boualem Sansal, Jahrgang 1949, ist von Haus aus "Gallier", wie er neckisch auf den Frankfurter Literaturtagen erklärte: Er hatte die gleichen Schulbücher wie alle Schüler zwischen Bastia und Brest und wuchs in einem Algerien auf, dass bis 1962 ein Teil von Frankreich war. Es gab keinen arabischen Schulunterricht, außer in der Koranschule. Für Sansal und noch die meisten Autoren seiner Generation ist das Französische die Schriftsprache schlechthin, auch wenn Nationalisten sie als hizb França, Parteigänger Frankreichs, beschimpften.
Nach der Unabhängigkeit gerieten sie in Legitimationszwang gegenüber der staatlich verordneten arabischen Einheitskultur, die, speziell in Algerien, mithilfe von Muslimbrüdern aus dem Orient etabliert wurde; Assia Djebar etwa wechselte in den 1970ern vorübergehend ins Medium des Films, um sich dieser Kritik zu entziehen. Und die Spezialisten sagten den natürlichen Tod der französischsprachigen Literatur im Maghreb voraus. Das Gegenteil war der Fall. Heute gibt es im Maghreb mehr frankophone Autoren denn je, in Marokko ist überhaupt erst in den letzten 20 Jahren eine weibliche Literaturszene entstanden. Die Autoren sind es leid, sich rechtfertigen zu müssen und gehen mit dem Französischen so kreativ und selbstbewusst um wie jeder andere auch. Daneben hat sich, etwa mit Ahlem Mostaghanemi oder Wassiny Laredsch, eine junge, dynamische Literaturszene in arabischer Sprache, vereinzelt sogar in Amazigh, etabliert, von der man hierzulande nur nichts mitbekommt.
Muss man nicht zwischen den verschiedenen französischsprachigen Erzähltraditionen und ihrer geographischen Verbreitung sehr stark differenzieren – beispielsweise zwischen der Literatur in den Maghreb-Staaten, in Zentralafrika, in den Übersee-Departements, in Quebec, in der Wallonie oder in der Romandie?
Ja, selbstverständlich. Je nach dem kulturellen und sprachlichen Substrat, in dem sie wurzelt, treibt sie ja völlig andere Blüten, und eben das macht ihren Reiz und Reichtum aus: "Es sus la talvera qu'es la libertat", pflegte der okzitanische Autor Yves Rouquette zu sagen, "die Freiheit wuchert am Feldrain", an den Rändern, den Peripherien, eben fernab vom Zentrum, sprich normierten Pariser Literaturdiskurs.
Welche (gegenläufigen) sprachlich-literarischen Strömungen kann man denn in der Literaturszene Frankreichs selbst beobachten?
Na ja, momentan sieht es ja eher so aus, als hätte der frische Wind aus den "Peripherien" der Frankophonie, die ja längst keine mehr sind, auch die Literatur im "Mutterland" gewaltig aufgefrischt und ihr jene "Welthaltigkeit" eingeflößt, die ihr unter dem Einfluss von Strukturalismus, Nouveau Roman und narzisstischer Selbstbespiegelung der Autoren, wie sie im hippen Pariser Rive-Gauche-Ghetto prosperierten, lange Zeit abhanden gekommen war. Die neue französische Literatur macht derzeit unter dem Schlagwort "Exofiktion" Furore, mit Romanen, in denen sich um historische Ereignisse oder Figuren herum Fakt und Fiktion verweben, wie typischerweise in den Romanen Patrick Devilles (Kampuchea, Äquatoria) oder bei Simon-Pierre Hamelin, der im Roman 101, rue Condorcet, Clamart dem Pariser Exil der russischen Lyrikerin Marina Zwetajewa nachspürt. Von den Autoren des Maghreb kennt man derlei ja schon länger, wenn Yasmina Khadra etwa Die letzte Nacht des Muammar al-Gaddafi imaginiert, oder Habib Tengour mit Le Vieux de la Montagne in die mittelalterliche Haut des "Alten vom Berge" schlüpft, des Begründers der persischen Assassinen-Sekte.
Worauf ist zurückzuführen, dass in nicht geringer Zahl Autoren aus anderen Sprachräumen (etwa dem chinesischen oder japanischen) das Französische als ihre Literatursprache wählen?
Nun, Frankreich, die Wiege von "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", ist traditionell für junge Menschen attraktiv, in deren Ländern Unterdrückung und Verfolgung herrschen. Während François Cheng, Altmeister der frankophonen chinesischen Literatur (Fünf Meditationen über die Schönheit) und seit 2002 als erster Asiate Mitglied der Académie française, 1948 noch aus Begeisterung nach Frankreich emigrierte, sind die jüngeren franko-chinesischen Autoren, Shan Sa (Himmelstänzerin, Bitterer Tee), Dai Sijie (Balzac und die kleine chinesische Schneiderin), Wei Wei, Ya Ding oder Ying Chen, allesamt vor politischer Repression unter Mao Tsetung oder Deng Xiaoping (Massaker am Platz des Himmlischen Friedens, 1989) geflohen.
Daneben gibt es in den Zeiten des globalisierten Nomadentums, in denen wir leben, immer wieder Einzelne, die den Weg in die französische Sprache finden, wie die Inderin Shumona Sinja (Erschlagt die Armen, Kalkutta), oder Pedro Kadivar, der Berliner Theatermacher, der als Sechzehnjähriger aus dem Iran nach Paris emigrierte und unlängst einen literarischen Essay zur Migration als Kunst- und Lebensform vorgelegt hat, der demnächst auch auf Deutsch erscheint (Kleines Buch der Migrationen).
Zu solchen Autoren scheint besser als ein ideologisch überfrachteter Frankophonie-Begriff jener der "Littérature-Monde" zu passen, einer "Weltliteratur in französischer Sprache", wie sie am 16. März 2007 in der Pariser Zeitung Le Monde eingefordert wurde. Einer der 44 Unterzeichner des Manifests ist übrigens Alain Mabanckou, der (neben Frédéric Boyer) als literarischer Berater für die Auswahl der nach Frankfurt einzuladenden Autoren fungiert.
Für dieses Jahr sind mehr als 1.400 Übersetzungen aus dem Französischen ins Deutsche geplant bzw. angekündigt – über alle Genres hinweg. An welcher (oder an welchen) Übersetzung(en) arbeiten Sie gerade? Und wird es einen weiteren Sansal auf Deutsch geben?
Ja, diese Messe wirft in der Tat ihre Schatten voraus. Ich habe zur Zeit vier Übersetzungsprojekte: den ersten Roman des marokkanischen Politologen und Islamologen Rachid Benzine, "Der Zorn der Feiglinge" (Nour, pourquoi n'ai-je rien vu venir?), in dem eine junge, zum IS abgewanderte Frau ihren Vater, einen modernen Philosophieprofessor, zum Islamismus bekehren will; für Lenos mit Des pierres dans ma poche einen Roman um weibliche Selbstfindung aus der Feder der 30jährigen Algerierin Kaouther Adimi; für das Stadttheater Bremen Hamelins erwähnten Zwetajewa-Roman; daneben Migrations-Lyrik des algerischen Ethnologen Habib Tengour, der 2017 Stipendiat des Berliner Künstlerprogramms des DAAD ist.
Sansal? Hat keinen neuen Roman auf Lager. Sein nächstes Buch erscheint 2018 in Paris. Aber er sitzt an einer Bühnenbearbeitung seines Romans 2084 - Das Ende der Welt für das Mannheimer Nationaltheater und wird dort wohl auch im Juni auf den Internationalen Schillertagen mit einem Essay zum Thema Freiheit dabei sein.
Regina Keil-Sagawe ist freie Literaturübersetzerin, Kulturjournalistin, Dozentin und Moderatorin mit Schwerpunkt Maghreb und vielfältig im deutsch-maghrebinischen Austausch aktiv, u. a. als Initiatorin des Kulturdialogs Heidelberg-Marokko.