"Die kompakte, gemütliche Puppenstube aus Stein, sorgfältig und dezent geschmückt – auf den Fotos sah das sächsische Freiberg wie eine echte deutsche Stadt aus, so wie ich mir das Revier von Faust oder dem Nussknacker immer vorgestellt habe – meine Vorfreude war groß, als ich zu einer Lesung nach Freiberg fuhr. Es war ein regnerischer Oktobertag. Als ich da eintraf, wartete meine Gastgeberin auf dem Bahnsteig auf mich: »Heike Wenige, vom Taschenbuchladen«, reichte sie mir die Hand. – »Herzlich willkommen!«
Offenes Gesicht, wache dunkle Augen, eine breite, schmalzipfelige Mantelkapuze auf den Schultern – die Frau hatte etwas Elfenhaftes in sich, wie auch ihr winziger Laden in der zentralen Burgstraße: eine grüne tiefsitzende Tür plus ein Schaufenster, in dem sich Lieblinge von Heike Wenige tummelten – für jeden fand sie ein plädierendes Wort. Sie ist eine tapfere Buchhändlerin – während der Büchermarkt von »leichter Kost« überschwemmt wird, bietet sie ein »ausgewähltes literarisches Sortiment« an – und das mit Erfolg.
Seit 20 Jahren führt sie ihren Zwergladen, und auch in das dritte Jahrzehnt schaut Heike Wenige mit Zuversicht. Nicht, weil sie keine Konkurrenz hat, sondern weil sie ihre Ware offensichtlich liebt. Nach Zutaten für eine feine Tafel sucht man bei einem Gourmet, nach einem erlesenen Buch bei einer leidenschaftlichen Lesefee.
Heike Weniges eigene Erklärung ihres Erfolges: »Wir beraten unsere Kunden gern. Und wir organisieren regelmäßig einen Lyriksalon, Autorenlesungen und einiges mehr«, sagte sie, während ich mich in dem engen Raum umschaute. »Aber das alles findet nicht hier, auf unseren 45 Quadratmetern, statt«, fügte meine Gastgeberin hinzu. »Sie werden heute Abend im Tivoli lesen, da passen mehr als 100 Leute rein.«
Bis zur Lesung blieben noch drei Stunden, genau richtig für einen Stadtrundgang. Es war ein dunkler, nasser Nachmittag, hinter den Fenstern schimmerte warmes, nach Kaffee-Kuchen duftendes Licht, die schmalen Straßen aber waren leer. Wie auch die Cafés – die Freiberger Eierschecke, eine einheimische Spezialität, musste ich in majestätischer Einsamkeit kosten.
»100 Menschen«, tickte es in meinem Kopf, als ich durch die dunklen Straßen zum großen, schmucken Tivoli, einem Kultur- und Ballhaus, eilte. »Wo will meine Gastgeberin diese 100 denn hervorzaubern, in dieser Stadt, die sich mit Einbruch der Dämmerung tot wie ein Käfer gestellt hat?«
Eine große Halle, in der hier und da siebeneinhalb Menschen zerstreut sitzen – für dieses Bild wappnete ich mich, und traf ein ganz anderes: Der Saal war voll netter Menschen. Und genau so mysteriös, wie sich die Freiberger materialisiert hatten, zerstreuten sie sich nach der Lesung wieder und verschwanden in den verwinkelten Gassen. Heute steht auf meinem Schreibtisch eine Postkarte mit dem alten Freiberger Stadtplan. Mitten hinein habe ich einen kleinen roten Punkt gesetzt, und dieser ist für mich der Taschenbuchladen – ein kleines funkelndes Herz einer alten Stadt, die im Begriff ist, im Winterschlaf zu erstarren."