Leseförderung

Natürlich mit Buch oder tut’s die App auch?

13. März 2015
Nicola Bardola
Der Trendbericht Kinder- und Jugendbuch 2015 des Börsenvereins zeigt, dass mit Büchern für Erstleser mehr Umsatz gemacht wurde als in den Jahren zuvor – ebenso mit Spiel- und Lernbüchern und Bilderbüchern. Hat das Buch also in der Konkurrenz mit elektronischen Medien, die auch für kleine Kinder angeboten werden, schon gewonnen?

Auf der Leipziger Buchmesse, wo sich Kinder, Eltern, Pädagogen, Verleger, Illustratoren tummeln, wurde diskutiert. Der Arbeitskreis für Jugendliteratur, die Arbeitsgemeinschaft von Jugenbuchverlagen, die Stiftung Lesen und der Börsenverein hatten die Fachleute eingeladen. 

Was ist Lesesozialisation?

Welche Faktoren haben die Wissenschaftler im Blick, wenn sie vom Lesen lernen sprechen, wollte Torsten Casimir, Chefredakteur des „Börsenblatts“ und Moderator der Diskussion wissen. Silke Borgstedt, Direktorin Sozialforschung im Sinus-Institut definierte das Lesen lernen als kontinuierlichen Prozess: „Bei kleinen Kindern besteht kein großer Unterschied zwischen spielen und lernen, zwischen lesen und schauen. Viele Personen sind am Lesen lernen beteiligt. Wenn wir vom Lesen lernen sprechen, untersuchen wir deshalb vor allem die Unterschiede zwischen den sozialen Milieus, wobei es weniger um Bildung geht, sondern spezifisch darum, welche Funktion das Buch hat, ob es ein selbstverständlicher Begleiter im Alltag ist oder ein Gegenstand, der manchmal sogar bedrohlich wirkt.“ Michael Ritter, Professor für Deutschdidaktik an der MLU Halle-Wittenberg, unterteilt das Lesen lernen in zwei große Bereiche, einerseits in die Lesesozialisation, andererseits in den sehr konkreten Bereich des Leseerwerbs. „Im herkömmlichen Buch dominiert die Schriftanalyse, bei digitaler Lektüre werden die Tätigkeiten der Leser vielfältig“, so Ritter.  

Die Vorteile eines Buchs

Casimir betonte, dass bislang beim Lesen lernen das Buch konkurrenzlos im Mittelpunkt stand und fragte nach seinen heute noch bestehenden Vorteilen. Sibylle Freudenberg, Leiterin eines Leseclubs in Berlin und seit vielen Jahren in der Elternarbeit tätig, erzählte von ihrer Straßenbahnfahrt auf das Messegelände. Da stieg eine Mutter mit zwei kleinen und laut quengelnden Kindern ein. Die Mutter zog ein Buch heraus - und sofort war Ruhe.

Der Einwand von Karsten Teich, Kinderbuch-Illustrator und zurzeit unterwegs in Schulen mit seiner Erstlese-Reihe „Cowboy Klaus“ (Tulipan Verlag) überzeugte, dass sich viele Anekdoten von Kleinkindern erzählen lassen, die mit Smartphone, iPad und anderen Geräten ruhig gestellt werden. Worin liegen also die Unterschiede der Medien beim Spracherwerb? Ist es die Haptik der Papierbücher, die Möglichkeit für Kinder Oberflächen zu benutzen? Schließlich kann man in ein Buch beispielsweise etwas hineinlegen. 
„Als Eltern liest man das Buch mit den Kindern gemeinsam. Das ist auch unser Ziel bei der Konzeption der ‚Cowboy Klaus‘-Erstlesebücher. Sie sind so geschrieben und illustriert, dass sie auch Eltern Spaß machen. Sie enthalten auch ironische Elemente und Zweideutigkeiten. So soll man beim Lesen gemeinsam Lachen und sich gegenseitig Dinge erklären. Versuchen Sie das mal mit Kindern vor einem Bildschirm: Da muss einer der Chef sein und schiebt die anderen immer zur Seite“, erklärte Teich. Das digitale Medium richte sich sehr stark an eine Person und fessele die Aufmerksamkeit total. „Gerade bei kleinen Kindern finde ich das sehr gefährlich. Das Buch hat dagegen eine tolle Qualität: Kinder und Erwachsene können es anders und besser teilen als digitale Produkte“, so Teich. 

Die Vorteile einer App

Ritter, zu dessen Forschungsschwerpunkten die Gattung Bilderbuch gehört, suchte nach dem Mehrwert der App und findet zunächst nur Nachahmung: „Buchaffine Apps imitieren Papierbücher, sie imitieren auch das Geräusch beim Blättern. Vor einigen Jahren stand die These im Raum, die Digitalisierung der Literatur würde das Papierbuch ablösen. Dem widerspreche ich heute mehr denn je. Es ist zurzeit so, dass das Buch die App-Kultur stark korrumpiert. Das Buch hat also offensichtlich so starke Eigenqualitäten, dass sich literarische Apps dem nicht entziehen können“, sagte Ritter. 
„Im Alltag der Familien finden wir normalerweise keine Situationen, in denen die Medien gegeneinander ausgespielt werden. Beim Buch bin ich nicht regelgeleitet durch bestimmte Funktionen“, ergänzte Borgstedt und verwies darauf, dass bei digitalem Konsum die Kinder lernen, Oberflächen zu benutzen. Wo bleibt der Tiefgang? Casimir fragte, ob es die umgekehrte Beobachtung auch gibt, dass nämlich die digitale Welt beginnt, das Papierbuch zu korrumpieren? Wird das Buch attraktiver, weil die digitale Welt auch das Spielerische bedient? 

Das Vernetzte und das Fragmentarische

Freudenberg berichtete aus ihrer Praxis. „Viele Eltern lesen ihren Kindern aus verschiedenen Gründen nicht vor. In solchen Fällen ist es gut, wenn es anspruchsvolle Apps gibt, die nicht nur ein Buch vielfältig wiedergeben, sondern spielerische Zusatzfunktionen wie Memory oder Puzzles anbieten, die auf das Buch bezogen sind. Kinder lieben Geschichten: Die Gefahr bei Apps ist das Fragmentarische. Wenn sie aber eine Geschichte von Anfang bis Ende mitbekommen, dann tut’s die App.“
Casimir erinnerte an das Bilderbuch von Lane Smith „Das ist ein Buch“, (Hanser), für das sich der Übersetzer Michael Krüger leidenschaftlich einsetzt. Darin werden Vor- und Nachteile von Alt und Neu aufgezeigt. Am Ende ist klar, in das Papierbuch vertieft man sich auf besondere Weise. „Für mich sind alle Apps noch völlig unbefriedigend. Aus ästhetischer Sicht sind das für mich gar keine Bücher. Und dass die Eltern da nicht mehr mitlesen müssen, ist besonders problematisch. Das Dilemma besteht doch darin, dass sich im Gerät, egal ob iPad oder Smartphone, viele weitere Inhalte befinden. Die machen Neugierig. Die Kinder wollen erforschen, was das Teil noch so hergibt. Und schon entsteht eine Konkurrenzsituation.“ Dass es Buch-Apps in einem solchen Umfeld schwer haben, dass andere Programme, die eigentlich von den Eltern genutzt werden, die Kinder vom „Lesen“ der Buch-App ablenken, beobachtet auch Borgstedt. 

Die neue technisch motivierte Medienkonkurrenz

Michael Ritter wirft einen Blick in die Vergangenheit. An der historischen Entwicklung des Bilderbuchs könne man gut die so genannten Hybridisierungstendenzen festmachen: „Das Bilderbuch des 19. Jahrhunderts ist sehr stark geprägt vom Theater: In den Bilderbüchern von damals erkennt man die Theaterbühne, die mittlere Distanz dazu und die Akteure. Anfang des 20. Jahrhunderts kommt der Film auf und bringt neue Sehgewohnheiten in das Medium Bilderbuch, das sich daraufhin stark verändert. Und heute beeinflusst immer stärker Multimedia das Bilderbuch.“ Ritter untersucht zudem die Lesesituationen: „Wichtig ist, dass es Bezugspersonen gibt, Lesevermittler. Ein Dritter muss im Bunde sein. Ich glaube, dass dieses Dreigestirn auch mit einer App gut funktionieren kann. Die Anschlusskommunikation ist jedenfalls sehr wichtig. Es braucht jemanden, der leiblich da ist.“
Die Diskussion warf viele Fragen auf, u.a. ob man den dritten Leser in die Apps digital einbauen kann. Aus dem Publikum kam am Ende ein leidenschaftliches Plädoyer für das Lesen unabhängig vom Medium: „Allein Lesen schafft vernetztes Denken. Die Buchbranche sollte wesentlich offensiver agieren!“