Antiquariat

"Liquidität ist wichtiger als Rendite." Ein Gespräch mit Marc Daniel Kretzer

8. Oktober 2013
Redaktion Börsenblatt
Marc Daniel Kretzer (geb. 1980) führt im mittelhessischen Kirchhain-Stausebach seit 2004 ein Versandantiquariat mit inzwischen sieben festen und zwei freien Mitarbeitern. Am 12. Oktober eröffnet das Antiquariat Kretzer ein Ladengeschäft in der Marburger Oberstadt (Barfüßerstraße 18) – Grund genug für einen Besuch in Kirchhain.

Herr Kretzer, was treibt Sie in diesen für den stationären Buchhandel nicht einfachen Zeiten zur Eröffnung eines Ladens?

Marc Daniel Kretzer: Da kommt Verschiedenes zusammen. Der Laden ist zum einen ein Statement gegen den allgemeinen Trend zur Virtualisierung des Antiquariatsbuchhandels, in dem wir neben neueren und preiswerten Büchern mit Schwerpunkt Geisteswissenschaften wertvolle und ausgesuchte Werke aus sechs Jahrhunderten als Zeugnisse einer lebendigen europäischen Kulturtradition präsentieren und zu deren physischer Präsenz in der Öffentlichkeit wir beitragen möchten. Zum anderen ist der Laden als komplementäre Ergänzung zu unserem Versandgeschäft gedacht. Wir sind mit dem Versandgeschäft sehr zufrieden, aber es gibt viele Bücher, die sich wesentlich sinnvoller über den Ladentisch als über den Postversand verkaufen lassen. Auch erhalten wir hier im Büro kaum Kundenbesuch, und es kommen auch nur selten Leute vorbei, um uns Bücher anzubieten. Auch eine Präsenz in der alten Bildungs- und Universitätsstadt Marburg ist für uns reizvoll. Die Übernahme des Ladenlokals war eine gute Gelegenheit, zumal der Vormieter der Räumlichkeiten ebenfalls buchhändlerisch tätig war, der Standort von uns also nicht komplett neu aufgebaut werden muss. Das Geschäft in der Fußgängerzone liegt in guter Lauflage, in der Nachbarschaft gibt es verschiedene interessante, inhabergeführte Fachgeschäfte und Cafés. Trotzdem ist es ein Experiment gegen den Trend, und wir sind sehr gespannt, ob es gelingt. Der Aufwand ist jetzt kurz vor der Eröffnung, die wir an diesem Samstag, den 12. Oktober ab 11 Uhr in Marburg mit Kunden, Freunden und Kollegen feiern wollen, beträchtlich, ebenso waren nicht unbeträchtliche Investitionen in Einrichtung und Sortiment erforderlich. Aber wenn wir nicht optimistisch wären, hätten wir damit gar nicht erst angefangen.


Was werden die Kunden in Ihrem Laden finden?

Das Angebot des Ladens richtet sich unter anderem an die vielen Marburger Studenten und Universitätsangehörigen sowie an ein bildungsbürgerliches städtisches Publikum, aber auch an Touristen. Wir bieten gebrauchte und antiquarische Bücher aus den Gebieten Geisteswissenschaften und Literatur an. Unser Hauptsachgebiet Theologie wird im Laden aber keine Hauptrolle spielen, sondern nur eine Geisteswissenschaft neben den anderen sein. Hinzu kommen Hörbücher, ein Bestellservice für neue Bücher, den wir mit dem Großhändler KNV zusammen realisieren, Postkarten, Filme und Geschenke rund um das Thema Buch. Wir sind sehr zuversichtlich, mit diesem Angebot eine breite Käuferschicht anzusprechen.

Wer wird den Laden hauptsächlich betreuen?

Die meiste Zeit werde ich im Wechsel mit meinem Kollegen Rouven Maid im Laden sein. Die Randzeiten und am Wochenende werden wir uns mit weiteren Mitarbeitern abwechseln. Wir verlegen außerdem unsere Buchhaltung in den hinteren Büroraum, damit möglichst oft ein zweiter Mitarbeiter vor Ort ist, der bei den langen Ladenöffnungszeiten von 11 bis 19 Uhr an sechs Wochentagen zwischendurch einspringen kann, auch zur Entlastung bei größerem Kundenandrang. Alles Weitere wird man sehen.

Man hört oft, dass ein Laden auch Chancen für den Ankauf bietet?

Auch für den Ankauf versprechen wir uns eine komplementäre Ergänzung, in der doppelten Hoffnung, dass wir im Laden für das Versandgeschäft und umgekehrt auf unseren Ankaufsreisen für das Ladengeschäft mit ankaufen können. Vom Laden versprechen wir uns neue Ankaufsmöglichkeiten, die sich über ein reines Versandgeschäft so nicht ergeben. Wenn Menschen in den Laden in Marburg kommen, um uns gebrauchte Bücher oder Büchersammlungen zum Kauf anzubieten, ist das ganz in unserem Sinn. Für das Versandgeschäft pflegen wir weiterhin das Gebiet der Theologie mit dem Ziel, ein möglichst breites Titelangebot bereitzuhalten. Das geht ganz wesentlich über bestehende Kundenkontakte. Zugleich weiten wir unser Angebot deutlich über die Theologie hinaus aus, vor allem in den ganzen Bereich der Literatur und Geisteswissenschaften, hier besonders Philosophie, Altphilologie und Geschichte. Aber das ist nicht als Grenze gemeint. Viele Kollegen wissen inzwischen, dass wir auch ganze Lagerbestände übernehmen; das haben wir bereits mehrfach getan. Unser bislang größter Ankauf umfasste circa 35.000 Bücher. Wir reisen viel durch die Republik, um Nachschub zu beschaffen und nicht 'trocken' zu fallen.

Wie umfangreich ist Ihr Lagerbestand in Kirchhain aktuell?

Es handelt sich derzeit schätzungsweise um etwa 90.000 bis 100.000 Bücher, von denen derzeit knapp zwei Drittel aktiv online stehen dürften. Eine genauere Angabe ist schwierig, weil die Bücher sich über mehrere Außenlager verteilen und teilweise noch unbearbeitet sind. Aber viel wichtiger als die Zahl der gelagerten Bücher ist natürlich die Verkaufsquote.

Welche Verkaufsplattformen im Netz spielen für Sie eine Rolle?

Unser Ziel ist es, überall dort präsent zu sein, wo Kunden nach Büchern suchen. Daher sind wir derzeit auf 15 Portalen vertreten. Für uns ist das ZVAB nach wie vor am wichtigsten. Es folgen Amazon und, vor allem für den internationalen Markt, Abebooks. Es ist mir voll bewusst, dass damit der Löwenanteil unserer Umsätze durch Amazon und seine Töchterfirmen generiert wird. Es ist auch ein Ziel des Ladens, diese Abhängigkeit zu verringern. Aber auch über unsere eigene Homepage beziehungsweise Antiquariat.de erzielen wir gute Umsätze. Booklooker ist für uns nicht so wichtig, Ebay spielt eine geringe Rolle. Insgesamt kommen wir in diesem Jahr auf 700 bis 750 Kundensendungen monatlich, Tendenz steigend.

Sie gehören der Genossenschaft der Internet-Antiquare (GIAQ) an und sind Mitglied im Verband Deutscher Antiquare; wie halten Sie es gegenwärtig mit ehrenamtlichem Engagement?

Im Augenblick stehen meine Familie und der Ausbau des Antiquariats im Vordergrund. Meine Frau und ich haben vier Mädels im Alter von eins bis acht. Da bleibt wenig Zeit. In der GIAQ habe ich mich von 2008 an drei Jahre lang im Vorstand betätigt und dann bei einer turnusgemäßen Neuwahl nicht wieder für das Amt kandidiert. Ich finde die Projekte der GIAQ wichtig und unser Antiquariat profitiert wirtschaftlich davon. Die Genossenschaft hat noch nicht alles Wünschbare umgesetzt, aber ich finde es beachtlich, was die Genossenschaft in den letzten zwölf Jahren erreicht hat. Dahinter steht ein enormes Engagement der Ehrenamtlichen. An der Mitgliedschaft im Verband liegt mir etwas, allerdings wirkt sie sich nur wenig auf mein Geschäft aus. Bislang traten wir mit Verbandssignet auch nicht in Erscheinung; im neuen Laden wird das Verbandslogo aber zu sehen sein.

Welche Aktivitäten im Hinblick auf Antiquariatsmessen planen Sie?

Wir stellen auf der Ludwigsburger Antiquaria im Januar 2014 aus und teilen uns dort einen Stand mit Daniela Kromp aus München. Mit unserem bisherigen Schwerpunkt der Theologie war ich skeptisch an der Leipziger Messe teilzunehmen. Für die Verbandsmesse in Stuttgart bräuchten wir Ware, die uns im Augenblick so nicht Verfügung steht beziehungsweise die wir nicht über Monate für eine Messe zurückhalten wollen. Bei der Frankfurter Antiquariatsmesse weiß ich, dass einige Kollegen sehr zufrieden waren und sind, aber wir haben nach drei Durchläufen mit schlechten Ergebnissen die Teilnahme wieder eingestellt. Das hängt aber sicher auch mit den Büchern zusammen, die wir angeboten haben. Wenn das Ladenantiquariat gut läuft, möchten wir unser Engagement auf den Messen gerne wieder ausweiten. Dazu ist es aber erforderlich, stärker als bisher, kontinuierlich einen substantiellen Bestand an wertvollen und messefähigen Büchern aufzubauen.

Beteiligen Sie sich am Gemeinschaftskatalog der GIAQ 2013?

Nein, in diesem Jahr beteiligen wir uns nicht daran. Der neue Laden kostet viel Energie, da ist nicht alles gleichzeitig zu schaffen. Generell bin ich für Kataloge, auch für Gemeinschaftskataloge, sehr offen. Aber hier gilt ähnliches wie für die Messen: Das Geschäft mit Katalogen bedarf ebenfalls der kontinuierlichen Pflege und eines entsprechenden Buchbestands. Daran müssen wir noch stärker arbeiten. Das gilt auch für den Gemeinschaftskatalog "7 Antiquare", den wir mit sechs Kollegen 2013 zum sechsten Mal verschickt haben.

Welche Pläne haben Sie für die nächsten Monate?

Im Vordergrund stehen der Laden, welcher sich bis Ende 2014 bewähren soll, und der allgemeine Ausbau unseres Antiquariats. Möglicherweise werden wir in Zukunft noch weitere Mitarbeiter brauchen, um die ganze Arbeit zu bewältigen. Ich bin skeptisch, ob es da genügt, mit Aushilfen zu operieren, sowohl im Versandgeschäft als auch im Laden brauchen wir gute Mitarbeiter. Auch für die Mitarbeitergewinnung verspreche ich mir Vorteile durch den Marburger Standort.

Seit 2004 hatten wir jedes Jahr ein zweistelliges Umsatzwachstum und ich hoffe, dass uns das auch dieses Jahr und 2014 wieder gelingen wird, auch wenn ich davon ausgehe, dass die Zuwachsrate langsam abflachen wird. Seit zwei Jahren müssen wir bilanzieren, weil wir die Gewinnschwelle überschritten hatten. Jetzt nehmen wir in Blick, auch die Umsatzschwelle zu erreichen. Dafür ist es meines Erachtens entscheidend, weiterhin interessante, hochwertige, gut sortierte und gerne auch große Bibliotheken und Sammlungen zu übernehmen. Mittelfristig wird es wohl notwendig, eine eigene geeignete Immobilie zu finden und umzuziehen. Die Lagerbestände verteilen sich jetzt auf mehrere Außenlager und wachsen weiter an. Die Lager sollten wir dann zusammenführen um kürzere Wege zu haben. Auch ist die Anfahrtssituation in unseren Ortsteil Stausebach für die Mitarbeiter, die auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen sind, nicht günstig. Einzelne Immobilien haben wir auch schon besichtigt, aber die richtige war noch nicht dabei. Bei alldem folge ich dem Grundsatz, den mein Schwiegervater, Diplomökonom seines Zeichens, mir als ökonomisch Ungebildeten zu Beginn meiner Tätigkeit mitgegeben hat: "Liquidität ist wichtiger als Rendite." Das musste er mir erst noch erklären, aber seitdem achte ich darauf, immer genug Wasser unterm Kiel zu haben.


Und die Zusammenarbeit mit dem Kollegen Otto W. Plocher? Wie ist es zu dieser Allianz gekommen?

Ich habe Otto W. Plocher vor Jahren durch das Netz kennengelernt, vor allem durch die von Wolfgang Höfs geführte E-Mail-Runde, aber auch durch seinen Blog. Angefangen hat es als lose Zusammenarbeit mit Buchaufnahmen über die räumliche Distanz. Inzwischen hat sich unsere Zusammenarbeit deutlich intensiviert, er ist seit 2012 einer von zwei freien Mitarbeitern des Antiquariats, und der Know-how-Zuwachs für das Antiquariat Kretzer durch ihn ist immens, besonders im Bereich der Alten Drucke und des bibliophilen Antiquariats. Wir überlegen, wie wir unsere Zusammenarbeit auf eine festere Basis stellen können. Es ist mir sehr daran gelegen, eine solche antiquarische Kapazität wie Otto W. Plocher hier zu halten.


Wie sehen Sie die Zukunft des Antiquariats allgemein?

Sollte ich eine Prognose abgeben, würde ich vorsichtig vermuten, dass die Zahl der Marktteilnehmer nicht mehr signifikant ansteigen und dass es weitere Umwälzungen geben wird. Für uns bin ich aus mehreren Gründen durchaus optimistisch. Zum einen wurden in Deutschland vermutlich noch nie so viele gebrauchte Bücher wie heute verkauft. Zum anderen gehe ich davon aus, dass die Zahl der Sammler und Bücherkäufer nicht schneller abnimmt als die der fähigen Antiquare. Wenn hier ein Fenster entsteht, sehe ich durchaus Chancen für uns. Und außerdem hat unser Antiquariat inzwischen eine Größe erreicht, mit der wir sehr handlungsfähig sind und zugleich bietet diese Masse eigene Dispositionsmöglichkeiten. Dieses Gewerbe ist Jahrhunderte alt. Ich persönlich bin ganz zuversichtlich, dass auch in Jahrzehnten noch leistungsfähige Antiquariate gebraucht werden.

Die Fragen stellte Björn Biester.