"Robert Musil ist für manches berühmt geworden. Als Literaturkritiker hat er nicht reüssiert. Dabei hätte es ihm aus eigener Sicht an einer entscheidenden Grundvoraussetzung dafür nicht gefehlt: „Ich mag nicht Bücher lesen“, notiert er im Jahr 1926, als ihn ökonomische Zwänge ins Rezensionswesen treiben. Musils Satz nimmt dem Vorwurf, es handle sich bei den Literaturkritikern um übellaunige Ignoranten, ironisch die Spitze, ohne deshalb ganz ohne autobiografische Wahrheit zu sein. Und er ist in seinem Gestus meilenweit von dem entfernt, was unter philosophischen Gesichtspunkten von Gottsched und Schlegel über Alfred Kerr bis herauf in die Gegenwart für die Essenz von Literaturkritik gehalten wurde. Sagen wir: Robert Musil plädiert für Gelassenheit. Dieser Gelassenheit mag ein kakanisches Element innewohnen, ein Element der Vergeblichkeit vielleicht, das Österreichs Rezensenten auch später noch imprägniert zu haben scheint. Tatsächlich hat dieses Land seit Längerem keinen Großkritiker mehr hervorgebracht. Auch Daniela Strigl ist keine Großkritikerin - und damit sind wir schon mitten in dem, was hier zu loben ist.
Wenn 2011 im Heft 1 des 122. Jahrgangs der Neuen Rundschau etliche Literaturkritiker ihre eigenen Thesen zu Walter Benjamins berufsethischem Grundsatzkatalog „Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen“ formulierten, dann ging es dabei erwartungsgemäß nicht ganz unpathetisch zu. „Der Kritiker darf frappieren – das Publikum wird es ihm danken“, schreibt ein Kritiker. Ich weiß nicht mehr genau, wann ich zuletzt frappiert habe, oder ob das Frappieren Daniela Strigls Sache ist. Ihre Antwort auf Walter Benjamin jedenfalls sticht in ihrer Musil’schen Gelassenheit aus den übrigen Einlassungen hervor. So formuliert Walter Benjamin seine erste These: „Der Kritiker ist Stratege im Literaturkampf“. Daniela Strigl kontert: „Der Kritiker ist Platzanweiser im Circus Maximus des Literaturbetriebs. Nicht mehr. Eher weniger.“ Das „eher weniger“ ist hier symptomatisch, weil es von Realitätsnähe ebenso kündet wie von Bescheidenheit. Das meiste von dem, was andere Kritiker im Bauchladen eingebildeter Bedeutsamkeit vor sich hertragen, ist Frau Strigl fremd. Mit einem dagegen nimmt sie es sehr genau: mit der Genauigkeit.
Stichwort Bedeutsamkeit: Es gibt ja Kritiker, die meinen, sie wären als solche Anwälte des Lesers. Mir ist nicht ganz klar, gegen wen oder was der Leser angesichts von Literatur verteidigt werden müsste. Ich fühle mich also nicht als Anwalt in diesem Sinn, und ich glaube bei Daniela Strigl ist es auch so. In den Gerichtsbarkeiten des sogenannten Literaturbetriebs gibt es ohnehin mancherlei Instanzen, die den Leser vor den Zumutungen der Literatur schützen. Es gibt Bestsellerlisten, die ihn vor dem bewahren, das kaum einer gelesen hat, und es gibt ihr weitaus edleres, ja sogar ehrenvolles Äquivalent: die Buchpreislisten. In den Medien, selbst in den Feuilletons findet sich mittlerweile einiges dem ästhetischen Hauptstrom verpflichtetes Servicepersonal und natürlich auch immer öfter in den Buchhandlungen. Alles das bewahrt den Leser im Übermaß vor dem, was ihm allzu sperrig gegenübertreten könnte.
Wer sich die langen Publikationslisten von Daniela Strigl anschaut, der wird sehen, dass es hier eine Konstante gibt. Gerade dem Schwierigen, dem Vergessenen und Abgelegenen hat sie sich wieder und wieder gewidmet. Sie hat mitgeholfen, den nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend vergessenen Lyriker Theodor Kramer wieder zu entdecken, sie hat gerade für eine ganz exquisite Ausgabe der Werke Walter Buchebners gesorgt, sie hat sich um kleine Literaturen wie jene Elfriede Gerstls gekümmert oder junge Autoren unter die Fittiche ihrer Kritik genommen. Einen Clemens J. Setz etwa, als er noch nicht auf fast jede Buchpreisliste gesetzt war.
Was eine Zumutung ist und was nicht, sagt Daniela Strigl in ihren Kritiken ganz klar. Dass es sich bei der feministischen Attitüde von Elfriede Jelinek und Marlene Streeruwitz mitunter auch um ein bequemes ideologisches Möbel vom Aufregungsgrad etwa einer Stehlampe handeln kann, wird ebenso deutlich angesprochen wie das Phänomen aufgedoppelter Karrieren. Nein, aus der ehemaligen Burgschauspielerin Erika Pluhar muss nicht unbedingt auch noch eine Schriftstellerin werden.
„Echte Polemik nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet“, schreibt Walter Benjamin in seinen „Thesen“. Daniela Strigl beherrscht die Polemik auch, aber niemals ist sie kannibalistisch. Allenfalls pointiert. Über das Debüt einer jungen österreichischen Autorin heißt es knapp: „Der selige Torberg hätte als rot-weiß-roter Sprachpurist mit dieser Dame keinen noch so kleinen Schwarzen getrunken.“ Die Rezension zu Javier Marías drittem Band der Trilogie „Dein Gesicht morgen“ beginnt mit dem trockenen Satz: „Ein Roman, der um ein Drittel zu lang ist, lässt sich schwerlich noch als geglückt bezeichnen.“ So ist es mit den Büchern. Oft sind sie einfach zu dick. Auch „Die Abenteuer des Joel Spazierer“, der neue Roman von Michael Köhlmeier, ist Frau Strigl eindeutig zu lang. Und dabei nicht einmal komplex.
Es gibt, wem sagt man das hier, auch komplexe Bücher. Und Daniela Strigl vergisst nicht, dass Literaturkritik – wie das Lesen überhaupt – eine hermeneutische Parallelaktion ist. Man versucht, das zu verstehen, was man eben gerade liest, und man versucht auch, sich beim Lesen selbst zu verstehen. Letzteres kann zu delikaten Kränkungen führen, etwa wenn man erkennen muss, dass man gerade weit unter der Augenhöhe eines Autors auf seinen über alle Maßen anspielungsreichen Roman schaut. Nur wer einen souveränen Umgang mit sich selbst pflegt, bleibt bei solchen Überforderungen ungekränkt, verbiestert nicht zum Dogmatiker und will sich nicht die gesamte Literatur so zurechtschneidern, bis sie endlich zu ihm passt. Das wäre ja auch ein Phänomen bei manchem Kritiker. Dass ihm sein pädagogisches Pathos den Blick vernebelt, dass er vor lauter Prinzipien nicht mehr das Prinzipielle sieht: Literatur soll das wollen dürfen, was sie wollen will. Nur können muss sie es auch. Weder hat sie partout avantgardistisch-sprachkritisch zu sein, noch realistisch, weder wäre eine Gegenwartsentrückheit ein Gütesiegel noch ein möglichst zeitnahes Schreiben.
Es gibt bei Daniela Strigls Kritiken ein Element, das sie vielleicht vor aller Routine, vor Dogmatik bewahrt. Es ist das ein Witz, der aus einer jedenfalls nicht gespielten Neugier kommt. Wenn diese österreichische Kritikerin ihren Sachverstand spielen lässt, dann immer auch unter den Auspizien des Hausverstands. Nicht zuletzt darin mag die intellektuelle Street Credibility und ihre beneidenswert große Popularität Strigls begründet liegen. Niemals ist das Niveau ihrer Kritiken abgehoben – es ist auf eine Weise angehoben, dass es dem Buch wie dem Leser gleichermaßen gerecht wird.
Niemand weiß mehr wirklich zu sagen, wie lange Daniela Strigl schon in der Jury des Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs sitzt, man hat aber zwingend das Gefühl, dass sich in ihrem Fall mediales Format und physiognomische Präsenz aufs Beste verbünden. Wie bei ihren geschriebenen Kritiken agiert sie vor (wie es so schön heißt) laufender Kamera aus der Etappe. Ihre argumentativer Weg nimmt selten Umwege über die große Theorie, um auf den Punkt zu kommen. Ihr Witz scheint manchmal sogar noch schneller zu sein als sie selbst, und diese leise Dissonanz zwischen der Gemächlichkeit ihrer Erscheinung (wir sind befreundet, ich darf das in aller Zuneigung sagen) und der Plötzlichkeit ihrer Ideen hat einen telegenen Reiz, dem man sich schwer entziehen kann.