Beim Fußball nennt man das eine Konzessionsentscheidung. Man könnte auch von ausgleichender Gerechtigkeit sprechen. Vor einem Jahr war Wolfgang Herrndorf bereits mit seinem fulminanten, mit den Genres des Jugendbuchs und der Road Novel spielenden Roman „Tschick" für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert gewesen und als Favorit gehandelt worden. Nun hat die Jury ihre zweite Chance genutzt und den in Berlin lebenden, an einem Gehirntumor erkrankten Autor für seinen im Herbst herausgekommenen Roman „Sand" ausgezeichnet. Er konnte sich damit gegen Sherko Fatah, Anna Katharina Hahn, Jens Sparschuh und Thomas von Steinaecker durchsetzen.
Als eine „Vanitas-Parabel" beschrieb Jurorin Ingeborg Harms das Buch, in dem ein Mann auf der Suche nach seiner eigenen Geschichte und Vergangenheit in das Szenario eines Agententhrillers gerät. „Sand" handele, so Johanna Adorján in ihrer Laudatio, „von der Sinnlosigkeit jeden Tuns und von der Vergeblichkeit". Trotz dieser düsteren Seite, begeistere der Roman durch seine Komik. Man folge dem Erzähler gern. Zu behaupten, dieses Buch sei „erwachsener" als sein Vorgänger, würde allerdings seine Eigenart, seine Andersartigkeit verkennen, so Adorján. Wolfgang Herrndorf konnte den Preis nicht selbst entgegennehmen, verfolgte die Zeremonie zu Hause als Live-Stream im Internet. Geschickt hatte er stattdessen Robert Koall, der im Namen Herrndorfs einen Satz verlas, der in „Sand" eine wichtige Rolle spielt: „Die Sonne geht immer hinter der Düne unter, die dir gerade am nächsten ist."
Während der angenehm dezent inszenierten, eher nüchternen Preisverleihung stand die Sonne über der großen Glaskuppel der Leipziger Messe. Hier hatte sich der Literaturbetrieb nun schon zum achten Mal zu einem der Höhepunkte der Buchmesse zusammengefunden, ein Treffpunkt, an dem nicht nur Wetten auf die Preisträger abgeschlossen werden, sondern auch das Gemurmel des Betriebs gut vernehmbar ist: ein gesellschaftliches Ereignis, das zum Austausch von Neuigkeiten, zu internem Geplauder und Klatsch einlädt.
Bei den Nominierungen war in diesem Jahr besonders etwas auffällig, das für Juryvorsitzende Verena Auffermann den Leipziger Buchpreis charakterisiert: Offenheit und Vielfalt. Tatsächlich fanden sehr unterschiedliche Bücher ihren Weg auf die Shortlists der verschiedenen Kategorien.
Im Bereich Übersetzung wurde – wenig überraschend - Christina Viragh ausgezeichnet. Sie hat Péter Nádasz imposanten 1700-Seiten-Roman „Parallelgeschichten“ aus dem Ungarischen ins Deutsche gebracht. Eine Meisterleistung, wie die Jury befand, denn diese „ungarische Geschichte der Empfindsamkeit“ (Eberhard Falcke) sei eine Form synthetischer Literatur, die Vergangenes und Gegenwärtiges, Gesagtes und Verschwiegenes auf faszinierende Weise miteinander in Schwingung versetze. Jede Person, so Laudator Martin Ebel, habe ihren eigenen Klang in diesem „grandiosen Sprachorchester“. Die in Ungarn geborene Übersetzerin und Schriftstellerin Christina Viragh habe dieses Orchester auch im Deutschen zum Klingen gebracht.