"Stella" von Takis Würger

"Neue Geschichtsdarstellungen" und mediale Aufschreie

2. Dezember 2019
Redaktion Börsenblatt
Ein Fortsetzungsabdruck im Börsenblatt, der Sie inspirieren könnte: Wie wäre es mit einem Skandal-Bücher-Tisch in Ihrer Buchhandlung? Clemens Ottawa hat die öffentlichen Diskussionen von 61 "Skandalbüchern" nachgezeichnet, zehn daraus lesen Sie hier!

Dass mit der Nazi-Diktatur im fiktionalen Bereich immer große Aufmerksamkeit und Polarisierung einher geht, mag vielleicht noch die beiden Musical-Produzenten Max Bialystock (Zero Mostel) und Leo Bloom (Gene Wilder) in Mel Brooks’ kongenialer Filmsatire The Producers – Frühling für Hitler verwundert haben, heute ist es ein probates Mittel, um sich ins Gespräch zu bringen. Dies könnte sich auch Takis Würger gesagt haben, als er mit der Arbeit an seinem Roman Stella begann. Stella Goldschlag (1922–1994), die reale Vorlage des Romans, war eine sogenannte »Greiferin« gewesen, eine Berliner Jüdin, die Anfang der 1940er Jahre, nach schwerer Folter und unter der Androhung, man werde ihre Eltern deportieren, mit der Gestapo zu kollaborieren begann. Fortan denunzierte sie in Berlin untergetauchte Juden und Jüdinnen. Sie verschaffte sich zunächst deren Vertrauen und meldete sie daraufhin.

Von etwa 300 Fällen ist die Rede. 300 Menschen, die Goldschlag in den Tod schickte, und sie tat es auch noch, als ihre Eltern schon längst im Vernichtungslager Auschwitz umgekommen waren. Zwar soll sie ab diesem Zeitpunkt auch einigen Untergetauchten geholfen haben, dennoch verbachte sie nach dem Krieg zehn Jahre in SBZ- und DDR-Haft. Nach dem Gefängnis konvertierte sie zum Katholizismus und lebte unter falschem Namen. Ihre Tochter, die nach Israel zog, brach mit ihr, da Stella Goldschlag bekennend antisemitisch eingestellt war.

1994 sprang sie aus dem Fenster ihrer Freiburger Wohnung. Ob ihr Selbstmord mit ihrer bereits 1956 diagnostizierten schweren Persönlichkeitsstörung oder aber mit dem ein Jahr zuvor erschienen Buch ihres in die USA emigrierten ehemaligen Schulkollegen Peter Wyden (1923–1998) zusammenhing – man wird es nicht klären können. Wydens Buch wurde 2019 unter dem Titel Stella Goldschlag – Eine wahre Geschichte neu aufgelegt. Es wurde ein auf Fakten basierendes, ambivalentes Bild einer Frau skizziert, deren tatsächliches Leben schon Stoff genug für eine literarische Biografie gewesen wäre.

Die Betonung liegt auf »wäre«, denn leider, so werfen es jedenfalls die Kritiker Takis Würger vor, verkommt dessen Geschichte einerseits zu einer trivialen Liebesgeschichte und hat es der Autor andererseits nicht so genau mit der Faktenlage genommen. Der Aufschrei in großen Teilen der deutschen Medienlandschaft war enorm, als im Januar 2019 das Buch Stella des jungen Journalisten und Autors Takis Würger im renommierten Hanser Verlag erschien. Würger hatte die reale Lebensgeschichte der Stella Goldschlag mit der fiktiven Liebesgeschichte zum jungen Schweizer Friedrich garniert.

Man mag hier in der Personenkonstellation vielleicht an Bernhard Schlinks Der Vorleser (1995) erinnert werden, wo sich der Jugendliche Michael Berg in die wesentlich ältere Hanna Schmitz verliebt, einer Analphabetin, der er in gemeinsamen Stunden vorliest und von der sich später herausstellen sollte, dass sie eine skrupellose Wärterin eines Außenlagers von Auschwitz gewesen war. Der Unterschied allerdings: In Würgers Fall regnete es fast durchwegs Kritikerhäme.

Da schrieb der österreichische Falter etwa: »Takis Würger vermischt in dem Roman Stella eine wahre Geschichte und eine erfundene Love-Story zu lauwarmen Nazikitsch.« Da meinte die Neue Zürcher Zeitung: »Ausgerechnet ein Edelverlag veröffentlicht diesen Nazikitsch, ein Machwerk der übelsten Sorte«, und da schrieb die Zeit: »Würgers Roman wolle leider nichts, außer krass und massenkompatibel geil sein«.

Lag der Unterschied in der Rezeption zum Vorleser darin, dass Schlink sich nicht auf eine reale Lebensgeschichte bezog (auch wenn zumindest Michael Berg, der junge Ich-Erzähler, Züge des Autors besitzt)? Dreizehn Jahre zuvor war schon Jonathan Littell mit ähnlichen Vorwürfen von der Presse konfrontiert worden (siehe Kapitel, S. 198): Man warf Würger rasch eine unseriöse, oberflächliche und teilweise sogar falsche Tatsachenrecherche vor – Anschuldigungen, die Würger umgehend von sich wies – und die Verwalterin von Stella Goldschlags Persönlichkeitsrechten, Birgit Kroh, die Witwe des Journalisten Ferdinand Kroh, dem Stella Goldschlag noch Zeit ihres Lebens diese Rechte übertragen hatte, setzte alsbald ihren Anwalt ein, da sie im Buch Denunziationsfälle gegen Goldschlag wähnte.

Es wurde vom Hanser Verlag die Schwärzung der unredlichen Passagen gefordert, was dieser prompt ablehnte und woraufhin er auf die Freiheit der Literatur verwies. Und auch im Falle dieses Romans sorgten der Verriss und die Debatte für übermäßig gut besuchte Lesungen des Autors und einen erfreulichen Umsatz für den Verlag.

Literarisches Genre: Roman
Herkunftsland: Deutschland

Dieser Text stammt aus dem Buch "Skandal. Die provokantesten Bücher der Literaturgeschichte! von Clemens Ottawa. 

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