Porträt der Alfred-Kerr-Preisträgerin Marie Schmidt

Literatur im Leben

21. Februar 2019
Redaktion Börsenblatt
Marie Schmidt, Feuilletonredakteurin der „Süddeutschen Zeitung“, erhält den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik 2019. Die vom Börsenblatt vergebene Auszeichnung würdigt literaturkritisches Schaffen auf kontinuierlich hohem Niveau. Porträt einer engagierten Leserin und Literaturkritikerin.

Marie Schmidt schlägt als Treffpunkt das Baader Café im Münchner Glockenbachviertel vor. Dieses Café besuchte sie schon vor Jahren oft, um sich von ihrer einsamen Forschungsarbeit zu Ezra Pound zu erholen. Auf den Spuren des amerikanischen Dichters war Schmidt bis nach Connecticut gereist, um an der dortigen Yale University das Pound-Archiv zu studieren. Leidenschaftlich erzählt sie von ihrem akademischen Intermezzo, von der Idee, über Pound zu promovieren, von „jener Lücke im Lebenslauf – ja, war geil“, von ihrem wilden Lesen, von Pound, dem Mussolini-Fan, der in Pisa in einem Lager in einem Metallkäfig wochenlang Wind und Wetter ausgesetzt wurde, „wie in Guantanamo“. „Irgendwann schreibe ich noch meine Pound-Promotion“, schmunzelt Schmidt. Damals wollte sie aber nicht noch ein viertes Jahr damit verbringen, ein Buch zu schreiben, „das dann kaum jemand lesen wird“, sondern nahm das Angebot der „Zeit“ an und ging für vier Jahre nach Hamburg. Hier erwarb sie sich das Renommee, Novitäten in der Bücherflut zu finden, die ihre Kollegen und Star-Kritiker übersahen: „Ich lese jeweils nicht nur das zu besprechende Buch, sondern auch Literatur darum herum“, erklärt Schmidt.

Geboren wurde das Marie Schmidt 1983 in München. Die vielen Bücherregale im Haushalt – beide Eltern Lehrer - erregten früh Maries Neugier. „Ich hatte alles, was bürgerliche Kinder so brauchen, viel Erich Kästner oder auch Otfried Preußler“. Der Vater wollte sie mit tschechischer Literatur vertraut machen, die Mutter mit Klassikern. „Meine Geschwister aus der ersten Ehe meines Vaters waren schon erwachsen und ausgezogen, ich war das einzige Kind im Haus und hatte keine andere Chance, als auch zu lesen.“
Noch vor dem Abitur begann sie für die Jugendseite im Lokalteil der Süddeutschen Zeitung in Unterhaching zu schreiben, gern auch für die wöchentliche Glosse mit dem Titel „Was wäre wenn …“. Ihre Mutter musste sich deswegen manches Mal im Lehrerzimmer vor ihren Kollegen rechtfertigen, insbesondere als die Zeitung mit Maries Glosse „Was wäre, wenn mir die unbefleckte Empfängnis passiert“ auf dem Tisch lag. Da war nicht nur im Lehrerzimmer, sondern in vielen Teilen des katholischen Bayern einiges los.

Lieblingsort Buchhandlung

Schon als Jugendliche begann Schmidt die elterlichen Lektüre-Empfehlungen auszuschlagen und entdeckte Paul Auster für sich: „Ich las die Manhattan-Trilogie, ohne etwas zu verstehen. Aber es hat sich gut angefühlt“, erinnert sie sich. Dem Klappentext entnahm sie, dass Auster Komparatistik studiert hatte, was ihr Berufsziel beeinflusste. So begann sie 2002 ihr Studium an der Ludwig-Maximilians-Universität, das sie mit einer Magisterarbeit 2007 über Holocaust-Erinnerungsliteratur abschloss. Sie analysierte Patrick Modianos „Dora Bruder“ lange, bevor er den Nobelpreis erhielt. Auf die Frage, wie sie auf Modiano gekommen war, sagt sie: „Chaotisches Lesen“. Sich intuitiv in der Literaturlandschaft zu bewegen, war für sie etwas Besonders, so waren Buchhandlungen ein Lieblingsort – allerdings weniger wegen der Beratung, sondern mehr wegen der Inspiration durch das  Sortiment.

Klare Kriterien

Nach dem Studium folgte ein Praktikum im Kulturteil der Abendzeitung und zwei Jahre Journalistenschule in München. Praktika führten Schmidt in den Lokalteil der SZ und zur „Zeit“. Florian Illies, der damals schon Bestsellerautor war, leitete da gerade mit Jens Jessen zusammen das Feuilleton, und man „ließ mich schreiben“. Als Schmidt 25 war, starb ihr Vater, „ein großer Leser“. Damals gewann sie die Überzeugung, dass sie noch einmal eine Auszeit nehmen sollte, „damit ich nicht von 25 bis 75 immer dieselben Dinge schreibe“. Aus dem Wunsch, sich „in eine Bibliothek zu setzen und open End zu lesen“ wurde das akademische Pound-Intermezzo. Bei der „Zeit“ hatte man volles Verständnis, dass sie nicht sofort angestellt werden wollte. „Meine Achtung ist so vielleicht bei den „Zeit“-Redakteuren gestiegen“, lächelt sie. In Hamburg empfing man sie danach mit offen Armen. Schmidt begann sich konkretere Gedanken über Literaturkritik zu machen: „Ich beobachte ein Verbreitung kulinarischer Kritik. Es heißt, jeder lese anders, das Buch könne auf verschiedenste Weise verstanden werden. Das glaube ich nicht. Ich glaube an klare Kriterien. Bücher entwickeln ihre eigenen Aporien, ihre eigene Logik“.

Literatur vor Ort

Schmidt ist überzeugt, dass sich durch die Internetumgebung die Aufmerksamkeit der Leser gravierend verändert. Inzwischen, seit Juli 2018, arbeitet sie bei der SZ und beginnt, ihre Beobachtungen umzusetzen. Mit der täglichen Literaturseite möchte sie Zugänge zu Büchern auch über Themen und Theorien eröffnen. Sie beleuchtet Fragen, die wesentlich sind. „Der schiere Fakt, dass ein Buch erschienen ist, stellt nicht mehr die Nachricht dar“, erklärt Schmidt. Viele Leser nehmen gute Bücher nicht wahr, „weil sie nicht wissen, wie sehr darin Fragen verhandelt werden, die sie selbst betreffen“. Das aber sollen die Literaturseiten auch leisten: Bücher so vorstellen, dass man merkt, welch interessante Antworten sie geben, nicht als Kommentar zu tagesaktuellen Fragen, sondern als Antworten beispielsweise „auf den Identitätsterror sowohl der großen als auch der sozialen Medien.“

Sie will die Genres im Blatt ausweiten: „Literatur ist nicht nur der Bücherstapel, der immer größer wird, sondern findet in verschiedenen Lebensbereichen statt, an denen man teilnehmen kann.“ Zum Beispiel nahm Schmidt vor zwei Jahren an der Jury für den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis in Braunschweig teil, im Anschluss an die Verleihung wurde eine lange Nacht der Literatur mit vielen Lesungen auf verschiedenen Bühnen des Stadttheaters angeboten. Das nehme zu: Literatur vor Ort mit Publikum – Zuhören, Sehen, Erleben. Auch solches dezentrale Engagement in Deutschland für Literatur – „interessanter als in Frankreich, wo sich fast alles auf Paris fokussiert“ – soll in den Literaturseiten mehr Beachtung finden.

Zur Person
Marie Schmidt wurde 1983 in München geboren, studierte im Hauptfach Vergleichende Literaturwissenschaften sowie Europäische Ethnologie und Interkulturelle Kommunikation an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Nach der Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule München und einer abgebrochenen Promotionsarbeit über Ezra Pound arbeitete sie als Redakteurin vier Jahre bei der „Zeit“ in Hamburg. Seit Juli 2018 ist sie Literaturredakteurin bei der „Süddeutschen Zeitung“.

Zur Auszeichnung
Der vom Fachmagazin Börsenblatt gestiftete Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ist mit 5.000 Euro dotiert und wird im Rahmen der Leipziger Buchmesse verliehen. 
Preisverleihung: Donnerstag, 21. März 2019, um 14:00 Uhr, im Veranstaltungsforum Die Unabhängigen (Halle 5, Stand H 309). Die Laudatio hält die Journalistin, Kritikerin und Autorin Susanne Mayer.