Interview mit Michi Strausfeld, Expertin für lateinamerikanische Literatur

"Der Kontinent brodelt vor Kreativität"

30. Dezember 2015
von Börsenblatt
Warum ist der Boom vorbei? Wird es eine Renaissance der lateinamerikanischen Literatur geben? Konzentrieren sich deutsche Verlage vielleicht gar zu stark auf den anglo-amerikanischen Sprachraum? Fragen an Michi Strausfeld, die über 40 Jahre spanischsprachige Literatur nach Deutschland vermittelt hat - und sich Ende des Jahres zurückzieht. 

Der Lateinamerika-Boom im deutschen Buchhandel ist schon längere Zeit vorbei. Woran liegt das?
Deutschland hat den „Boom“ zunächst deutlich verspätet und dann in knapp 20 Jahren kompakt rezipiert. Diese Überväter (García Márquez, Cortázar, Vargas Llosa, Fuentes) haben ihre „Kinder“ in den Hintergrund gedrängt, quasi weggebissen; die Enkel, die in der Mehrzahl in Megacities aufgewachsen sind, bieten keinen „exotischen“ Erzählstoff mehr, den das Publikum geliebt hat, dafür aber packende Romane, die unsere globalisierte Welt spiegeln. Sie müssen sich ein neues Lesepublikum erobern, weitgehend ohne mediale Hilfe. Aber sie werden es schaffen, es wird immer wieder Überraschungserfolge geben, der Kontinent brodelt vor Kreativität.

Glauben Sie wirklich an eine Renaissance  der lateinamerikanischen Literatur? Sind Nachfolger für Gabriel Garcia Márquez, Julio Cortázar, Carlos Fuentes in Sicht?
Wer sind die Nachfolger von Grass, Böll, Camus, Faulkner? Jede Generation schreibt über die eigenen Erfahrungen und Träume. Das gilt auch für die jungen Lateinamerikaner, die formal und inhaltlich neue Wege erkunden. Mir fallen sogleich ein halbes Dutzend Namen ein, die  heute  herausragende Bücher publiziert haben: Yuri Herrera, Juan Gabriel Vásquez, Maria Sonia Cristoff, Samantha Schweblin, Horacio Castellanos Moya ...

Konzentrieren sich deutsche Verlage zu stark auf den anglo-amerikanischen Sprachraum und verlieren sie dabei andere Regionen aus dem Blick? Welche Tendenzen sehen Sie aktuell?
Die Statistik gibt eindeutige Auskunft: die dominante, ja erdrückende Zahl der Übersetzungen in der Belletristik stammt aus dem anglo-amerikanischen Bereich (ca. 70 Prozent) Ein Produkt aus den Creative-Writing-Schools, stromlinienförmig verfasst, hat mehr Chancen auf eine Übersetzung als ein exzellenter, möglicherweise nicht perfekter Roman aus Lateinamerika, der aber eine spannende Geschichte erzählt. Das gilt auch für Romane aus Indien, die nicht von Expats (also im Ausland lebenden Indern) geschrieben werden oder von Afrikanern, die nicht in den USA leben, etc.  Viele Weltsprachen (z.B. Hindi) bleiben terra incognita –  ein Luxus in unserer globalisierten Welt, den wir uns vielleicht gar nicht leisten können.

Sie haben über 40 Jahre spanischsprachige Literatur nach Deutschland vermittelt. Ende des Jahres ziehen sich zurück. Mit welchen Plänen?
Ich möchte einen Essay über Lateinamerika und seine wunderbare Literatur schreiben, die ich möchte ein großes ästhetisches Lesevergnügen ist und uns zugleich den Kontinent nahebringt, seine Faszination spürbar macht. Dabei hilft mir das umfangreiche Archiv aus diesen mehr als 40 Jahren. Und versuchen, persönliche Begegnungen und Freundschaften mit den großen Autoren wiederzugeben, quasi hineinzuschmuggeln.

Michi Strausfeld, 1945 geboren, verantwortete von 1974 und 2008 das spanisch-lateinamerikanische Verlagsprogramm des Suhrkamp-Verlags (mehr als 400 Publikationen von rund 100 Autoren) im Jahr 2008 wechselte sie zum S. Fischer Verlag.

Interview:  Holger Heimann