Wissenschaft lebt von der Auseinandersetzung mittels der besseren Argumente – es gibt nicht "die" Wissenschaft. Unabhängig davon, wie man Zukunftsforschung als Wissenschaft betreiben kann, erleben wir häufig, dass Prophezeiungen sich als Wissenschaft ausgeben: Dann wird es entweder lächerlich, irrelevant oder gefährlich.
Gewiss ist es mehr als ratsam, sich als Mensch, als Firma, als Branche, als Staat auf die eigene Zukunft vorzubereiten. Kein Wunder daher, dass ein Großthema wie "Künstliche Intelligenz (KI)" in Aufsätzen, Büchern, Gesprächen, Kongressen auftaucht, weil es ebenso viel Euphorie wie Abwehr hervorruft. Der Artikel "KI im Verlagswesen – Welche Arbeitsplätze sind ersetzbar?" der Website "Verlage der Zukunft" (zitiert auf boersenblatt.net am 30.01.2019) ist ein Beispiel für die Verbreitung spektakulärer Szenarien. Dort heißt es: "Wahrscheinlich sieht die Zukunft so aus, dass Inhalte und Informationen (Fachinformationen, News, Belletristik) nicht mehr von Menschen hergestellt werden." Statt sich von solchem Kassandra-Geraune verunsichern zu lassen, sollten wir besser kompetenten Experten zuhören und uns zugleich als aufgeklärte Demokraten gegen kritiklose Hinnahme vermeintlich objektiver Entwicklungen engagieren. Folgende Anmerkungen sind aus meiner Sicht zu dieser "Prognose" zu machen:
- Derartige Aussagen über die Zukunft mit dem Etikett "wahrscheinlich" zu versehen, widerspricht jeglicher seriöser Forschung.
- Wer Belletristik unter den Begriffen "Inhalte und Informationen" subsummiert, hat das Wesen der Literatur nicht verstanden.
- Die Frage "cui bono?" wird nicht gestellt: Wer hat Interesse daran, qualifizierte Menschen in der beschriebenen Weise durch Maschinen zu ersetzen?
- Die Sinnhaftigkeit des skizzierten Wandels wird überhaupt nicht thematisiert.
"Kleine Fehler, die wir korrigieren"
Der Linguist, Philosoph und KI-Praktiker Reinhard Karger sagt: "Selten geht es bei KI aktuell um das Faktische. Kaum um das kurzfristig Mögliche, das mittelfristig Erwartbare, wenig um konkrete Chancen und Anwendungen, oft um überzogene Erwartungen oder obskure Vorbehalte. Leser allerdings fühlen sich existentiell bedroht, die Gesellschaft wird zunehmend nervös. Das ist nicht notwendig!" (buchreport-online am 30.01.2019).
Reinhard K. Sprenger kritisiert in einem erhellenden Beitrag in der "Neuen Zürcher Zeitung" vom 26.01.2019 die Kassandras dieser Zeit, die von KI schwadronieren, während wir allenfalls über maschinelle Intelligenz (MI) verfügen. Hier wird es – auch für Verlage – eine Menge hochinteressanter Anwendungen geben, wenn es um die Erfassung und Auswertungen von Daten geht: "MI kann zudem extrem schnell optimieren: Muster erkennen". Aber die Schlussfolgerung daraus ist für Sprenger eine ganz andere: "Weil wir Fehler machen, haben wir als Spezies über Jahrmillionen überlebt. ... Unser Denken und Handeln folgt keinem Algorithmus, sondern passt sich an, ist lernfähig, vorausschauend, macht dabei immer wieder kleine Fehler, die wir korrigieren. Deshalb sind wir schlecht ausrechenbar."
Nach der Logik der Äußerung auf der Website einer Institution mit dem anmaßenden Namen "Verlage der Zukunft" wäre es doch am besten, man ersetzte auch die Kunden=Leser durch Maschinen. Excusez, das ist ein unangemessener Kassandra-Ruf meinerseits, denn es wird ja bescheiden eingeräumt: "Noch ist man in der Entwicklung nötiger KIs nicht sonderlich weit." Spektakuläre Aufsätzchen dieser Art befördern weder eine sinnvolle Auseinandersetzung mit KI noch die zukunftssichernde Arbeit der Verlage und Buchhandlungen.
Ulrich Störiko-Blume
1. "Wahrscheinlich" ist ein großes Wort, aber das gilt in beiden Richtungen. "Seriöse Forschung" hat noch vor Kurzem geglaubt, dass es für eine Maschine auf absehbare Zeit nicht möglich sei, ein komplexes Spiel wie "Go" zu beherrschen. AlphaGo Zero von Google hat sich dieses Spiel 2017 ohne jeglichen menschlichen Input selber beigebracht und war nach drei Tagen(!) besser als der beste menschliche Spieler. KI entwickelt sich nichtlinear. Was Maschinen in zehn oder zwanzig Jahren können, lässt sich heute nicht einmal ansatzweise voraussagen, auch nicht von "seriöser Forschung".
2. Sachinformationen sind für KIs leichter zu synthetisieren als Unterhaltungslektüre, aber das heißt noch lange nicht, dass sie das Romaneschreiben nicht auch lernen werden. Wann, weiß niemand, aber es könnte schneller gehen, als mir als Romanautor das lieb ist.
3. "Cui bono" ist nun wirklich sehr leicht zu beantworten: Wenn Amazon, Google und Facebook es nicht machen, dann die heute noch unbekannten Unternehmen, die diese Giganten bis dahin vom Markt verdrängt haben.
4. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit hat den technischen Fortschritt bis jetzt leider nicht sonderlich beeinflusst. Sonst hätten wir keine Atomkraftwerke, keine massive atomare Überrüstung und keinen Klimawandel. Ich verstehe den Beitrag auf "Verlage der Zukunft" auch nicht so, dass der oder die AutorIn sich eine Automatisierung der Buchbranche wünscht. Es handelt sich lediglich um Spekulationen darüber, welche Bereiche betroffen sein könnten.
Reinhard Sprenger, so sehr ich ihn schätze, liegt übrigens komplett daneben, wenn er glaubt, Maschinen könnten nicht aus ihren Fehlern lernen (siehe Beispiel AlphaGo Zero). Es ist gerade das Wesen moderner KI, dass sie lernfähig ist, sich anpasst, keinem starren Algorithmus folgt. "Leicht ausrechenbar" sind neuronale Netze ebenfalls nicht - warum z.B. AlphaGo Zero einen bestimmten Zug macht, wissen auch seine Entwickler nicht.
Ich bin übrigens kein Kassandra-Rufer, auch wenn man das nach Lektüre einiger meiner Romane denken könnte. Meiner Ansicht nach ist unser Problem nicht künstliche Intelligenz, sondern menschliche Dummheit. Nur leider verstärken "intelligente" Maschinen die Auswirkungen dieser Dummheit noch, da sind wir uns bestimmt einig.