Nominierungen zum Deutschen Jugendliteraturpreis

Die besten Kinder- und Jugendbücher stehen fest

21. März 2024
von Börsenblatt

Vom modernen Märchen über Comics bis zum Coming-of-Age-Roman: Drei unabhängige Jurys haben 29 Titel des Jahres 2023 für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2024 nominiert – ein Titel wurde sowohl von der Kritiker- als auch von der Jugendjury gewählt. Hier sehen Sie alle Nominierungen inklusive der Jurybegründungen:

Regal zum Jugendliteraturpreis in der Messe-Kinderbuchhandlung von Hugendubel 

Bei dem Titel handelt es sich um Anja Reumschüssels Roman "Über den Dächern von Jerusalem" (Carlsen), der die Geschichte des Nahostkonflikts von den Anfängen des Staates Israel bis in die Gegenwart erzählt. Insgesamt zeigt sich auf die Nominierungsliste die Vielfalt der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur, neben Titel aus dem Polnischen stehen Bücher aus Island, kleine Verlage sind ebenso vertreten wie große Häuser. Zusätzlich hat eine dritte Jury in der Sparte "Neue Talente" drei Übersetzerinnnen nominiert.

Sparte Bilderbuch: Die Nominierten der Kritikerjury

Ab 4:

Baek Hee Na: "Mondeis" Aus dem Koreanischen von Nina Jung. Märchenwald Verlag, 13,99 €

Begründung der Jury: Die koreanische Künstlerin Baek Hee Na lässt in Mondeis eine moderne Märchenwelt entstehen. In einer heißen Sommernacht beginnt der Mond zu schmelzen. Lediglich Oma Holle bemerkt das Tropfen und fängt den wertvollen Mondschmelz ein. Als die allüberall surrenden Ventilatoren die Stromversorgung ihres großen Mehrfamilienhauses zum Erliegen bringen, führt das Leuchten des Mondschmelzes die Bewohner:innen zu Oma Holle, die diesen solidarisch teilt. Kurz darauf tauchen zwei Mondhüter auf und beklagen den Verlust ihres Lebensraums. Oma Holle erschrickt über die Wirkung ihres Handelns und findet einen kreativphantasievollen Weg, um den Mond wieder an den Himmel zu zaubern. Der märchenhaft-zarte Charme der Erzählung wird durch die experimentellen Illustrationen anmutig unterstrichen. Vor dem Hintergrund einer dreidimensionalen, puppenstubenhaften Mehrfamilienhauskulisse agieren bleistiftgezeichnete, zweidimensionale Tierfiguren aus Papier mit wirkungsstarker Gestik und Mimik. Durch filmisch inszenierte Lichteffekte und Perspektiven wird der Geschichte fotorealistische Lebendigkeit verliehen. Den auf ein koreanisches Volksmärchen zurückgehenden Text des Bilderbuchs hat Nina Jung sprach- und kultursensibel ins Deutsche übertragen.

Ab 4:

Tiny Fisscher (Text) Herma Starreveld (Ill.): "Vogel ist tot". Aus dem Niederländischen von Nicola Stuart, Jacoby & Stuart, 16 €

Begründung der Jury: Farbenfroh collagierte Vögel unterhalten sich mit schlichten Worten über einen toten Gefährten. Zunächst stellt sich die Frage, ob er wirklich tot ist oder bloß schläft. Es folgen Trauer und ein kleiner Streit über gute und schlechte Erinnerungen an den Toten. Auf seiner Beerdigung wird mit Gesang und Reden Abschied von ihm genommen. Danach suchen die Hinterbliebenen beim Verzehr von Würmern und Kuchen Trost, finden diesen aber auch in der Erkenntnis, dass der Verstorbene für immer in ihren Herzen bleiben wird. Verschiedene Zugänge zum Thema Tod werden neutral und zugleich mit viel Humor zu veranschaulicht. Die Vogelfiguren sind in einem Patchwork aus Stoff und bemalten Papierfetzen individuell gestaltet. Tiny Fischer hat ihnen passend zu ihrer je eigenen Skurrilität ganz unterschiedliche Gefühlsäußerungen in den Schnabel gelegt. In Form einer Groteske kommen damit kultur-unspezifische Rituale im Umgang mit Endlichkeit und Trauerverarbeitung eindrücklich zur Darstellung. Die Komik und Unverblümtheit, mit der sich dieses Bilderbuch dem Thema Tod nähert, sind bestechend und befreiend. Auf niederschwellige Weise entstehen so vielschichtige Gesprächsanlässe.

Ab 4:

Donna Lambo-Weidner (Text,) Carla Haslbauer (Ill.): "Es gibt keine Drachen in diesem Buch". Aus dem Englischen von Elena Rittinghausen, NordSüd, 17 €

Begründung der Jury: Es ist die Erzählung einer hintergründig-phantastischen Leugnung, die Donna Lambo-Weidner und Carla Haslbauer hier entfalten. Die spielfreudige Geschichte ist angelegt auf Interaktionen wie Drehen, Schütteln sowie Entdecken der Widersprüchlichkeit zwischen Text und Bild. Sie feiert die überbordende Kraft der Phantasie und nutzt das Bilderbuch in seiner ganzen Materialität für das Auserzählen eines fröhlichen Versteck- und Entdeckungsspiels. In den mit dynamischen Farbstiftstrichen gezeichneten, großformatigen, bunten Bildern gibt es viel aufzuspüren und zu ergründen: Ein von erfindungsreichen Kindern angerichtetes Spielchaos beherrscht alle Räume eines von vielfältigem Miteinander kündenden Mehrfamilienhauses. Nebst leuchtend orangefarbigen Drachen, von denen entgegen der Titel-Ansage auf jeder Seite mindestens einer zu finden ist, sind hierin zahlreiche Elemente und Details kindlicher Erfahrungswelt aufgehoben. Die vielen Fragen des von Elena Rittinghausen übersetzten Textes fordern die Widerlegung der Abwesenheitsbehauptung immer aufs Neue frisch und augenzwinkernd heraus. Ein metafiktionales Buch-im-Buch-Spiel, bei dem es schließlich sogar eine Menge unterschiedlicher Drachen regnet, ist gut begreifbar in dieses Entdeckungs- und Widerlegungsabenteuer eingebunden.

Ab 5:

Pija Lindenbaum: "Der erste Schritt". Aus dem Schwedischen von Jana Hemer, Klett Kinderbuch, 18 €

Begründung der Jury: Vor farbenprächtiger Internatskulisse entfaltet Der erste Schritt eine Parabel über eine Revolte gegen Begrenzungen und soziale Ungleichheit. Die in Frage zu stellende Ordnung bewacht eine Vorsteherin, die mit dem hintersinnigen Wort „Schäfin“ bezeichnet ist. In Gestalt eines Hundes und mit Trillerpfeife gibt sie einer Kinderschar vor, was zu tun ist. Markantes Symbol der Willkür ist eine das Gelände begrenzende weiße Linie, die nicht zu überschreiten ist. Obwohl alle Kinder Topfhaarschnitt tragen, unterscheiden sie sich maßgeblich. Die Privilegierten in blauen Roben dürfen lernen, spielen und ruhen, während die mit schmutziggrauen Kitteln zu Bediensteten Erklärten dienen, putzen und räumen müssen. Nach und nach verliert die kindliche Erzählerfigur den in der Übersetzung von Jana Hemer gut getroffenen lakonischen „So-ist-es-eben“-Ton ihres Berichts. Die Brutalität der Verhältnisse wird erkannt und Veränderung eingeleitet. Auf einen Rollentausch folgen weitere Macht auflösende Taten der Kinder. Sie bringen die „Schäfin“ an den Rand der Erschöpfung und die Kinder – endlich – über die Linie. Die Mitendeckung des Fragwürdigen und die Mitfreude an entdeckten Handlungsmöglichkeiten kann für Leser:innen dieser politischen Bilderbuchparabel zu einer wichtigen demokratiebildenden Erfahrung werden

Ab 5:

Marc Veerkamp (Text), Jeska Verstegen (Ill.): "Bär ist nicht allein". Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf, Freies Geistesleben, 16 €

Begründung der Jury: Bär ist nicht allein, er spielt Klavier für die Tiere des Waldes. Als er müde wird, fordern sie begierig: „Mehr!“ Bär gerät in innere Konflikte und fährt schließlich mit Bärengebrüll aus der Haut. Einzig das Zebra bleibt sanft und geduldig bei ihm. Aber ist es das, was Bär braucht? Will er nicht einfach allein sein? Die Lösung des Dilemmas findet sich in direktem und übertragenem Sinne „im Buch“. Mit knappen Worten fängt Marc Veerkamp sowohl die Zerrissenheit des Bären als auch das Drängen der Waldtiere ein. Der gewinnende Ton des Zebras spiegelt dessen Besonnenheit, die Entspannung bringt. Rolf Erdorf hat diesen Sprachduktus gelungen ins Deutsche übersetzt. Die Waldwelt, die Jeska Verstegen mit ihren Bildern entstehen lässt, lädt zum entdeckenden Verweilen ein. Die Formen der Tierarten und Figuren werden vielfach und detailreich variiert. Punktuell wird die in Schwarz, Grau und Weiß gehaltene Bildsprache durch akzentuierenden Einsatz der Farbe Rot ergänzt. Blüten und Blätter, Schmetterlingsflügel, die Sonne oder einzelne Tiere werden rot hervorgehoben – und immer das Buch des Zebras. Größe, Hintergründe und Zeilenabstände lassen die Typografie zum miterzählenden Element werden, das nicht nur das Bärengebrüll zeichengewaltig in Szene setzt

Ab 6:

Mượn Thị Văn (Text), Victo Ngai (Ill.): "Wünsche". Aus dem Englischen von Petra Steuber, Horami, 19,95 €

Begründung der Jury: Mượn Thị Văn erzählt in nur 13 kurzen Sätzen von der Fluchterfahrung ihrer Familie aus Südvietnam. Sie tut dies, indem sie Dingen und Phänomenen der Fluchtumgebung personifizierende Wünsche zuschreibt. Die Tasche, die Uhr, der Pfad, das Boot, die See … Sie alle würden gerne der Flucht die Bedrohlichkeit nehmen. Victo Ngai hat die hohe poetische Verdichtung der prägnanten Sätze in farbstarken Bildern eindrücklich verstärkt. Die Reduzierung auf Exemplarisches und Wesentliches, die die Text- und Bildsprache gleichermaßen prägt, lässt mit zugänglicher Direktheit das Ausgeliefertsein von Menschen auf der Flucht erfahrbar werden. Was die 16 Doppelseiten des Bilderbuchs über die Erlebnisse eines Kindes erzählen, das mit seiner Mutter und zwei jüngeren Geschwistern sein Zuhause verlassen muss, bekommt eine raum- und zeitübergreifende universelle Dimension, die für Erwachsene und Kinder gleichermaßen berührend ist. Großvater und Hund müssen zurückgelassen werden, die Gefahren der Reise sind lebensbedrohlich, aber die Kraft des Wünschens trägt, bis helfende Hände da sind. Petra Steuber hat den 75 Wörter umfassenden Originaltext erzählstark ins Deutsche übertragen.

Sparte Kinderbuch: Die Nominierten der Kritikerjury

Ab 8:

Sid Sharp: "Der Wolfspelz". Aus dem Englischen von Alexandra Rak, NordSüd, 22 €

Begründung der Jury: Bellwidder Rückwelzer lebt allein in einem kleinen Haus am Waldrand. Er ist ein genügsames Schaf, das nicht viel mehr braucht zum Glücklichsein als ein paar saftige Brombeeren. Das Problem: Dort, wo sein Lieblingsessen wächst, ist es gefährlich, denn dort gibt es Wölfe. Doch Bellwidder hat eine Idee: Verkleidet als Wolf begibt er sich in den Wald, wo er prompt auf andere Wölfe trifft, die den Neuling interessiert in ihre Gemeinschaft einladen. Es kommt, wie es kommen muss: Die Täuschung fliegt auf und überraschende Konsequenzen treten ein. Durch die Umkehr des bekannten Motivs vom Wolf im Schafspelz hat Sid Sharp eine neue Fabel kreiert und in ausdrucksstark-bunten Aquarellen vor dunklem Hintergrund spannend in Szene gesetzt. Atmosphärisch dichte Doppelseitenbilder wechseln sich ab mit kleinschrittigen Einzelbildfolgen. Zusammen erzählen sie klar und eingängig von den Nöten und Ängsten, derentwegen wir uns hinter einer Tarnung verstecken. Und sie erzählen davon, wie befreiend es sein kann, nicht länger eine Rolle spielen zu müssen. Eine existenzielle Erfahrung, die auch schon jungen Leser:innen dieser von Alexandra Rak aus dem Englischen übersetzten Comic-Geschichte vertraut sein dürfte.

Ab 8:

Edward van de Vendel (Text), Anoush Elman (Text), Annet Schaap (Ill.): "Mischka". Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf, Thienemann, 15 €

Begründung der Jury: Die Familie der neunjährigen Roya hat nach gefahrvoller Flucht und zermürbendem Warten endlich ein Bleiberecht in den Niederlanden. In Sicherheit und im gerade bezogenen Haus eröffnen sich neue Perspektiven. Für die Ich-Erzählerin Roya soll von nun an unbedingt ein Haustier mit dazugehören. So zieht Mischka, das weißpuschelige Zwergkaninchen ein und wird zum Symbol der Hoffnung auf Geborgenheit. Bei Mischka kommt die Familie zusammen, verweilt und erzählt. Es sind Erinnerungserzählungen, die sichtbar machen, was für Roya bisher verborgen war. Weil sie noch zu klein war, als die Familie aus Afghanistan flüchten musste, hat sie keine eigenen Erinnerungen an diese schwere Zeit. Die Eltern und die drei älteren Brüder erzählen davon – für Mischka und Roya und nicht zuletzt für sich selbst. Das kleine Kaninchen wird zum Bindeglied zwischen dem Neuen und dem Vergangenen. Es macht Weichheit und Offenheit möglich, wo die Härte des Erlebten vieles verschlossen hat. Die Sanftheit des Erzählens vom Schweren, für die Rolf Erdorf einen sensiblen Übersetzungston gefunden hat, macht dieses Buch zu herausragender Kinderliteratur. Die ganzseitigen Illustrationen von Annet Schaap unterstreichen dies in Perspektive, Farbe und Strich

Ab 10:

Jenny Jägerfeld: "Best Bro Ever!" Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann, Urachhaus, 16 €

Begründung der Jury: Mit Wärme und Witz entfaltet Jenny Jägerfeld die Geschichte einer besonderen Freundschaft. Der elfjährige Ich-Erzähler Måns schildert temporeich, ironisch und zugleich sensibel seine Erfahrungen während eines Sommers in Malmö/Schweden. Im Skatepark lernt er den gleichaltrigen Mikkel kennen, den er für seine Coolness bewundert. Ein Skateunfall macht die beiden zu "Blutsbrüdern" und sie verbringen eine innige und erlebnisreiche Zeit. Als Mikkel entdeckt, dass Måns als Mädchen geboren wurde, ist ihre Freundschaft gefährdet. Der sensible trans Junge Måns muss – nicht zum ersten Mal – erleben, wie das Besondere seiner Identität für andere ein großes Thema ist. Nichts ist mehr selbstverständlich. Alles steht in Frage. Eine tiefe Einsicht in den Wert der Freundschaft lässt Måns kraftvoll um Mikkels Verständnis und Zuneigung ringen. Mit Erfolg. Unaufgeregt und klar zeigt dieser Kinderroman praktische Aspekte von Genderdiversität auf. Ehrlich und ohne Schnörkel wird gefragt: Was ist Wahrheit, was Lüge? Ist Verschweigen eine Lüge? Oder ist die eigentliche Lüge die Geschlechtsangabe im Pass? Die Figuren dieser empathischen Erzählung sind liebevoll-authentisch ausgearbeitet. Deren spezifischen Ton hat die Übersetzerin Susanne Dahmann gekonnt und ohne jegliche Anbiederung an die Jugendsprache wiedergegeben

Ab 10:

Stepha Quitterer (Text), Claudia Weikert (Ill.): "Pepe und der Oktopus auf der Flucht vor der Müllmafia". Gerstenberg, 20 €

Begründung der Jury: Der elfjährige Pepe wird Augenzeuge einer gewaltbereiten Jagd von Männern in Anzügen auf einen Oktopus. Die Männer gehören zu einer Gruppe skrupelloser Umweltausbeuter, die den Oktopus deshalb unschädlich machen wollen, weil er eine engagierte Mission hat: Er will die Menschen davon überzeugen, keinen Plastikmüll mehr zu produzieren. Aus der Zufallsbegegnung von Pepe und dem glibberigen Meeresbotschafter wird eine enge Freundschaft. Ein gemeinsamer Roadtrip führt sie temporeich vom Hamburger Hafen bis zum südchinesischen Meer. Dem Muster des Agententhrillers entsprechend, lauert ihnen die Müllmafia hier, da und dort mit immer neuen Schikanen auf. Da ist es ein Glück, dass den beiden an allen Orten tatkräftige Unterstützung zuteilwird. Unterschiedlichste Kinder- und auch Erwachsenenfiguren werden zu wirkungsstarken Helfer:innen, die sich auf je eigene Weise stark machen für Pepe, den Oktopus und den Umweltschutz. Das seitenstarke Buch ist von Anfang bis Ende ein echter Pageturner. Mit handlungstreibenden Einfällen von beeindruckender Originalität verhandelt Stepha Quitterer die gewichtigen Themen Umweltverschmutzung, Klimawandel und Müllvermeidung: zugänglich, wachrüttelnd und mit ganz eigenem Witz, den die Schwarz-Weiß-Zeichnungen von Claudia Weikert kongenial unterstreichen

Ab 11:

Hulda Sigrún Bjarnadóttir, Arndís Thórarinsdóttir: "12 Stockwerke. Mein unglaubliches Zuhause am Ende der Welt". Aus dem Isländischen von Gisa Marehn, Arena, 16 €

Begründung der Jury: Dagnys Freude ist groß: Zum ersten Mal reist die zwölfjährige Ich-Erzählerin mit ihrer Familie zur Großmutter auf eine kleine isländische Insel. Doch ihre Vorstellungen werden enttäuscht. Nicht nur die raue Natur und das wilde Klima sind wenig einladend, auch die rund 200 Insulaner:innen bringen Dagnys Familie wenig Gastfreundschaft entgegen. Zusammen leben sie im einzigen Gebäude der Insel, einem Hochhaus mit zwölf Stockwerken, wo die Großmutter als Hausmeisterin streng darauf achtet, dass alle sich nach Kräften einbringen und nützlich machen. Auch die neu Hinzugekommenen müssen Strom durch Radfahren produzieren, Parasiten bekämpfen, Kühe melken oder Kantinenmahlzeiten richten. Konsequent steht das Wohl aller über individuellen Interessen. Als Sabotageakte den Zusammenhalt der Hausgemeinschaft gefährden, muss Ich-Erzählerin Dagny den Verdacht von der eigenen Familie abwenden. Es ist ein skurriles Gedankenexperiment, das das isländischen Autorinnenduo einfallsreich und hintersinnig zu einer ebenso witzigen wie bewegenden Geschichte formt. In lebendiger und bildreicher Sprache, die von Gisa Marehn aus dem Isländischen übersetzt wurde, erzählt das Kinderbuch von den Herausforderungen des Zusammenlebens und davon wie unabdingbar Solidarität, Mitgefühl und Respekt für eine Gesellschaft sind.

Ab 11:

Saša Stanišić (Text), Regina Kehn (Ill.): "Wolf". Carlsen, 14 €

Begründung der Jury: Obwohl Ich-Erzähler Kemi ungern in der Natur ist, muss er in den Ferien ins Waldcamp. Er ist still. Ein Außenseiter. Mit im Camp ist Jörg, der mit seiner etwas nerdigen Begeisterung für Natur besonders auffällt. Während Kemi lediglich gleichgültige Ausgrenzung erfährt, handelt es sich bei dem, was Jörg erleben muss, um brutales Mobbing. Die beschämende Erleichterung des Verschonten lässt Kemi seine Beobachterrolle nur zögerlich verlassen. Ein Wolf, der ihm in variantenreichen Träumen begegnet, setzt seinen inneren Konflikt metaphorisch kraftvoll ins Bild. Aus der Perspektive eines Zuschauenden, der Mobbing geschehen lässt, ohne einzuschreiten, entfaltet Saša Stanišić ein ebenso spannendes wie bedrückendes Geschehen. Mit alltagsnaher Erzählsprache, die trotz der Schwere des Themas bestechend komisch und wortwitzig ist, werden die Leser:innen nah herangeführt an Kemis Gedanken zur Frage danach, was eigentlich zu Mobbing führt. Autor und Figur erweisen sich als scharfe Beobachter des Sozialen: Das vollständige Versagen des pädagogischen Personals wird genauso erfahrbar gemacht wie Kemis aus dem Nichtstun resultierende Scham. Regina Kehns scharf konturierte Illustrationen in Schwarz-Gelb lassen ein vielschichtiges Text-Bild-Geflecht entstehen und geben Impulse zum Nach- und Weiterdenken

Sparte Jugendbuch: Die Nominierten der Kritikerjury

Ab 12:

Lena Hach: "Fred und ich". Beltz & Gelberg, 12 €

Begründung der Jury: Die 13-jährige Anni erzählt aus ihrer Perspektive von den Ereignissen einer für sie besonderen Woche. Unverhofft lernt sie den neuen Jungen Fred in der Schlange beim Bäcker kennen. Ihre Wege kreuzen sich kurz darauf wieder bei Annis morgendlicher Runde Eisbaden am See. Warum Anni sich mit diesem täglichen Prozedere abzuhärten versucht, woher Fred plötzlich aufgetaucht ist und warum er zunächst auf keinen Fall mit baden will, wird in leisen Tönen nachgezeichnet. In die Geschichte des Kennenlernens sind wiederkehrende Motive fein eingewoben, die die beiden Figuren charakterisieren, aber auch ihre Schritte aufeinander betonen. Sprachlich sensibel, gekonnt balancierend auf dem schmalen Grat zwischen Humor und Ernsthaftigkeit, erzählt Lena Hach von einem Mädchen, das eine Sprache für einen erfahrenen Verlust sucht, und einem trans Jungen, der mit den von außen an ihn herangetragenen Erwartungen an eine Gender-Identität hadert. In der neuen Freundschaft und der vorsichtig angedeuteten Verliebtheit finden beide Figuren Halt. Die Autorin entwickelt all dies auf nur 95 Seiten in einer vermeintlich großen Leichtigkeit, die aber erzählerlisch nie verflacht.

Ab 12:

Kat Leyh: "Snapdragon". Aus dem Englischen von Matthias Wieland, Reprodukt, 20 €

Begründung der Jury: Der Comic beginnt rasant mit einem filmischen Einstieg, der bekannte Bilder aus Horrorfilmen und Märchen zitiert: Die Protagonistin Snapdragon landet in einem Wald vor einer bedrohlich wirkenden Hütte, in der eine alte Frau namens Jacks lebt. Schnell stellt sich aber heraus, dass von ihr keine Gefahr ausgeht und langsam freunden sich beide an. In dynamisch bunten Comic-Bildern und geschickt gesetzten Panelübergängen entwickelt sich eine phantastisch angehauchte Szenerie, in der Magie und Geister im Rahmen des Möglichen sind, ohne dass dies als großer Bruch markiert ist. Snapdragon wird von Jacks in das Hexendasein eingewiesen und deckt nach und nach deren Verwicklungen zu ihrer eigenen Großmutter auf. Ganz selbstverständlich, mit viel Humor und vielen gut gesetzten Details hat Kat Leyh einen diversen Erzählkosmos entworfen, in dem vielfältige Identitäts-, Familien- und Lebensmodelle möglich und präsent sind. Hinterfragt werden feste Zuschreibungen in Genderrollen, aber auch die Vorstellungen davon, wie Familie gestaltet sein kann. Den spritzigen Ton des Comics hat Matthias Wieland gelungen ins Deutsche übertragen.

Ab 13:

Eva Rottmann: "Kurz vor dem Rand". Jacoby & Stuart, 16 €

Begründung der Jury: Das Leben der 15-jährigen Arielle, genannt Ari, die mit ihrem Vater in einer Hochhaussiedlung lebt, besteht neben der Berufsausbildung zur Malerin hauptsächlich aus Skaten und dem Abhängen mit ihrer Clique. Als ein Neuer namens Tom im Skatepark auftaucht, werden Aris Welt und die Beziehungen in ihrem Leben neu definiert. Und dann möchte plötzlich auch Aris Mutter wieder Teil des Lebens ihrer Tochter werden. Geschrieben als Tagebuch in 15 Kapiteln, die sich jeweils einem Tag widmen, erhalten Lesende Einblick in die Fragilität des jugendlichen Erlebens, welches jederzeit vom metaphorischen Rand zu kippen droht. Dass bereits am Anfang vorweggenommen wird, dass die Geschichte kein gutes Ende nehmen wird, erzeugt einen dynamischen Erzählsog. In Ambivalenzen wird vom gemeinsamen Miteinander, aber auch von einer Verliebtheit jenseits von Klischees erzählt. Eva Rottmann lässt ihre Figuren in lebensnahen Diskursen zu aktuellen, existenziellen und philosophischen Themen zu Wort kommen. Ihre feinfühlige Sprache bewegt sich souverän und mit tiefgründiger Leichtigkeit im Kosmos der Adoleszenz. Ein herausragender Coming-of-Age-Roman, der Jugend in all ihren Facetten ernst nimmt.

Ab 14:

Alexander Kielland Krag: "Nur ein wenig Angst". Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, Arctis, 16 €

Begründung der Jury: Als der 17-jährige Cornelius plötzlich Panikattacken bekommt, in Gegenwart seiner Freunde aus dem Nichts Angst hat und auf dem Fußballfeld zusammenbricht, zerfällt sein bisheriges vermeintlich „normales“ Teenager-Leben . Alexander Kielland Krag erzählt in einem bewusst verknappten Stil aus der Perspektive des Jungen. Dessen bedrohliche Erfahrungen spiegeln sich in der Buchgestaltung auf teilweise fast leeren Seiten. Die Sprachlosigkeit, von der Cornelius oft überfallen wird, überträgt sich so unmittelbar in die äußere Form des Erzählens. Im fein abgestimmten Zusammenspiel von Form und Inhalt gelingt eine ebenso differenzierte wie berührende Ausgestaltung der Perspektiven. Eine wirkungsstarke Besonderheit der Sprache ist die eindringliche Wettermetaphorik, die in poetischer Verdichtung Corneliusʼ Erfahrungen verdeutlicht. Die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen, die Männlichkeitskonstruktionen vielschichtig durchzieht, wird sowohl im Miteinander von Cornelius und seinem Vater als auch innerhalb seines Freundeskreises vorsichtig aufgebrochen. Rast- und atemlos folgt die Erzählung dabei der Hauptfigur, die Hilfe sucht und diese schließlich auch annehmen kann. Gabriele Haefs hat den besonderen Ton des Romans zwischen Nüchternheit und Poetik behutsam und gekonnt ins Deutsche übertragen

Ab 14:

Anja Reumschüssel: "Über den Dächern von Jerusalem". Carlsen, 16 €

Begründung der Jury: Die 15-jährige Holocaust-Überlebende Tessa begegnet nach Kriegsende 1947 in Jerusalem dem gleichalten Palästinenser Mo, dessen Vater bei einem Terroranschlag getötet wurde. Ihre nächtlichen Diskussionen auf dem gemeinsamen Dach ihrer Häuser enden viel zu häufig ergebnislos. 75 Jahre später, im Jahr 2023, treffen die 18-jährige Wehrdienstleistende Anat und der Palästinenser Karim aufeinander. Deren Streitgespräche werden mit der gleichen Intensität weitergeführt. Dabei ahnen sie nicht, wie eng ihre Biografien miteinander verwoben sind. In vier miteinander verknüpften Lebenswegen, die auf zwei verschiedenen Zeitebenen angelegt sind, erzählt Anja Reumschüssel die Geschichte des Nahostkonfliktes von den Anfängen des Staates Israel bis hinein in die Gegenwart. Dramaturgisch geschickt kombiniert sind die historischen Fakten einer komplizierten Gemengelage mit den individuellen Schicksalen der Figuren. So werden Lesenden die oftmals abstrakten Zusammenhänge unmittelbar näher gebracht. Ohne Partei zu ergreifen oder zu bevormunden, gelingt es der Autorin, die Hintergründe und Komplexität eines scheinbar unlösbaren Konfliktes für Jugendliche erfahrbar und die Spirale der Gewalt nachvollziehbarer zu machen.

Ab 15:

Alex Wheatle: "Cane Warriors. Niemand ist frei, bis alle frei sind". Aus dem Englischen von Conny Lösch, Kunstmann, 20 €

Begründung der Jury: Der 14-jährige Sklave Moa muss im Jahr 1760 auf einer Zuckerrohrplantage in Jamaika unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten. Als ein Aufstand initiiert wird, fällt auch Moa die Entscheidung, sich den Zuckerrohrkriegern anzuschließen, den titelgebenden Cane Warriors. Dass er dabei einen brutalen Aufseher töten soll, bringt ihn in Gewissenskonflikte. Schonungslos verhandelt der Roman die Formen von körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt, die versklavte Personen erfuhren und beleuchtet zugleich mit großer Eindringlichkeit die moralischen Konflikte derer, die sich um ihres Lebens willen wehren mussten. Dabei werden das Aufbegehren gegen ein menschenverachtendes System sowie die inneren Kämpfe von Moa und seinen Mitstreitern differenziert und frei von Heldenpathos dargestellt. Die konsequente Einhaltung der Perspektive des 14-jährigen Ich-Erzählers macht diesen historischen Roman zu einem mitreißenden Jugendbuch, das Rassismus und Gewalt als Angriff auf individuelle Freiheit erlebbar werden lässt. Dass der Wunsch nach einem erfüllten Leben in Selbstbestimmtheit und Würde eine universelle Größe ist, spricht dabei aus jeder Zeile. Conny Lösch hat den Roman mit viel Gespür für die Drastik des Gesagten und Dargestellten aus dem Englischen übersetzt.

Sparte Sachbuch: Die Nominierten der Kritikerjury

Ab 5:

Roberta Gibson (Text), Anne Lambelet (Ill.): "Komm, wir entdecken ein Insekt! Den Krabbeltieren auf der Spur". Aus dem Englischen von Susanne Schmidt-Wussow, dtv, 16 €

Begründung der Jury: Junge Insekten-Forscher:innen werden hier nicht wie zu erwarten nach draußen geführt, sondern direkt in einen gut ausgestatteten Bastelraum. Doppelseite für Doppelseite wird am Tisch aus klassischem Bastel- und Recylingmaterial ein biologisch korrektes Insektenmodell gebaut. Der Text der spielerisch-kreativen Anleitung wurde von Susanne Schmidt-Wussow aus dem Englischen übersetzt. Er ist dialogisch formuliert und spricht die Leser:innen direkt an: „Wie soll sich das Insekt bewegen?“ „Wie soll unser Insekt sehen?“ „Und was ist mit Ohren?“ En passant werden Fachbegriffe wie „Mandibeln“ oder „Thorax“ erklärt, der Körperbau verschiedener Insektenarten wird erläutert und Analogien zu menschlichen Körpern werden betont. Die Illustratorin lässt es auf jeder Buchseite wimmeln, es gibt eine Menge verschiedenartiger kleiner Tiere zwischen Stiften, Werkzeugen und Papier zu entdecken. Die colorierten Zeichnungen sind dabei präzise in den naturwissenschaftlichen Details und veranschaulichen so die Herausforderungen für die Entwicklung des eigenen Modells. Das Gesamtkonzept ist ebenso einfallsreich wie ungewöhnlich. Es zeigt eindrücklich, dass Learning by Doing auch für die Insektenkunde greift.

Ab 8:

Katharina von der Gathen (Text), Anke Kuhl (Ill.): "Radieschen von unten. Das bunte Buch über den Tod für neugierige Kinder". Klett Kinderbuch, 22 €

Begründung der Jury: „Die letzte Fahrt antreten“, „über die Klinge springen“ oder „sein Ablaufdatum erreicht haben“ – bereits das Vorsatzpapier dieses Kindersachbuchs bereitet anschaulich auf das Thema vor, indem es vielfältige Formulierungen dafür listet, „das Zeitliche zu segnen“. Katharina von der Gathen und Anke Kuhl schreiben und illustrieren lebendig, einfühlsam, multiperspektivisch und informativ zu den Themen Sterben und Tod. Die kindliche Neugier auf den allzu oft tabuisierten Tod trifft im Text auf eine Fülle kulturgeschichtlich umfangreicher Informationen, die den Drahtseilakt zwischen tröstlichen Hinweisen zum Umgang mit Trauer und ungewöhnlich leichtfüßiger Wissensvermittlung, u.a. zu Totenversorgung, Krematorien oder Beerdigungszeremonien, virtuos bestehen. Humoristisch-frech durchziehen die Illustrationen das Buch und schaffen es auf einzigartige Weise – sachlich und zugleich augenzwinkernd – die Information zu vertiefen. Es sind befreiend witzige und mithin empowernde Zeichnungen, die zart, tröstend und aktivierend Ängste ernst nehmen und gleichzeitig den Mut transportieren, dass gesagt und gezeigt werden kann, was gesagt und gezeigt werden muss

Ab 10:

Michał Figura (Text), Aleksandra Mizielińska (Text/Ill.), Daniel Mizieliński (Text/Ill.): "Wölfe. Wahre Geschichten". Aus dem Polnischen von Marlena Breuer und Thomas Weiler, Moritz, 32 €

Begründung der Jury: In diesem Comic-Sachbuch folgen wir den Spuren von acht Wölfen – aus der Perspektive des Forschers Michał Figura und seiner Kolleg:innen. Jedes Kapitel fokussiert einen wichtigen Aspekt der Wolfs-Forschung. Wie werden die Signale der Senderhalsbänder verarbeitet? In welche Fallen tappen Wölfe? Wie wird das Familienleben eines Wolfsrudels erforscht? Wohin und warum gehen Wölfe auf Wanderschaft? Welche Konflikte zwischen wildlebenden Wölfen und Menschen gibt es? – Diese und viele weitere Fragen werden wissenschaftlich fundiert und überraschend spannend geklärt, wobei die emotionale Leidenschaft der Forschenden für ihr Forschungsobjekt leicht auf die Lesenden überspringt. Wesentlich für den unterhaltsamen Einblick in den Naturforschungs-Alltag ist das visuelle Konzept. Es setzt auf multiperspektivische Comic-Zeichnungen in Naturtönen, ergänzt durch Fotos und Karten. Sachinformationen des von Marlena Breuer und Thomas Weiler aus dem Polnischen übersetzten Buches werden mittels Storytelling dialogisch aufgebrochen. Entstanden ist eine umfangreiche Einführung in naturwissenschaftliches Arbeiten, die zugleich Grundlagen liefert für die Auseinandersetzung mit der Beziehung von Mensch und Wildnis

Ab 14:

Patrick Oberholzer: "Games. Auf den Spuren der Flüchtenden aus Afghanistan". Splitter, 22 €

Begründung der Jury: In seinem dokumentarischen Comic unternimmt Patrick Oberholzer den Versuch, zu erzählen, was kaum zu erzählen ist, und deshalb nur allzu leicht im Schwarz des Schweigens verbleibt: Es sind die traumatischen Erlebnisse von fünf Menschen aus Afghanistan, die in Text und Bild zur Darstellung kommen. Was Hamid, Muhammed, Ziya, Afsaneh und Nima dem Autor mündlich erzählt haben von ihren Erlebnissen vor, während und nach ihrer Flucht, zeigen die thematisch gegliederten ComicSequenzen des Buches. Sie werden angereichert und gerahmt von Infografiken und -texten, die sachlich fundiert Auskunft zu vielen Fragen geben: Aus welchen Gründen flüchten Menschen aus Afghanistan? Wie lässt sich eine Flucht organisieren und wieviel kostet sie? Was genau sind eigentlich „Schlepper“? Was geschieht an unterschiedlichen Ländergrenzen? Was versteht man unter den so genannten Hotspots in Griechenland? Wie funktioniert ein Asylverfahren? Das Zusammenspiel aus Sachinformationen und Erlebnis-Berichten lässt ein Buch entstehen, das ins Licht setzt, was zu oft im Schatten verbleibt: Flucht und Migration sind physisch und psychisch eine so immense wie unmenschliche Belastung, dass deren Beschreibung die Grenzen des Sagbaren sprengt.

Ab 14:

Maria Zimmermann: "Anders nicht falsch". Kommode, 25 €

Begründung der Jury: Den Satz „Aber du wirkst so normal …“ nimmt Maria Zimmermann zum Anlass, in Anders nicht falsch von ihrem Leben im Autistischen Spektrum zu erzählen. Das „A“ in diesem Begriff schreibt sie programmatisch groß zum Zeichen einer identitären Aneignung. Die Vieldimensionalität dieser Identität kommt in elf eindrücklichen Kapiteln erfahrungsbasiert zur Darstellung. Auf aktuellem Forschungsstand kommen definitorische Aspekte wie u.a. Enthusiasmen, kognitive Fähigkeiten, sensorische Sensibilität, Gefühle und Motorik in einer Weise zur Sprache, die Sachwissen und eigene Erfahrung miteinander verbindet. Knallig bunte Bilder verleihen den zugleich informierenden und emotionalisierenden Texten zusätzliche Kraft und eine ganz besondere Augenscheinlichkeit des Gemeinten. Autistische Wahrnehmung wird zugänglich und elementar auf den Punkt gebracht, in einer Weise, die unmissverständlich klar macht, dass es im Zusammenhang mit Autismus eben dies nicht geben kann: Den einen abschließenden Punkt hinter einer Erklärung, die alles erschöpfend und abschließend erläutert hat. Die Own-VoicePerspektive, die Persönliches offenlegt und den Weg der eigenen Erkenntnis teilt, macht dieses besondere Sachbuch zu einem Wissensfundus über Neurodiversität und zu einem engagierten Plädoyer für Vielfalt

Ab 16:

Barbara Yelin: "Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung". Herausgegeben von Alexander Korb und Charlotte Schallié, Reprodukt, 29 €

Begründung der Jury: „Emmi, welche Farbe hat die Erinnerung?“ – „Welche Farbe? Schwarz.“ Barbara Yelins dokumentarische Graphic Novel erzählt, wie es wirklich ist, Erinnerungen weiterzugeben, wenn sie so schmerzhaft sind, dass sie jahrzehntelang lediglich in den Blackout, ins Schwarz, führen. Yelin zeichnet dieses traumatische Schwarz immer wieder hinein in die Lebenslinie einer starken Frau, der Jüdin Emmie Arbel, die als vierjähriges Mädchen mit ihrer Familie im KZ Ravensbrück interniert war. Die Bilder ihrer Erinnerungen sind das Ergebnis von über 200 Gesprächen und Begegnungen der beiden Frauen; sie werden ergänzt von kontextualisierenden Begleittexten am Ende des Buchs. Emmi Arbels bewegende Lebensgeschichte wird erst durch die Zeichnungen, allmählich aus dem Schwarz heraus, in Form von Erinnerungsfetzen, als Formen, Linien oder Farbigkeit, sichtbar und erzählbar. Ihre Erinnerungen tauchen manchmal spontan und nicht-chronologisch auf, teilweise sind sie verschwommen oder nahezu farblos, einige sind nur als Gefühl beim Anblick eines Fotos oder als Geruch an einem Ort greifbar. Yelins Dokumentation wagt radikal-menschliche Subjektivität. Meisterhaft nutzt sie die Möglichkeiten des Mediums, um den tatsächlichen Vorgang des Einander-Erzählens von erlebter Geschichte in einer persönlichen, farbig-lebendigen Begegnung einzufangen.

Nominierungen der Jugendjury

Ab 12:

Sarah Crossan: "Toffee. Wie Glücklichsein von außen aussieht". Aus dem Englischen von Beate Schäfer, Hanser, 19 €

Begründung der Jury: In einem eigenwilligen Stil – irgendwo zwischen Haiku, reimlosem Gedicht und Novelle – wird von den mannigfaltigen Erfahrungen eines 15-jährigen Mädchens namens Allison, auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Vater, berichtet. Auf der Suche nach Frieden und Freiheit trifft sie auf die an Demenz erkrankte Marla und findet bei ihr die lang ersehnte Geborgenheit. Eine Freundschaft entsteht, die vergessen wird und doch nicht vergeht. Die Autorin vermittelt dem empathischen Lesenden einen Einblick in die Gefühlswelt zweier Menschen aus weit auseinander liegenden Generationen, denen es gelingt, ein einzigartiges Band der zwischenmenschlichen Kommunikation zu knüpfen. In beinahe traumhaft anmutenden Sequenzen, die von einem lyrischen Sprachverständnis zeugen, beweist Sarah Crossan ihre Fähigkeit zu literarischer Genialität. Der Versroman wurde von Beate Schäfer meisterhaft ins Deutsche übersetzt. Toffee kann manch einen jugendlichen Lesenden dazu inspirieren, sich mit dem vermeintlich unpopulären Genre Lyrik auseinander zu setzen. Vom ersten bis zum letzten Satz – ein Beispiel für die Kunst ästhetischer Erzählung.

Ab 14:

Jesmeen Kaur Deo: "Der beste Beweis bist du selbst". Aus dem Englischen von Meritxell Janina Piel, Arctis, 20 €

Begründung der Jury: Schauplatz dieses Romans ist eine kanadische Highschool voll jugendlicher Dynamiken. TJ Powar ist eine selbstbewusste Gestalterin ihres Umfeldes und Freundeskreises. Sie ist Person of Colour, schön, eine Fußballerin und unschlagbar beim Debattieren. Mobbing wegen starker Körperbehaarung, so wie es ihre Cousine Simran erfährt, findet sie unfassbar ungerecht. Körperhaare haben doch fast alle. Auch Frauen. Aber wie oft sieht man sie mit Achselhaaren im Fernsehen? Wo sind die Beinhaare in Rasiererwerbungen? Um ihrer Cousine zur Seite zu stehen, hört TJ mit ihren eigenen Enthaarungsprozeduren auf. Das müsste doch kein Problem sein, oder? Zwischen indischer Herkunft und Anpassung an westliche sowie weibliche Schönheitsideale startet sie ihre ganz persönliche Debatte. Denn ihre Entscheidung bringt ihr Leben mehr ins Wanken als gedacht. In ihrem Debüt präsentiert Jesmeen Kaur Deo eine schonungslose, gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Genderrollen, Selbstwert, Eigen- und Fremdwahrnehmung. Sie verbindet die differenziert geführte Schönheitsdebatte mit einem phänomenalen Leseerlebnis, das ein Nachdenken befeuert. Meritxell Janina Piel ist hinsichtlich TJs Gefühlslebens eine lebendige Übersetzung gelungen.

Ab 14:

Natalie Haynes: "Stone Blind. Der Blick der Medusa". Aus dem Englischen von Babette Schröder und Wolfgang Thon, dtv, 24 €

Begründung der Jury: „Sie werden dich fürchten und vor dir fliehen. Und sie werden ein Monster aus dir machen.“ (S. 64) Medusa ist eine Gorgone – zugleich jedoch auch eine Sterbliche. Als Poseidon sie in Athenes Tempel vergewaltigt, bestraft die Göttin Medusa dafür: Ihre Haare werden zu Schlangen und sie ist fortan dazu verflucht, alle, die sie ansieht, zu Stein erstarren zu lassen. Um kein Leid zu verursachen, isoliert sie sich. Bis der junge Perseus den Auftrag bekommt, das Haupt eines Monsters zu erlangen – einer Gorgone. Macht die ungewollte Verwandlung Medusa zu einem Monster? Und ist Perseus als Held des klassischen Mythos wirklich der Gute? – Natalie Haynes gibt Medusa und vielen Nebenfiguren eigene Stimmen und lässt sie das Geschehen aus ihrer Sicht erzählen. Die vielen Perspektivwechsel zeigen wie facettenreich antike Mythologie sein kann. Medusa bekommt eine Vergangenheit und wird als liebevoller Mensch mit Gefühlen dargestellt. Eine berührende, spannende, humorvolle und epische Neuerzählung aus weiblicher Perspektive, übersetzt von Babette Schröder und Wolfgang Thon. Dank des angefügten Personenverzeichnisses, ist die Geschichte sowohl für Neulinge als auch Fans der Mythologie leicht verständlich

Ab 14:

Anja Reumschüssel: "Über den Dächern von Jerusalem". Carlsen, 16 €

Begründung der Jury: Der Nahostkonflikt scheint gleichzeitig weit weg und ganz schön nah zu sein, weil er schon so lange andauert und fast schon zum Nachrichtenalltag dazugehört. Worum geht es dabei eigentlich genau? Was sind seine Wurzeln und warum ist nach so langer Zeit immer noch keine Lösung in Sicht? Der Konflikt ist seit Veröffentlichung des Romans weiter eskaliert. Nach der Lektüre versteht man besser, worin die Bedeutung für beide Seiten liegt und warum Nachgeben, Kompromisse suchen, Lösungen finden scheinbar keine Optionen mehr sind. Anja Reumschüssel schafft es, vollkommen ohne Partei zu ergreifen, den Konflikt in der Zusammenschau der Jahre 1946-1948 und unserer Gegenwart nachvollziehbar zu machen. Dies gelingt ihr durch die Darstellung der Gedanken und Gefühle ihrer Figuren – Tessa und Anat für die israelische Seite, Mo und Karim für die palästinensische Seite. Das hat uns sehr beeindruckt und ein Stück weit ratlos, aber auch hoffnungsvoll zurückgelassen. Wir finden, dieser Roman ist ein Muss, nicht nur für Jugendliche, sondern für alle, die den Nahostkonflikt verstehen und sich eine Meinung bilden wollen. Ein Jugendroman am Puls der Zeit.

Ab 15:

Rebecca Yarros: "Fourth Wing. Flammengeküsst". Aus dem Englischen von Michaela Kolodziejcok, dtv, 24 €

Begründung der Jury: Violet Sorrengail träumt davon, Schriftgelehrte zu werden, doch ihre Mutter, die Oberbefehlshaberin von Navarre, bestimmt sie zur Drachenreiterin und zwingt sie so zu einer der gefährlichsten und tödlichsten Ausbildungen. Und das, obwohl Violet klein und körperlich schwach ist. Die Drachen jedoch gehen nur mit den Mutigsten und Stärksten die symbiotische Beziehung ein, die notwendig ist, um das Land zu beschützen. Xaden Riorson ist ihr Ausbilder. Er ist der Sohn eines Landesverräters und nur am Basgiath War College geduldet, weil er einer der mächtigsten Drachenreiter ist. Sein Vater wurde auf Befehl von Violets Mutter hingerichtet. Er wird alles daransetzten, dass Violet stirbt, Violet wird alles daransetzen, zu überleben. Doch manchmal verlaufen Ereignisse so, dass sie von zwei Gegenspielern nur gemeinsam gelöst werden können … Mit einem fesselnden Schreibstil, großer Spannung und sehr unterschiedlich gezeichneten Charakteren erschafft Rebecca Yarros eine neue, unbekannte Welt, in der sich die Akteure mit dem Erwachsenwerden, mit Zukunftsunsicherheit und Machtmissbrauch auseinandersetzen müssen. Michaela Kolodziejcok hat das Buch ausdrucksstark ins Deutsche übersetzt.

Ab 16:

Alice Winn: "Durch das große Feuer". Aus dem Englischen von Ursula Wulfekamp und Benjamin Mildner, Eisele, 24 €

Begründung der Jury: Dieser Roman erzählt von den Erlebnissen zweier Freunde im Ersten Weltkrieg und der Entwicklung ihrer heimlichen Liebesbeziehung. Henry Gaunt und Sidney Ellwood sind Teenager, die sich 1914/15, noch vor ihrem Schulabschluss, freiwillig zum Dienst an der Front melden. Während ihres Einsatzes, u.a. in Belgien und Frankreich, erleiden sie viel Schmerz und Todesangst. Ellwood verarbeitet das Erlebte mit Poesie, während Gaunt die traumatischen Ereignisse bis in den Schlaf verfolgen. Das Buch ist fesselnd geschrieben und die Figuren werden einfühlsam dargestellt. Dazu tragen auch die verschiedenen Textformen bei, die Alice Winn verwendet. Zum Beispiel werden Ausschnitte der Internatszeitung abgebildet, in der im Krieg gefallene Schüler aufgelistet werden. Neben erzählender Prosa finden sich Briefe und die Gedichte von Ellwood oder Lord Tennyson. So bekommt der Roman eine reizvolle Mehrdimensionalität in der Erzählweise, behutsam übersetzt von Benjamin Mildner und Ursula Wulfekamp. Es wird eindrücklich gezeigt, wie das Leben im Krieg abläuft und welche Folgen es hat. Der Roman macht die Monstrosität von Krieg und die immensen Konsequenzen für das menschliche Sein deutlich.

Nominierungen für den Sonderpreis "Neue Talente: Übersetzung"

Marie Alpermann

Nominiert für ihre Übersetzung aus dem Serbischen von "Der Sommer als ich fliegen lernte" von Jasminka Petrović. Tulipan, 16 €, ab 11

Begründung der Jury: Texte zu übersetzen, die von Mehrsprachigkeit geprägt sind, ist eine knifflige Aufgabe. Marie Alpermann meistert sie fabelhaft. "Der Sommer als ich fliegen lernte" ist reich an Stimmen. Die Mehrsprachigkeit ist allgegenwärtig, als Hintergrundatmosphäre der Handlung und als Einsprengsel im Dialog und Fließtext. Getragen wird die bunte Mischung von den Charakteren: allen voran die 13-jährige Ich-Erzählerin Sofija aus Belgrad/Serbien, dicht gefolgt von ihrer exzentrischen Oma und der kroatischen Verwandtschaft, die, in Sofijas Ohren, einen unverständlichen Dialekt spricht. Ob Jugendsprache, „Omasprache“, Dialekt, Serbisch oder Kroatisch – Marie Alpermann springt elegant zwischen den Jargons. Sie trifft Ton und Rhythmus und findet geschmeidige, adäquate Lösungen für jedes lokal verortete Problem – verantwortungsvoll dem Original gegenüber und gleichzeitig selbstbewusst frei. Nebenher, fast beiläufig, erzählt sie mit großer Leichtigkeit die lustige, traurige und liebevolle Geschichte von Sofijas schlimmsten Sommerferien, die am Ende die schönsten werden

Astrid Bührle-Gallet

Nominiert für ihre Übersetzung aus dem Französischen von "Möge der Tigris um dich weinen" von Emilienne Malfatto. Orlanda, 16 €, ab 15

Begründung der Jury: Astrid Bührle-Gallet hat mit ihrer Übersetzung der preisgekrönten Novelle "Que sur toi se lamente le Tigre" von Emilienne Malfatto einen klugen und sprachlich überzeugenden Text vorlegt. Der Debütroman der französischen Autorin und Journalistin erzählt die Geschichte einer unehelich schwanger gewordenen jungen Frau im Irak. Die Übersetzung Möge der Tigris um dich weinen besticht durch ihre schlichte, aber gleichzeitig poetische Sprache, die unterschiedlichen Stimmen Gehör verschafft und dabei immer wieder das Gilgamesch-Epos anklingen lässt. Gemeinsam nähern sich diese Stimmen, oftmals mit respektvoller Distanz, einem Familiendrama an, das auch eine Geschichte des ländlich geprägten Iraks ist. Der klaren, bisweilen einfach anmutenden Sprache gelingt ein kluger Brückenschlag zwischen der Treue zum Ausgangstext und der Kreativität der deutschen Fassung. Übersetzung, dies zeigt Astrid Bührle-Gallet in diesem Buch auf eindrucksvolle Weise, ist eine Annäherung an das Original, eine Setzung, die zwischen sprachlichen Ähnlichkeiten und Unterschieden zu vermitteln hat. Es sind die kleinen, fast unscheinbaren Bedeutungsverschiebungen und Sprachspiele, aus denen diese Übersetzung ihre Kraft bezieht

Leonie Nückell

Nominiert für ihre Übersetzung aus dem Arabischen von "Es bringt der Papagei den Hund zur Raserei" von Ahmad Schauqi, Illustriert von Said Baalbaki. Edition Orient, 17,90 €, ab 8

Begründung der Jury: Leonie Nückell hat Mut. Kaum etwas ist schwerer adäquat zu übersetzen als Reime, und sie meistert diese Herausforderung gleich in ihrer ersten Kinderbuchübersetzung bravourös. Mit einer gehörigen Portion Witz und treffsicherem Gespür für Pointen überträgt sie die klassischen Fabelgedichte des ägyptischen Dichters Ahmad Schauqi (1868-1932) ins Deutsche. In der zweisprachigen Ausgabe "Es bringt der Papagei den Hund zur Raserei" gelingt der Balanceakt zwischen Annäherung und Verfremdung: Schauqis Stil spiegelt sich in eingestreuten altertümlichen Wörtern und Wendungen wider, und die Leserichtung von rechts nach links erinnert auf jeder Seite an die arabische Herkunft der Texte. Gleichzeitig löst sich Nückel selbstbewusst vom Wortlaut und drückt der Übersetzung im Einklang mit dem Sinn des Originals und der Bildsprache von Said Baalbaki ihren eigenen kreativen Stempel auf. Dass sie sich zur Einhaltung des metrischen Rahmens die notwendigen syntaktischen Freiheiten herausnimmt, wirkt nicht etwa manieriert, sondern verspielt. Rhythmisch in Daktylus und Jambus gegossen, verkünden die Gedichte mit einem Augenzwinkern kleine Lebensweisheiten

Über die Auszeichnung

Der Deutsche Jugendliteraturpreis ist eine der wichtigsten Orientierungshilfen im ständig wachsenden Kinder- und Jugendbuchmarkt. Der Staatspreis wird seit 1956 jährlich verliehen. Stifter ist das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend. Ausgerichtet wird er vom Arbeitskreis für Jugendliteratur.

Welcher Titel in den einzelnen Kategorien gewonnen hat, wird am 18. Oktober 2024 bei der Preisverleihung auf der Frankfurter Buchmesse bekanntgegeben. Auch ein Lebenswerk wird dann ausgezeichnet.