Zur »Künstlichen Intelligenz« | Teil 1

Es war einmal …

6. März 2016
von Börsenblatt
Die Diskussion um das, was man allgemein »Künstliche Intelligenz« nennt, wird derzeit in vielen Medien geführt. bookbytes-Blogger Stephan Selle beschäftigt sich schon lange mit diesem Thema und hat dazu einen längeren Artikel geschrieben, den wir hier in zwei Teilen zur Diskussion stellen.

Das Thema »Künstliche Intelligenz« ist wieder in Mode, seit den 1960er Jahren ein Ereignis, auf dass man sich verlassen kann wie auf die regelmäßige Wiederkehr von Petticoats oder Schlaghosen.

Maschinenintelligenz ist wohl die letzte Erfindung, die die Menschen je machen werden. Denn danach übernehmen intelligente Maschinen die Welt und erfinden selbst alles, was nötig ist – unter anderem zahlreiche neue Verwendungen für den dann ja relativ überflüssigen Homo Sapiens. So jedenfalls sieht der Philosoph Nick Bostrom unsere Zukunft in seinem im März 2015 gehaltenen TED-Vortrag. Die Katastrophe vor Augen macht sich Bostrom Gedanken darüber, wie wir – einmal versklavt – der Herrschaft der Maschinen wieder entkommen. 

In Wired, der Super Illu der digitalen Welt, äußert sich die aktuelle Gründergeneration im Silicon Valley geradezu enthusiasmiert von den Möglichkeiten kleiner »intelligenter« Apps für die Zukunft der Menschheit. Aber die Zauberlehrlinge des 21. Jahrhunderts legen dabei eine erstaunliche Unwissenheit an den Tag: Intelligenz liegt, wie die Schönheit, im Auge des Betrachters. 

Die neue Welle rollt schon …

Ein Programm ist binär, das Denken nicht. Wie das Denken in einen Chip kommen soll, kann auch die neue KI-Welle nicht erklären. Sie hat etwas vom Regentanz, vom frommen Wunsch nach den nächsten Großen Ding des digitalen Kapitalismus. Die Google-Brille war’s nicht, die Apple-Uhr auch nicht. Selbstfahrende Autos fahren schon selbst, sind aber ein riskantes Consumer-Produkt. Soziale Netzwerke gibt es wie Sand am Meer, und das Netz makelt Produkte, Dienstleistungen und Gefühle. Bewertungsportale und lokale Dienste trudeln ihrer Endzeit entgegen, Blogger machen die Zeitungen nicht kaputt und Amazon droht mit abalogen Läden aus Stein loslegen und eigenem analogen Versand: Irgendwie bleibt die New Economy immer die alte.

Weil nichts richtig greifen will, hüpft der alte Springteufel KI wieder aus der Kiste. Der Viktor Frankenstein dieses künstlichen Wesens war Marvin Minsky, jüngst verstorbener »KI-Papst« und idealer Protagonist dieser typisch amerikanischen Geschichte: Zusammen mit seinem Kollegen Seymore Papert versprach er Anfang der 1960er Jahre dem Verteidigungsministerium (bzw. der DARPA, die Behörde, die fünfzehn Jahre später als ARPA das Internet baute), die Kilometer von Tonbändern mit abgehörten russischen Telefonaten und Funksprüchen durch eine Maschine übersetzen zu lassen: Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges gab es wenig Übersetzer und viel Optimismus – der amtierende Präsident hatte gerade den Mondflug auf seine Agenda gesetzt.

Der Revenant: Die Wiederkehr der KI

Selbst heute, über fünfzig Jahre später, ist zuverlässige maschinelle Übersetzung noch ein Riesenproblem. Überflüssig also zu erwähnen, dass aus dem Plan nichts wurde – sieht man von dem teuren KI-Labor am MIT und einem Professorentitel für Minksy ab. Das Verteidigungsministerium stellte folgerichtig Ende der 1960er die Zahlungen ein, es begann der erste »KI-Winter«, wobei Winter in der US-Forschung immer heißt: keine Kohle vom Staat.

Besagter Winter endete um 1980 mit einem digitalen Frühling: Neue, mächtigere Computer mit besseren Programmiersprachen schienen nur auf ihre Vermenschlichung zu warten, beim Militär ging es nicht mehr nur um Abgehörtes, sondern verstärkt um Gefilmtes. Statt russischer Tonbänder sammelten sich nun kistenweise Satellitenbilder, die interpretiert werden wollten: Der neue Ansatz ging davon aus, dass der erste Anlauf in den 1960ern an den unzureichenden Speicherkapazitäten gescheiter war.

Jetzt aber waren die Achtziger und Moores Gesetz begann zu funktionieren: Alle zwei Jahre verdoppelten sich Prozessorgeschwindigkeit und Speicherplatz. Für die neuen Festplatten, erst recht für optische Speicher, schienen Datenmengen kein Problem mehr zu sein. Auf solchen Speichermedien hatten nicht nur Bilder, sondern ganze Lexika Platz.

Was macht Intelligenz künstlich?

Trotzdem war  noch immer kein normales Gespräch mit einem Rechner möglich, der sogenannte Turing-Test scheiterte kläglich. Für den Erfolg musste der Kontext, der Verstehenszusammenhang, für den Rechner ganz-ganz klein werden, so dass er jeden Satz, jedes Wort nur auf eine einzige Weise verstehen konnte.Wie beim Militär: Befehle lassen auch keinen Interpretationsspielraum. Aber wenn man dafür vom Kriegsminister Geld möchte, braucht man noch eine passende, wissenschaftliche Theorie. Und da kommt wieder Professor Minsky ins Spiel. In der Frühzeit der KI hatte er den theoretischen Hintergrund für lernende Rechner mit seiner Perceptron-Theorie geliefert, jetzt mussten die frames an den Start: Das Leben, schreibt Minsky, macht es eigentlich auch nicht viel anders, es fokussiert immer auf eine begrenzte, konkrete Situation als Verstehenshorizont.

Also sagen wir dem Rechner zum Beispiel, er sei Gast in einem guten Restaurant und müsse als nächstes eine Bestellung tätigen. Oder er solle irgend jemandem einen  Heiratsantrag machen, der er/sie nicht ablehnen könne (wer’s nicht glaubt: ich habe den Aufsatz in meiner Bibliothek!). Im jeweiligen Rahmen konnte der Rechner die Fragen des Kellners und die Antworten der Braut verstehen und selbst erfolgreich fortsetzen. Das Verteidigungsministerium prüfte, ob man mit dieser Ausstattung zum Beispiel automatisch feindliche Panzer am Waldrand entdecken kann. Das Dumme bei guten Lernprogrammen: man sieht, dass sie funktionieren, aber nicht wie! Das Programm gab immer bei den richtigen Fotos Alarm, bis jemand feststellte, dass es auf wolkenlosen Himmel reagierte, der fast immer mit dem Erscheinen der Panzer zusammenfiel. Wieder zu viele Erwartungen, wieder zu viel Geld, es folgte der zweite Winter der KI, der bis in die jüngste Gegenwart reichte …

Morgen beantwortet Stephan Selle die Frage, ob es eine »Künstliche Intelligenz« überhaupt geben kann.