Neuer IBM-TextBot

Die Melodie im Text

24. Juli 2015
von Börsenblatt
Haben Sie sich mal bei eingegangenen Mails gefragt, welche Laus wohl dem Absender über die Leber gelaufen ist: Obwohl nicht so gemeint, ist der der Ton harsch, kalt und leicht verletzend? Nach Rückruf stellt sich raus: alles nicht so gemeint. Solche Mail-Versehen soll zukünftig ein IBM-Text-Bot verhindern!

Der Tone Analyzer sieht das Böse im Mail und hilft dabei, den richtigen Ton zu finden, sagt IBM. Das Ganze funktioniert – bislang nur auf Englisch – über die Analyse aller Wörter im Text, denen ein bestimmter Gefühlswert zugeordnet werden kann: Sie gehören entweder in den Bereich Emotion (verärgert, fröhlich, negativ), Soziales (einverständlich, zustimmend, offen)  oder Tonlage (analytisch, selbstgewiss). Mit Hilfe von Synonymen werden Alternativen angeboten. (Das deutsche Unternehmen Ferret ist ebenfalls auf diesem Gebiet unterwegs.)

Gerade bei wichtigen Schreiben den richtigen Ton im Mail zu finden scheint nicht einfach zu sein. Früher, vor den Computern, gab es eine eigene Sprache für Geschäftsbriefe, die mit dem normalen Deutsch fast nicht zu tun hatte, Versicherungen und Juristen schreiben heute noch so. Es begann mit »Sehr geehrte Damen und Herren« und ging dann etwa so weiter: »Mit Bezug auf Ihr Schreiben vom 23. Oktober stellen wir fest, dass sich … « Beherrschte man einmal die richtige Brief-Lingo gab es keinen falschen Ton, es gab gar keinen! »Textformulierung« ist bis heute ein wichtiges Ausbildungsziel für die Sekretärin, eine gute Schreibkraft sollte auch heute noch in der Lage sein, das Gestammel des Chefs in den leidenschaftslosen Jargon der geschäftlichen Kommunikation zu übersetzen.

Korrespondenz steht schon seit jeher im Ausbildungsplan des aufgeklärten Bürgertums. Es ist kein Zufall, dass am Anfang der modernen Literaturgeschichte der Brief steht. Allerdings mussten die Bürgerinnen und Bürger im 18. Jahrhundert erst einmal lernen, wie man empfindsame Episteln schreibt. Also bestanden die ersten erfolgreichen Romane aus Briefen: Pamela oder die belohnte Tugend (1741) war ursprünglich eine Sammlung von Musterbriefen für junge Damen, verfasst vom englischen Druckereibesitzer und Schriftsteller Samuel Richardson (1689 – 1761). Der Bestseller des Jahrhunderts wird 33 Jahre später der Briefroman Die Leiden des jungen Werther (1774) des jungen Anwalts Goethe, den Napoleon so verehrte, dass er ihn auf jeder Reise mit sich führte – bis seine Kutsche vor genau 200 Jahren nahe Waterloo cargenappt wurde.

Mit Internet und elektronischer Post (deren Historie einen eigene Artikel wert wäre) endet die Kommunikation über die zentralen Instanzen Sekretariat und Poststelle, die Irren reden direkt miteinander. Und weil die Geschäftspost auch nicht mehr in der zentralen Ablage des Unternehmens endet, nehmen die Mitteilungen zunehmend den Charakter privater Postkarten an: Die Dilettanten, die weder das Tippen noch das Texten gelernt haben, versenden Angebote mit Urlaubsgrüßen und Rechnungen mit den Fotos vom letzten Kegelabend! Dieses Durcheinander zu archivieren verbietet konsequenterweise der Datenschutz.

Der entscheidende Punkt ist eine De-Professionalisierung des Stils bei Geschäftskorrespondenz. Nach dem Outlook-Seminar noch einen Kurs »Email für Dummies« zu veranstalten ist vermutlich allen Beteiligten zu aufwändig. So weichen die früher definierten Kommunikationskanäle von der Abteilungsleitung bis zur Geschäftsführung dem Prinzip »Jeder mit Jedem«: Ich kann über die entsprechende Web-Site sogar Mails an den lieben Gott schicken – ohne Weihe! Im Mittelalter wäre  ich dafür auf den Grill gekommen! 

Und nun? IBM unternimmt ein spannendes Experiment auf einem verminten Feld: Sprache zu verstehen war immer schon die Königsdisziplin der Künstlichen Intelligenz, aber bislang haben sich alle spannende Projekte als Bauchlandung erwiesen – auch Siri und ihre Kolleginnen. Metaphern und Ironie, Sarkasmus und Allegorien beispielsweise entgehen selbst dem besten Text-Roboter, denn die Hinweise im Text, die dem Leser diese Mehrdeutigkeit signalisieren, sind maschinell kaum zu verstehen.

So ganz überzeugen können die bisherigen Ergebnisse deshalb nicht, obwohl IBMs Watson Lab die größte industrielle Forschungseinrichtung weltweit und ein Hort der Künstlichen Intelligenz ist. Dieser Zweig der Computerforschung entstand, als Marvin Minsky und Seymour Papert der amerikanischen Regierung Anfang der 1960er Jahre versprachen, Texte abgefangener russischer Telefonate und Funksprüche in ein paar Jahren maschinell übersetzen zu können (und dafür einen Haufen Forschungsgelder bekamen). Das Ergebnis sind sie und ihre Nachfolger bis heute schuldig. Denn je weiter sich Texte aus engen sachlichen Zusammenhängen entfernen, desto schwieriger wird es für Maschinen, Mehrdeutigkeit und komplexe Rückbezüge aufzulösen. Berühmt wurde der Versuch, den englischen Satz »Der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach« (Matthäus 26.4) durch ein Programm ins russische übersetzen zu lassen: »Der Wodka ist gut, aber das Fleisch vergammelt.« Ein Programm kennt nur Bezüge von Wörtern untereinander und Bewertungen hinsichtlich der Angemessenheit an bestimmte Kontexte. Was er nicht kennt, erwerben wir fast im Schlaf: Weltwissen.