Marketing-Attitüde oder Wachstumsstrategie?

Was ist Growth Hacking?

18. Juli 2015
von Börsenblatt
Eine weitere Marketing-Methode, ausgedacht von Marketiers, die ihren Kunden ein neues Kaninchen aus dem Hut zaubern wollen, oder eine Möglichkeit für Verlage, mit geringen Budgets ihren Bekanntheitsgrad und ihre Verkäufe massiv zu steigern?

Der Begriff »Growth Hacking« wurde 2010 von Sean Ellis, CEO von Qualaroo, kreiert, der in einem Blogpost für den maximalen Erfolg von Startups die Notwendigkeit eines neuen Typus von Marketing-Verantwortlichen postulierte. Der Zusammenhang mit aufstrebenden Unternehmen der Internet-Branche liegt nahe, denn gerade Startups stehen vor der Herausforderung, mit geringen Budgets schnell eine kritische Masse an Nutzern zu erreichen. Growth Hacking setzt dabei, anders als die klassischen Push-Strategien, auf das Produkt selbst und integriert darin Mechaniken, die aus sich heraus für eine Steigerung der Sichtbarkeit und Kundengewinnung sorgen.

»Virality isn't something you do to a product, it is something a product is.« (Seth Godin) Was macht ein Growth Hacker?

Das Ziel eines Growth Hackers ist maximales Wachstum bei gleichzeitiger Kosteneffizienz der durchgeführten Maßnahmen. Dafür verbindet er in seiner Arbeit mehrere Disziplinen, die in der Regel von verschiedenen Personen ausgeübt werden: Digitale Marketing-Expertise, analytisches Denken und technische Kompetenz. Darüber hinaus verfügen diese Spezialisten auch über ein ausgeprägtes Verständnis für Vertrieb, Produktentwicklung, User experience Design und Kundenmanagement.

Growth Hacker analysieren Schritt für Schritt, Klick für Klick, den Weg eines Kunden und überprüfen ausführlich die Abbrüche im Bestellprozess oder in der Nutzung. Sie führen zahlreiche A/B Tests durch und optimieren Landing Pages. Sie wissen, wie sie mit kleinen Änderungen am Design eines Produktes große Auswirkung auf die Nutzung und die Kaufmotivation erreichen können. Sie suchen neue Wachstumskanäle und automatisieren wiederkehrende Prozesse zur Kundenbindung. Die Arbeit eines Growth Hackers basiert einerseits auf ausführlichen Daten mit denen er neue Potenziale identifiziert und so die Conversion Rates von unter 1% auf über 10% erhöhen kann. Andererseits verfügt er über die technische Kompetenz, die Aufwände für die nötigen Anpassungen und deren Kosten nicht nur beurteilen zu können, sondern auch die Steuerung dafür zu übernehmen. Sie finden die Schwächen im Produkt und implementieren Funktionen, die den Nutzwert erhöhen und die Kunden so sehr begeistern, dass sie es weiterempfehlen. 

In traditionellen Unternehmen müssen für diese Spezialisten oft erst völlig neue Stellen geschaffen werden, da sie bei einer Zuordnung in die klassischen Strukturen wie Product Management, eMarketing oder Business Development nur bedingt ihre Kompetenzen voll entfalten können. Ein Growth Hacker arbeitet interdisziplinär und erfüllt Aufgaben aus unterschiedlichsten Bereichen von Online-Marketing, Coding, Sales, Copywriting, Product Development, User experience Design und CRM. 

Beispiele für Growth Hacking

1. Invites

Ein Beispiel für Growth Hacking ist die Invite-Strategie, bei denen ausgewählte Nutzer (meist Multiplikatoren) exklusive Zugänge zu einer Beta-Version erhalten und nach der Registrierung eine begrenzte Anzahl an Einladungen (Invites) an deren engere Kreise senden können. Durch diese Exklusivität entsteht Begehrlichkeit, die bei anderen Nutzern im besten Fall den Impuls des Dazugehörenwollens auslöst. Ein anderer Ansatz ist die Incentivierung im Sinne eines Kunden-werben-Kunden-Programms, wie bei Dropbox, bei dem man für jeden neu geworbenen Kunden eine unbefristete Erhöhung seines Speicherplatzes erhalten kann. Der Kostenaufwand für diese Strategie ist meist überschaubar und integraler Bestandteil des Produktes.

2. Cross-Posting

Eine der Erfolgsrezepte von Instagram gleich zu Beginn war die Möglichkeit, über das geschlossene Netzwerk hinaus seine Inhalte auch auf anderen Plattformen wie Facebook oder Twitter zu posten. Die Social Reading Funktion von Sobooks setzt ebenfalls auf das Teilen einzelner Passagen der gelesenen Texte in die jeweiligen sozialen Netzwerke der Nutzer. Damit verbreitet sich nicht nur der Inhalt, sondern auch die Plattform selbst.

3. Integration

Evernote konnte seine Bekanntheit maßgeblich steigern, indem es die Vice-Versa-Integration des Produktes in andere Anwendungen über die Bereitstellung einer API ermöglicht hat. Die Liste der Apps und Services wächst weiterhin rasant und hat Evernote so von der Basis-Funktion einfacher Notizsammlungen zu einem der flexibel einsetzbarsten Tools für Privat- und Business-Anwender gemacht.

Wie können Verlage Growth Hacking einsetzen?

Die Anwendung von Growth Hacking auf klassische Verlagsprodukte ist sicher sehr viel schwieriger und auch nicht unbedingt die Ausrichtung dieser Spezialisten. Bei digitalen Produkten hingegen lassen sich viele Möglichkeiten ableiten, mit denen man mehr Aufmerksamkeit und entsprechend mehr Wachstum erzeugen kann. 

Produzenten von Kochbuch-Inhalten können Kunden von Lebensmittel-Lieferdiensten mittels einer API kurze Rezeptvorschläge anbieten und direkt die nötigen Zutaten in den Warenkorb legen, die dann bequem nach Hause geliefert werden und vielleicht sogar noch einen Rabatt auf den Einkauf erhalten. Verlage können zu Lesungen mit limitierten Plätzen einladen, zu der man sich nur über eine Online-Registrierung anmelden kann. Dabei kann man die eigene Chance auf ein Ticket zu dieser exklusiven Veranstaltung erhöhen, je mehr Einladungen man an seine Kontakte sendet. Oder es handelt sich um digitale Leseproben, bei denen man pro gesendeter Einladung eine zusätzliche Seite freigeschaltet bekommt.

Die Entwicklung von Mechaniken zur Erweiterung des Produktes, die Nutzer intrinsisch motiviert das positive Erlebnis zu teilen oder zum Teil des Produktkerns macht, erfordert eine übergreifende Kombinationsfähigkeit und innovative Denkweise, welche nicht nur für Startups oft die entscheidenden Faktoren des Erfolgs sind. Auch in etablierten Unternehmen kann Growth Hacking für einen nachhaltige Optimierung des Produktportfolios und die Ausschöpfung von verborgenen Umsatzpotentialen eine gute Möglichkeit für Upselling aus dem Bestandsgeschäft sein. Sean Ellis sieht den Schwerpunkt der Aktivität im Bereich Marketing. Doch ein Produkt zu erweitern, so dass es durch sich selbst seine Bekanntheit steigert, bedarf einer holistischen Betrachtung aller Bestandteile. Growth Hacking ist also weniger eine Form des Inbound Marketings, sondern ist vielmehr eine horizontale Betrachtung des wachstumsorientierten Product Developments.