Künstliche Intelligenz – der Versuch einer aktuellen Einsortierung der Möglichkeiten für Verlage und Buchhandel

Was verstehen wir unter KI?

7. September 2017
von Börsenblatt

Die Themen und täglichen Nachrichten rund um das Reizwort »Künstliche Intelligenz« (KI) sind vielfältig. Allein bei der Suche via Google Alert kommen dazu im Schnitt 15 Nachrichten täglich aus der westlichen Hemisphäre, Tendenz steigend.

Folgt man Wikipedia, so bezeichnet künstliche Intelligenz oder KI im Allgemeinen »den Versuch, eine menschenähnliche Intelligenz nachzubilden, d. h., einen Computer zu bauen oder so zu programmieren, dass er eigenständig Probleme bearbeiten kann«. Dr. Jobst Landgrebe, Gründer des Kölner KI-Unternehmens Nomotekt GmbH, zieht diese Definition allerdings in Zweifel – in seinen Augen ist die wahrhaft eigenständige Lösung neuartiger Probleme, die oftmals Kreativität verlangt, auf absehbare Zeit nicht mit KI zu bewerkstelligen. KI-Lösungen seien darauf angewiesen, menschliches Verhalten zu beobachten und es sodann nachzuahmen. Nach seinen Erfahrungen kann KI zwar erstaunlich komplexe Aufgaben bewältigen, muss jedoch mit einer Vielzahl von Lösungen ähnlicher Aufgabenstellungen – meist durch den Menschen – »angelernt« werden. Er erwartet, dass in den kommenden Jahren in großen Unternehmen etliche Sachbearbeiter durch KI entlastet und mit qualifizierten neuen Aufgaben beschäftigt werden. Die wirklich kreativen Aufgaben jedoch – Forschung & Entwicklung, strategische Entscheidungen usw. – dürften auch auf lange Sicht noch von Menschen erledigt werden.

Ein Beispiel für seine These ist das Google Car, das autonom fahrende Kfz des Google-Konzerns. In der Erscheinung rund und knuffig, ahmt es das Fahrverhalten weiblicher Fahrer der Altersgruppe von etwa Mitte 40 nach – einer Gruppe, die statistisch die wenigsten Unfälle verursacht. In der Folge »verhält« sich das Auto im Verkehr wie seine »peer group«, indem es eher bedächtig und sicher fährt. Hätte Google die KI des Google Car dagegen mit Daten des Fahrverhaltens männlicher Fahrer angelernt, die soeben den Führerschein absolviert haben, käme man als Passagier der KI zwar vermutlich schneller ans Ziel, aber zum Preis erhöhter Unfallgefahr.

Schwieriger wird schon die Definition, was alles noch zu KI zählt. Wieder hier der Verweis auf Wikipedia, dessen lesenswerte Inhalte zu diesem Thema latent anwachsen: »KI stellt kein geschlossenes Forschungsgebiet dar. Vielmehr werden Techniken aus verschiedenen Disziplinen verwendet, ohne dass diese eine Verbindung miteinander haben müssen.«

Voraussetzungen für KI in Verlagen: verfügbare Daten

Versucht man das Thema KI für die Verlagswelt handhabbar zu machen, so sind folgende Möglichkeiten und Anwendungen schon vorhanden bzw. oder aktuell entwickelbar:

Die Grundvoraussetzung ist die Verfügbarkeit der Daten. Verlage und Buchhandel haben Daten in verschiedensten Systemen und Datentöpfen. Nicht immer sind diese miteinander kompatibel. In diesen »Zoos« sind Daten beispielsweise aus dem Controlling, der Presse, der Warenwirtschaft, den Websites, dem Vertrieb für digitale und Printprodukte, dem kaufmännischen Bereich und von externen Dienstleistern sowie von Marktforschern etc. vorhanden.  Die Daten sind beispielsweise KPIs, betriebswirtschaftliche Kennziffern, Rezensionen, Absätze, Abozahlen, Kündigungsquoten, Visits, Bonität, Metadaten, Honorarvereinbarungen, Liquiditätsplanung und Mails in verschiedenster Struktur und Ordnern. Ein sehr komplexer Fall für relationale Datenbanken, sehr langwierig, aufwendig und sehr kostenintensiv.

Die Alternative sind inzwischen NoSQL Datenbanken, die in der Lage sind, sehr schnell und einfach Daten (deshalb spricht man auch von »Smart Data«) zusammenzuführen und aus einem System zu destillieren und verfügbar zu machen. Es ist nicht unbedingt eine Frage des Datenvolumens, dass es in der relativ kleinen Verlagsbranche nicht so von Relevanz ist, obwohl VLB-Tix auf NoSQL-Basis 65 Milliarden Kriterien-Vergleiche bei Suchprofilen in Realtime verarbeiten kann. Aber die schnelle Verfügbarkeit sowie die hohe Nutzerfreundlichkeit bringen für Verlage deutliche Vorteile und hausintern Akzeptanz. Im Vorstand des Unternehmens, das die Software entwickelt hat, sitzt inzwischen ein ehemaliger Oracle-Chef, der mit seinem Wechsel zu MarkLogic nun selbst die technologischen »Fronten« gewechselt hat.

KI-Anwendungsmöglichkeiten in Verlagen

Wie lässt sich KI auf den Verlagsbereich übertragen? Nun, auch Lektoren produzieren – oft ohne sich dessen bewusst zu sein – eine Art »Verkehrsdaten«, indem sie Manuskripte lesen, bewerten und für den nächsten Bearbeitungsschritt sortieren (häufig die Markierung mit »P« für Papierkorb). Mit der KI-Technologie der Nomotekt lassen sich diese Daten sichtbar machen, erfassen und mathematisch verarbeiten. Die KI imitiert auch hier individuelles Verhalten, d.h. sie kann – ausreichendes »Anlernen« vorausgesetzt – die spezifischen Eigenheiten eines Verlags oder sogar bestimmter Lektoren nachahmen. So wäre es etwa denkbar, zwecks Entlastung des Lektorats die eingehenden Manuskripte im Hinblick auf ihr »Passen« zum Verlagsprogramm mit Hilfe von KI vorzusortieren. Auch das Sichtbarmachen von inhaltlichen Verwandtschaften zwischen existierenden und neuen Texten wäre ein mögliches Anwendungsfeld für KI. Es wird spannend sein, zu beobachten, ob Verlage diese Möglichkeiten zeitnah entwickeln, oder ob sie eines Tages mit einem »Google Lektor« konfrontiert sind, der in Sekunden tausende von Manuskripten lesen und bewerten kann.

Zurück zu unseren Daten. In der Tat ist ein aktuelles Thema, die Datenflut aus Excel, Dashboards, Listen und Mails zu sichten. Eine Überforderung an sich, die aufzeigt, dass die Schnittstelle Mensch – Maschine so ihre Schwachstellen haben kann, wenn Probleme nicht frühzeitig analysiert oder gar nicht erkannt werden. Ein aktueller KI-Lösungsansatz ist Immersive Data: das Eintauchen in die Daten unter Zuhilfenahme von Virtual oder Augmented Reality. Diese visualisiert die Datenströme und macht sie schneller handhabbar. »Durch Immersive Data werden Entscheidungshilfen gegeben, weil die Komplexität der Prozesse und die Dauer der Bearbeitung reduziert und die zu erzielenden Ergebnisse genauer werden«, so Philipp Mohr, CEO von Hashplay.

»Sonniges« KI

Zur Anwendung entwickelt sich die Hardware für VR/AR weiter.  Die ersten Business-Brillen, die anmuten wie normale Sonnenbrillen und in Kopplung mit dem Smartphone die Daten einspielen, kommen auf den Markt.  Die Big Three in den USA sollen Gerüchten zufolge an einer Kooperation  für ein entsprechendes Brillen-Produkt arbeiten. Aktuelles Problem: die Prototypen beinhalten eine Kamerafunktion zur KI-Kopplung. Darauf reagieren noch manche Business-Kunden im Rahmen des Datenschutzes allergisch. Aber auch dazu werden Lösungen gefunden werden. Wer googelt, findet aktuell dann auch schon die neuen Business- Smart Glasses von ODG. Schicker geht es dann nicht mehr.

Die Zukunft heute

Die Zukunft kommt. Nein, sie ist schon da und hat schon begonnen. Auch für Verlage. Woran können diese sich orientieren? Was tut sich und welche Branchen sind bereits in den KI-Themen unterwegs?

Man kann sagen, so ziemlich »alle« Branchen sind dran. Der Einzelhandel will und muss sein Amazon- »Problem« bekämpfen. Wenn Sie MediaMarkt oder Saturn besuchen, fällt Ihnen auf: Da wird massiv umgebaut und getestet, wie der Kundenservice mit KI- und VR-Anwendungen verbessert werden kann. Ihre Skiausrüstung testen Sie inzwischen bei einem Sportausstatter im VR-Kälte-Skiraum. Die Industrie investiert unter dem inzwischen fünf Jahre alten Begriff »Industrie 4.0« massiv, die Reise- und Hotelbranche setzt voll auf VR, um ihre Angebote erlebbarer zu machen. Autos werden ohne Armaturen entwickelt, da die Armatur in der mitgelieferten Mixed Reality-Brille sichtbar wird. Die Onliner sind dran und Alibaba, das asiatische »Gegenstück« zu Amazon, rüstet massiv auf. Produktionsunternehmen und Logistikplaner arbeiten immer mehr KI-gestützt. Maritime Off-Shore Unternehmen haben schon eigene KI-Kongresse. Unter Nutzung der digitalen Auswertung und Steuerung der Schiffsschrauben-Konnektivität lassen sich Schiffe noch effizienter betreiben. Versicherungen und Banken optimieren ihre Kunden-Kommunikationsprozesse, indem durch KI die Kundentelefonate begleitet und Versicherungsmitarbeiter vom System gecoacht werden. Immobilienmakler zeigen ihre Objekte virtuell und Hotelzimmer kann der Gast nun auch virtuell erkunden. Sein Auto virtuell zu betrachten ist Standard. Audi rüstet seinen Verkauf mit VR auf. Auch das DIN-Institut in Berlin ist auf dem Weg und begleitet die Industrie mit den entsprechenden Normungen.

Das schillert natürlich nicht alles so bunt, als wenn Elon Musk (CEO Tesla) etwas bekannt gibt, aber am Thema KI wird intensiv gearbeitet.

David Worlock, Senior Advisor von Outsell und einer der am weitesten in die Zukunft blickenden Verlagsmenschen weltweit, sagte beim letzten Publishers Forum in Berlin, dass wir uns mit dem KI-Thema Virtual Reality  in der vierten technologischen Phase seit Einführung des World Wide Web befinden.

Und dem ist dann wahrlich nichts mehr hinzuzufügen.