Digitale Literatur

Hooked, Lifeline und die Aufmerksamkeitsspanne der Generation Smartphone

6. November 2015
von Börsenblatt
Neue Apps bieten zeitgemäß aufbereitete Kurzgeschichten für Menschen mit veränderten Lesegewohnheiten. Die Qualität ist sehr unterschiedlich, wie ein Test der Angebote von Telepathic und 3 Minute Games zeigt.




»Why can't people understand | I got a short attention span | Short | attention | span«
 (Fizzy Bangers)



Die Welt der modernen Kommunikation wird beherrscht von WhatsApp-Gruppen, Facebook-Timelines und Instagram-Galerien, gerade bei Teens und Twens. Dadurch haben sich selbstredend auch Lesegewohnheiten verändert. Einzelne Studien mögen sich zwar im Detail widersprechen, folgende Erkenntnisse scheinen aber unbestritten: Die Aufmerksamkeitsspanne der Leser ist einer Flut von Informationen weiter gesunken, längere Texte werden meist nur gescannt, und die umgangssprachlich formulierte, digitale Kurznachricht ist längst zu einem der wichtigsten Kommunikationsformate aufgestiegen.

Hooked – oder auch nicht

In diesem Kontext muss man die kürzlich auch für den Android–Massenmarkt erschienene App HOOKED 0_0 betrachten (iOS-Version hier). Die Idee dahinter in Kürze (ha!): Geschichten aller Couleur innerhalb von fünf Minuten in Form eines fiktiven SMS-Dialogs auf dem Smartphone erzählen. Für Leser, die nicht so viel Zeit haben. Und denen man lieber Mikroliteratur liefert als gar keine. Hersteller der App ist Telepathic, ein Startup der in den USA viel beachteten Gründerin Prerna Gupta und ihres Ehemanns Parag Chordia. Das Paar kommt aus der Tech-Branche und setzt dementsprechend auf agile Methoden, technische Analysen und schnelle Feedbackschleifen bei der Publikation von Short Stories. Die Absprungraten müssen möglichst gering sein, die Texte der aus dem Netz rekrutierten Autoren werden nach Effizienzkriterien umgeschrieben.

Grundsätzlich ist das kein Ansatz, den man  aus dem literatischen Elfenbeinturm heraus verteufeln muss. Die in der App-Bibliothek angebotenen Genres mögen mitunter albern klingen (»Primal Terror«, »Love As Deep«, »Dark & Stormy«, »The Hidden Files«, »ROFLcopter« und »Android Dreams«), einige Teaser bzw. Taglines heftigste »Heftig«-Sprache bemühen (»At first I thought this unknown number was a total creeper, but the something sort of magical happened«). Aber: Es geht letztlich immer um Unterhaltung, und jedes Medium verlangt seinen eigenen Stil – das wissen alle Kommunikationswissenschaftler.

Was ich an Hooked 0_0 jedoch enttäuschend finde: Die (bisher herausgepickten) Geschichten haben mich überhaupt nicht gefesselt, ich war zu keinem Zeitpukt »am Haken«. Der Schritt für Schritt mitlesbare Nachrichtenaustausch der Protagonisten war mir – im Gegenteil – oft gleichgültig. An keiner Stelle wurde es wirklich romantisch, gruselig, lustig. Darüber hinaus leidet die App an lieblosem Design und langweiliger Typo. Nicht gerade günstige Gebühren haben mich außerdem davon abgehalten, häufiger bei Hooked 0_0 reinzulesen. Der unbegrenzte Zugriff kostet immerhin knapp 3 Euro pro Woche bzw. 8 Euro im Monat oder 40 Euro im Jahr. Da bekommt man anderwo besseren Content für weniger Geld.

Der Mann auf dem Mond

Zum Beispiel, wenn man einen Euro in die großartige App Lifeline (Android, iOS) von 3 Minute Games investiert. Die stößt einerseits zwar ins gleiche Horn wie Hooked 0_0 (Story Telling via Digitaldialog), knüpft anderseits aber viel stärker an die Traditionen der Text-Adventures und Multiple-Choice-Abenteurromane an, die Jugendliche in den 80er Jahren verschlungen haben.

Das minimalistisch-schick designte Spiel erzählt (ausschließlich) die Geschichte des jungen Astronauten Taylor, der mit dem Forschungsschiff Varia auf einem merkwürdigen Mond abgestürzt ist – und nun per Zufalls Kontakt zum Besitzer eines Smartphones (bzw. einer Smartwatch) aufnehmen konnte. Dessen erschreckend verantwortungsvolle Aufgabe besteht darin, Taylor mittels vorgegebener Dialog-Buttons a) gut zuzureden und b) dafür zu sorgen, dass er nicht am Rande des nächsten Kraters verhungert oder erfriert.
 Der Clou an der Sache: Das Spiel läuft in »Echtzeit«, sodass Taylor sich nur alle paar Stunden für ein paar Minuten meldet, um nach neuen Tipps oder Handlungsanweisungen zu fragen, im Anschluss an einen Erkundungsgang etwa.

Interessanterweise ist man nach jeder einzelnen Kommunikation höchst gespannt auf die nächste, denkt über Taylors Schicksal nach und wünscht sich, der Mann auf dem Mond würde sich öfter und ausführlicher melden. Die Häppchengeschichte könnte glatt länger und weniger zerstückelt sein. Der Fluch der kurzen Aufmerksamkeitsspanne wird also kalkuliert gebrochen, mit einem einfachen, alten Rezept: Beiläufig Interesse erregen – und dann fesseln.

Kaum überraschend ist Lifeline ein Bestseller. Hauptschreiber Dave Justus und seine App-Schmiede haben bereits eine Fortsetzung nachgeschoben, an deren Android-Version allerdings noch gearbeitet wird. Ich freu mich drauf – auch wenn ich kein Vertreter der digitalen Mikroliteraturjugend bin.