Immer wieder, wenn ich mich in einen packenden Krimi, Thriller oder Roman Noir versenke, bemerke ich, dass ich vor Spannung alle anderen Körperfunktionen, außer Atmen, eingestellt habe. Ich realisiere: Die Fiktion hat mich fest in ihren Klauen und mit großer Wonne lese ich weiter. Was es dazu braucht? Protagonisten, die mich in ihren Bann ziehen. Weil sie scheinbar widersprüchliche Seiten von sich zeigen und ich mir vorstelle, wie sich das anfühlt, zum Beispiel gleichzeitig vorsichtig und mutig zu sein. Oder verschiedene Charaktere prallen aufeinander, sodass von Anfang an die Atmosphäre flimmert und ich weiß, das kann hier nur schlimm enden. Besonders großartig finde ich es, wenn ich dieses Gefühl schon nach wenigen Seiten habe, so wie es Roger Smith in »Stiller Tod« meisterhaft gelingt. Bereits nach 20 Seiten weiß ich, dass ein wohlhabendes, hellhäutiges Paar in Kapstadt sich innerhalb der Ehe aus dem Weg geht, dass deren kleine Tochter an ihrem Geburtstag ertrinkt und ein dunkelhäutiger Sicherheitsmann nur so tut, als würde er versuchen, die Kleine zu retten, um damit die Sympathie des Ehepaars zu gewinnen. Das kann nur in die Hose gehen und das tut es dann auch ganz gewaltig auf den nächsten 350 Seiten.
Ist dabei ein einziger Tropfen Blut geflossen? Sind mir Eingeweide aus den Sätzen entgegengeströmt? Habe ich nebenbei einen Kurs über Waffenlehre belegt? Nein. Mir wurde weder ausführlich beschrieben, wie eine Ladung Schrot einen Körper zerfetzt, noch wie ein Schwerverletzter seine Organe zurück in den Rumpf drückt, um sich im Adrenalinrausch seinem Angreifer zu widersetzen. All das erzeugt auch Spannung bei mir, neben Ekel und Übelkeit. Aber manchmal ist es mir auch einfach zu viel. Wenn eine Bombe in eine Menschenmenge fliegt und jeder abgerissene Körperteil der Opfer einzeln beschrieben wird, dann macht mein inneres Kino den Schnellvorlauf an und ich blicke nur kurz auf das blutige Schlachtfeld auf meinen Buchseiten.
Warum werden Krimis immer blutiger, immer expliziter in der Schilderung von Verletzungen, überschreiten immer mehr emotionale Grenzen? Ich möchte bitte, dass die Flut der misshandelten Kinder aufhört, die aufmerksamkeitsheischend auf Krimileser einströmt. Ich habe Angst davor, wo diese Entwicklung hinführt. Ich identifiziere mich allzu gern mit den Charakteren in meinen Büchern. Durch Lesen reise ich in andere Welten und begebe mich regelmäßig in Gefahren, die mir real glücklicherweise bisher noch nicht begegnet sind. Ich kann gar nicht anders, als auch zumindest teilweise in die Haut der Bösewichte zu schlüpfen. Aber wenn sie regelmäßig sämtliche Hemmungen fallen lassen und ich mich gedanklich und emotional von ihnen mitreißen lasse, was stellt das mit mir an? Und wo hört das auf? Müssen Krimis und Thriller denn immer mehr zum Wettbewerb der Grausamkeiten werden?
Es geht doch auch anders. Der Großmeister der Spannung, Edgar Allan Poe, hat es uns allen in »Die Grube und das Pendel« gezeigt. Ohne blutige Massaker fesselt Poe in dieser Erzählung meine Sinne und spuckt sie erst nach dem letzten Satz wieder aus. Brillant schildert er die Orientierungslosigkeit des Protagonisten, die langsame Erkenntnis seiner Situation, seine aufsteigende Panik. Permanent erwarte ich als Leser das Schlimmste, als ob es mich selbst jeden Moment trifft und nach der letzten Seite fühle ich mich wie gerade eben mit dem Leben davongekommen. Davon will ich mehr lesen. Mehr Atmosphäre, in der ich mich verliere, mehr Ängste, deren Intensität ich beim Lesen körperlich spüre, mehr Situationen, deren Ausweglosigkeit mich schwer seufzen lässt. Liebe Autoren, bitte verwöhnt mich mit mehr Raffinesse und spart euch das plumpe Gemetzel.
Miriam Semrau ist Krimi-Expertin und bloggt unter krimimimi.com. Einmal im Monat stellt sie auf HR2 neue Lieblingsbücher vor.