Serie: 190 Jahre Börsenverein in 19 Objekten (18/19)

"Indische Liebeskunst obszön? Ein Verleger wird gejagt"

17. Juli 2015
von Börsenblatt
Der Titel dieses Beitrags (der vorletzte unserer Serie) nimmt den Titel einer Broschüre wieder auf, die der Verleger Karl Schustek auf dem Höhepunkt eines Rechtsstreits mit den bayerischen Justizbehörden 1963 veröffentlichte. Die Wortwahl – "gejagt" – lässt aufhorchen, sie deutet einen außergewöhnlichen Hergang an. Was war geschehen? Börsenvereins-Archivar Hermann Staub rollt den Fall auf.

Der in Wien geborene Verleger Karl Schustek (1894−1973) publiziert 1929 in Zusammenarbeit mit dem bekannten Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld das Kamasutram, wohl eines der bekanntesten indischen Lehrwerke über Erotik und Liebe. Die Ausgabe bleibt zunächst unbeanstandet, wird von den Nazis jedoch indiziert. Schustek wird wegen seines jüdischen Glaubens in die Emigration gezwungen, kehrt 1948 nach Europa zurück und nimmt 1953 seine Verlagstätigkeit in Lindau am Bodensee wieder auf. 1958 verlegt er das Kamasutram erneut, gerät nunmehr aber unmittelbar in Konflikt mit der Zentralstelle des Landes Bayern zur Bekämpfung unzüchtiger und jugendgefährdender Schriften. Am 27. November 1959 werden alle gebundenen und ungebundenen Exemplare des Kamasutram beschlagnahmt. 

Es dauert vier Jahre, bis Schustek im August 1963 vor dem Amtsgericht Lindau angeklagt wird. Der Verleger wird freigesprochen, die beschlagnahmten Bücher zurückgegeben. Einen Tag später jedoch legt die Staatsanwaltschaft Kempten Berufung ein, die Bücher werden erneut konfisziert. An den Folgen der Aufregung über diesen "Allgäuer Feldzug gegen die indische Liebeskunst" – so titelt die "FAZ" am 10.9.1963 – stirbt die Geschäftsführerin des Verlags, Schusteks Schwägerin Susanne Schulz. Im Mittelpunkt beider Verhandlungen steht der "Krieg der Gutachter", auf Schusteks Seite u.a. der renommierte Schriftsteller und Literaturhistoriker Willy Haas. Das Gericht pflichtet den Gutachten der Verteidigung bei, die den kulturhistorischen Wert des Kamasutram betont hatten. Als sich in der Berufungsverhandlung auch die Gutachter der Anklage gegen die Unzüchtigkeit der inkriminierten Kamasutram-Ausgabe aussprechen, zieht der Kemptener Staatsanwalt seine Berufung zurück, der Freispruch Schusteks wird rechtskräftig.

Der Fall Kamasutram ist nur ein Beispiel für den Umgang der Justiz mit "freizügiger" Kunst und Literatur in den ersten drei Jahrzehnten der Bundesrepublik. Er wird dokumentiert im Archiv des Verlags Karl Schustek, das neben weiteren geschlossenen Archivbeständen von Verlagen und Buchhandlungen vom Historischen Archiv des Börsenvereins in der Deutschen Nationalbibliothek betreut wird. Ausführlich nachzulesen ist die "Kamasutram-Murder-Story" (O-Ton Schustek) in dem gerade erschienenen Tagungsband "Erotisch-pornografische Lesestoffe" (Wiesbaden: Harrassowitz 2015).

Hermann Staub (h.staub@dnb.de)