Ob die re:publica diesem Anspruch gerecht werden konnte, ließ sich für den einzelnen Beobachter angesichts der Fülle des bislang nie da gewesenen Angebots kaum noch ausmachen. 850 Speaker aus 60 Ländern boten den rund 7.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern in fast 400 Sessions auf 17 Stages mehr als 500 Stunden Programm, das von rund 700 akkreditierten Medienvertretern in alle Welt getragen wurde – eine Konferenz der Superlative. Das Resümee von re:publica-Geschäftsführer Andreas Gebhard unterstreicht den Gestaltungsanspruch der Konferenz: "Die re:publica 2015 ist zwar physisch vorbei, doch in unserer vollständigen Dokumentation nahezu aller Sessions in Ton und Video lebt sie weiter. Mehr noch, sie dient als Zeitgeistdokument des Zustands der digitalen Welt. Sie ist etwas, das uns noch das ganze Jahr über Anregungen liefert, zu denken gibt."
Ein Programm ohne unsere Branche
Eines jedoch wurde schon bei einer ersten Durchsicht des Programms deutlich: Die Buchbranche spielte mit den vor ein paar Jahren noch prominent vertretenen Themen wie E-Book, dem Prinzip Buch oder Selfpublishing so gut wie keine Rolle mehr. Sogar das vor Jahren auf der re:publica noch heiß diskutierte Thema Urheberrecht fand sich 2015 in lediglich einer Session wieder. Unter dem etwas nebulösen Titel "Wider die Bewilligungskultur im Netz" formulierte Leonhard Dobusch von netzpolitik.org jedoch nur altbekannte Thesen ohne wirklich neue Perspektiven.
Nicht zufällig wurde das bisher auch für die Buchbranche zuständige Konferenzthema "Media" durch ein Bildschirm-Icon visualisiert. Und in dessen wenigen Slots hierzu wurden Bloggerfragen, die Internetnutzung, YouTube und Entwicklungen im Journalismus verhandelt. Der Buchhandel blieb außen vor. Da passte es ins Bild, dass der einzige Slot für Bibliotheken abgesagt werden musste.
Ein Programm mit Anspruch auf Nachwirkungen
Am dritten Kongresstag und kurz vor Ende der re:publica unterstrich eine anrührende Szene die Stimmungslage der Veranstaltung. In der hoffnungslos überfüllten Stage 2 bat Jacob Appelbaum die Wikileaks-Aktivistin Sarah Harrison auf die Bühne und dankte ihr unter tosendem Applaus dafür, dass sie Edward Snowden das Leben gerettet hat.
Am gleichen Tag eröffnete Johannes Kleske, Gründer und Geschäftsführer der Unternehmensberatung "Third Wave", das Programm auf Stage 6 mit seinem Vortrag "Mensch, Macht, Maschine – Wer bestimmt, wie wir morgen arbeiten?" In dieser Session wurde am Beispiel digitaler Arbeitswirklichkeiten auf drastische Weise deutlich, wie das Netz zu einem Ort kapitalistischer Arbeitsabhängigkeiten mutieren kann. Google, YouTube, Facebook & Co. beschäftigen nicht nur fest Angestellte in ihren vielbestaunten Headquarters, sondern jeweils die vielfache Menge von »freien« Mitarbeitern, die von der New York Times als Datenhausmeister bezeichnet werden. "Mechanical Turk" heißt die Amazon-Plattform, auf der Hunderttausende Jobs angeboten werden. Diese Netzarbeiter löschen anstößige YouTube-Videos, überprüfen Einträge für Suchmaschinen oder aktualisieren Geo-Informationen. Sie bekommen keine Arbeitsverträge, sondern akzeptieren Nutzungsbedingungen der Apps, denen sie zuarbeiten. Sie haben keinen Kontakt zu ihren Arbeitskollegen und können Änderungen der Nutzungsbedingungen zu ihren Ungunsten nicht verhandeln. Wer meint, die Inhalte der globalen Netzanbieter werden allein durch superintelligente Algorithmen generiert, befindet sich auf dem Holzweg. In Wirklichkeit entstehen die Angebote, von denen wir profitieren, durch die Arbeit hunderttausender Menschen, die anonym bleiben. Und obendrein werden sie für ihre Arbeit hungerentlohnt. Johannes Kleske forderte in seiner sozialdemokratisch-gewerkschaftlich angehauchten Session dann auch konsequent die Entstehung einer neuen Arbeiterbewegung. Dieser überhaupt nicht emphatische Blick auf das Netz war noch vor Jahren auf der re:publica kaum denkbar und markiert einen Paradigmenwechsel der Konferenz, die im kommenden Jahr ihr zehnjähriges Jubiläum feiern wird.
"Europa und das Internet haben viel gemeinsam", fasste Markus Beckedahl zusammen. "Beides waren positive Utopien, die Brüche bekommen haben. Darüber haben wir auf der re:publica drei Tage lang diskutiert. Es liegt an uns und unserem Engagement, wie wir die Zukunft gestalten wollen."