re:publica 2014

Auf dem Weg zur Gesellschaftskonferenz

16. Juli 2015
von Börsenblatt
Politischer denn je war die Netzkonferenz re:publica in diesem Jahr. Die Themen reichten vom NSA-Überwachungsskandal über Journalismus und das Internet der Dinge bis zum "Betriebssystem Buch". Detlef Bluhm, Schriftsteller und Geschäftsführer des LV Berlin-Brandenburg, hat die re:publica für boersenblatt.net besucht. Lesen Sie hier seinen Bericht.
Schon auf dem Weg zur re:publica wird deutlich, dass die dreitägige Konferenz anders ist als in den vergangenen Jahren. Ganz anders. In Zusammenarbeit mit dem »Berliner Fenster« wurden im Vorfeld 420 Video-Beiträge zu den Sessions der re:publica produziert, die zusammengerechnet 34 Stunden Filmmaterial ergaben und, über die Screens der Berliner U-Bahnen ausgestrahlt, täglich 1,7 Millionen Fahrgäste erreichten. Der Geschäftsführer der re:publica Andreas Gebhard bewertete diese Aktion als »Verlängerung der Veranstaltung in die gesamte Gesellschaft.« Es ging bei dieser Maßnahme also nicht um eine Bewerbung der Konferenz, sondern darum, die Themen der re:publica in die gesamten Bevölkerung zu kommunizieren.

Überraschung auch am Eingang zu Europas größtem und bedeutendsten Jahrestreffen der digitalen Elite. Der Einlass zur STATION, dem Tagungsort, befindet sich zum ersten Mal seit sieben Jahren am Gittertor zum Innenhof des ehemaligen Berliner Postbahnhofs in Kreuzberg. In den Vorjahren bot diese weitläufige Freifläche zahlreichen Zaungästen die Möglichkeit, sich zu verabreden und zu vernetzen. Ohne die Sessions zu besuchen, ohne Eintritt zu bezahlen. Nun also kann dieser Basar der Kontakte und Gespräche, das pulsierende Epizentrum der re:publica, allein von registrierten Gästen betreten werden. Dennoch trifft man hier auch in diesem Jahr viele Konferenzteilnehmer, die sich überwiegend im Hof aufhalten, nur wenige Sessions besuchen und diese Mischung aus Schulhof und Netzwerklocation intensiv für Diskussionen nutzen – und auch, um zu sehen und gesehen zu werden.

In seiner traditionellen Rede am ersten Konferenztag, diesmal nicht ohne programmatischen Hintersinn als »Rede zur Lage der Nation« überschrieben, spart Deutschlands bekanntester Internet-Erklärer Sascha Lobo nicht mit Kritik an seinen Zuhörern in der überfüllten Stage 1. »Ihr habt versagt«, fasst er seine Botschaft zusammen. »Ihr tut so, als ob euch die Netzpolitik wichtig wäre. Ihr twittert, aber ihr überweist kein Geld.« Sein Forderung: »Wir müssen von einer Hobby-Lobby zu einer finanzierbaren ernsthaften Lobby werden.« 

In seiner Rede wird deutlich, dass die re:publica nicht mehr allein ein Bloggertreffen oder eine Internetkonferenz sein will, sondern auch oder sogar vor allem ein Diskussionsraum für alle politischen Fragen, die durch die Digitalisierung und selbstverständlich auch durch die von Edward Snowdons aufgedeckte weltweite Überwachungspraxis der Geheimdienste aufgerufen worden sind. Im Jahr nach Snowdon reagiert die re:publica erwartungsgemäß und tritt in eine neue Phase ihrer Politisierung ein. Dieser Paradigmenwechsel der re:publica ist an der Dominanz politischer Themen in den Sessions deutlich ablesbar. »Wir sind jetzt dort, wo wir immer hin wollten«, ergänzte das Mitglied des Gründungsteams der re:publica Markus Beckedahl an anderer Stelle.

Selbst Veranstaltungen zu politisch unverdächtigen Themen geraten zu politischen Manifestationen. So der halbstündige Talk von Gesche Joost auf der Hauptstage der re:publica. Ihr unter »science:lab« rubrizierter Vortrag »Designforschung für eine vernetzte Gesellschaft« beginnt mit der Eingangsfrage: »Meine Daten: kann man diesen Begriff eigentlich noch aufrecht erhalten?« Und ihre Forderung: »Wir müssen politischer werden.« Sie zitiert Yasmina Banaszczuk: »Get real, Netzgemeinde!« und verkündet das Ende der Naivität. Gesche Joost fragt aber auch, wer all die Botschaften und Appelle, Befürchtungen und Analysen draußen versteht? Wie kriegen wir alle mit ins Boot? Wie ermöglichen wir Teilhabe? Und sie fordert vom Applaus des Publikums begleitet, dass Programmieren ab der Grundschule gelehrt werden sollte, um das Ende einer elitären Nerd-Kultur einzuleiten. Programmieren ist die Schlüsselkompetenz der Zukunft. Das heutige Wissen weniger Spezialisten muss zum Allgemeingut und zur selbstverständlichen Kulturtechnik vieler werden. Schließlich zeigt Gesche Joost doch einige Beispiele aus ihrem Design:Lab.

Verblüffend ist die Präsentation eines digitalen Handschuhs für taubblinde Menschen, die sich nur über ein auf die Hand getipptes Alphabet verständigen können. Dieser Handschuh (Lorm Hand) ist mit elektronischen Impulsgebern an den »alphabetischen Tasten« der Hand versehen. Diese Signale werden von einem Smartphone übertragen und von einer anderen Hand empfangen und decodiert. So können mehrere Taubblinde miteinander kommunizieren, nichtbehinderte Menschen lesen die Botschaften auf ihrem Handy und können sich mit Taublinden unterhalten. Für diese Präsentation gibt es Riesenbeifall.

Zwischen all den Fachvorträgen und Workshops glänzte Wibke Ladwig in dem gefährlich überfüllten zweitgrößten Veranstaltungssaal mit einer witzigen und kurzweiligen halben Lehrstunde über die deutsche Sprache, einem Parforceritt durch Grammatik und Wortschatz, Synonyme, Kunstworte und Archaismen. Sie bot einem schmunzelnden Publikum, immer wieder durch Lachen und Szenenapplaus unterbrochen, beste Unterhaltung. So konnte gelernt werden, dass das heute bei Kindern und Jugendlichen beliebte Modewort krass als Wort aus der Studentensprache des 18. Jahrhundert bereits in Grimms »Deutschen Wörterbuch« Erwähnung fand.

Nicht jedermanns Sache dagegen war die Session »Cyborgs, sechste Sinne und selbstaufgerüstete Untote« mit Stefan Greiner und Nadja Buttendorf vom Berliner »Cyborg e.V.«. Der Begriff Cyborgs (von: Kybernetische Organismen) wurde 1960 geprägt, als man meinte, den Menschen für den Aufenthalt im Weltraum technisch aufrüsten zu müssen. Bei der Cyborg-Bewegung geht es unter anderem um die Ergänzung des menschlichen Organismus durch technische Implantate zur Verbesserung der menschlichen Fähigkeiten, zur Verlängerung des Lebens, ja sogar darum, das menschliche Gehirn durch »hochladen« unsterblich zu machen. Ziemlich skurril: Nadja Buttendorf sprach mit sehr angegriffener Stimme und erklärte das damit, dass man vor ein paar Tagen versucht habe, ihre Stimmbänder an einen Google-Translater anzuschließen: »Hat nicht ganz gut funktioniert«. Tja, auch solche Themen werden auf der re:publica verhandelt.

Das Verhältnis zwischen Online-Journalismus, Blogs und klassischen Medienformaten ist traditionell ein relevantes Thema der re:publica. Ab Mitte der Neunziger Jahre stellten Medienhäuser ihre Nachrichtenangebote, für deren Offline-Versionen das Publikum zahlte, kostenlos ins Netz. Seit einigen Jahren spricht man nun schon vom Web2.0, in dem jeder Nachrichten und Meinungen veröffentlichen kann, ohne hohe technische und finanzielle Hürden überwinden zu müssen. Lange wurde darüber debattiert, ob das damals für eine breitere Öffentlichkeit noch neue Medium »Blog« dem Online-Journalismus Konkurrenz machen könne. Auf dieser diesjährigen Republica lies sich feststellen: Es wird kaum mehr zwischen den einst konkurrierenden Formaten unterschieden. Selbstverständlich nutzen Journalisten das Internet für ihre Arbeit und als Publikationsmedium, und zwar über alle Größenordnungen und für Text genauso wie Videos und Audio. In mehreren Vorträgen standen dabei zwei ähnliche Aspekte im Vordergrund: Die Kommunikation mit dem Publikum, etwa als Themengeber, sowie das politische Engagement der Journalisten, das in ihrer Arbeit deutlich zum Ausdruck kommt. Dabei fällt auf, dass aktuelle Online-Nachrichtenmedien, wie etwa »Syria Deeply«, vorgestellt von Lara Setriakian, oder das charmante »Crowdspondent« von Lisa Altmeier und Steffi Fetz, in der Regel spezifische Themen (der Syrienkonflikt) beziehungsweise Zielgruppen (die durch Mundpropaganda eigens aktivierte Fan-Crowd) haben. Und sich damit Geld verdienen lässt: »Syria Deeply« schreibt in seinem dritten Jahr schwarze Zahlen, und die Crowdspondents sammeln bereits für ihre nächste Tour durch Deutschland.

Von den anwesenden Besuchern aus unserer Branche mit Spannung erwartet: Die Session zum »Betriebssystem Buch« von Dorothee Werner und Sascha Lobo. Im Rahmen der ansonsten sehr formatarmen re:publica haben die beiden schon in formaler Hinsicht ein intelligent zubereitetes Filetstück abgeliefert: im Duett unter Einbeziehung von Twitter-Hashtags, Live-Hashtags, Zwischenrufen und Publikumsabfragen vorgetragen, entstand ein einstündiges, quirliges Denklaboratorium zu dem, was das Buch war, ist und sein könnte, mit historischen Beispielen unterfüttert und auf höchstem intellektuellen Niveau ohne Belehrung und äußerst spannend.

Die rege Beteiligung des Publikums im hoffnungslos überfüllten Saal (es gingen sogar die hier notwendigen Kopfhörer aus) zeigte nicht nur das große Interesse am Thema, sondern ist auch als Kompliment an die beiden Vortragenden zu begreifen, die in einer der letzten Vorträge der re:publica 2014 mit ihren funkelnden Gedankensprüngen vorgeführt haben, wie eine gedanklich nachhaltige Session aussehen sollte.