Rainer Nitsche bedankte sich für die "Goldene Nadel" so:

"Oh Gott, Frankfurt am Main"

30. April 2010
von Börsenblatt
Geistreich, deutlich und mit liebevoller Ironie bedankte sich Rainer Nitsche vor dem Branchenparlament für die "Goldene Nadel", die Vorsteher Gottfried Honnefelder dem Berliner Transit-Verleger zuvor buchverdiensthalber ans Revers gesteckt hatte:
"Was soll man sagen. Entweder man sagt: man hat's gar nicht verdient; oder: man hat nur seine Pflicht getan. Oder man gibt ein staatsmännisches Statement ab, um die Ehrung nachträglich zu rechtfertigen. Oder man ist zutiefst gerührt, weil man sich endlich als guter Mensch erkannt fühlt. Oder man sagt die Wahrheit. Und weil die Wahrheit immer viel unterhaltsamer ist, die Wahrheit, ein bisschen im Stakkato, um Ihre Zeit nicht zu strapazieren:

Ehrenamt, Verband: Reinschnuppern als Selbstverständlichkeit, als Neuling kurz nach der Verlagsgründung, auf der Mitgliederversammlung, Neuwahlen, plötzlich kam der Kandidat für den Landesvorsitz auf die irrwitzige Idee, mich zum Schatzmeister zu machen, allein das Wort löst bei mir bis heute so etwas wie Fleckfieber aus, also nein gesagt, seine knappe Reaktion war: »Vollidiot«. Ein pädagogisch vorbildliches Exempel dafür, wie man ehrenamtlichen Nachwuchs gewinnt.

Mitarbeit danach im Grunde nur ein Mittel, um sich unauffällig dem Buchhandel zu nähern, also das für Verleger ewig rätselhafte Wesen genauer zu studieren, das ewig scheue Reh. Verleger, Autoren, die kannte ich. Der erste große Schritt der Annäherung: Gemeinschaftsbuchhandlung in Berlin 1987, 750 Jahre, ich wurde an die Kasse beordert, Umsätze nach oben katapultiert: statt 50.00,- 5000,- Mark eingegeben. Der Jubel der Buchhändlerinnen abends beim Kassensturz kannte keine Grenzen. Merke: Der Buchhändler kommt so richtig aus sich heraus erst dann, wenn die Umsätze sprunghaft nach oben steigen.

Dann, schöne Bekanntschaften, viele Ideen, viele Feste, weniger ein regulierter Verband, eher eine formlose, spaßige und verschworene Gemeinschaft von Buchhändlern, Verlegern und Vertretern und Mitarbeitern der Geschäftsstelle, mit dem einen Ziel: dem Buch, den Autoren im damaligen eingezwängten West-Berlin schöne Auftritte zu verschaffen. Zu den Buchhändlertagen 1987 steckte mich Klaus Wagenbach in ein Bärenfell, ein unvergesslicher und schweißtreibender Marketing-Gag mit dem Ziel, unsere Anthologie »Lesebär« in passendem Kostüm loszuwerden. Zwei Jahre später dann das Ende des seligen West-Berlins, neue, meist auch erfreuliche Erfahrungen mit Buchmenschen aus dem Osten Berlins und aus Brandenburg, die über unseren unkonventionellen Verbandsstil manchmal etwas sprachlos waren und mit denen wir uns neue Aktivitäten, auch fürs weite, neue Land, ausdenken mussten.

Dann nach einigen Jahren: oh Gott, Frankfurt am Main.

Ausgangsbasis und Voraussetzung, um nach FFM delegiert zu werden: die Grundüberzeugung: die in Frankfurt am Main sind ganz, ganz fürchterlich. Man hörte immer nur einen Vergleich aus dem Tierreich: Schlangengrube.

Erste Sitzung Verlegerausschuss: lauter Böse. Bekannt aus dem Börsenblatt, eigentlich das Bösenblatt, damals eine wöchentliche Fotostrecke aller Platzhirsche aus dem Hirschgraben. (Das hat sich ja zum Glück sehr geändert.) Mein Nachbar stellte sich vor: ein Herr Wössner. Also gleich am ersten Tag neben mir so etwas wie eine Riesen-Python in der Schlangengrube. Der Bertelsmann fragte mich dann, worum es auf dieser Sitzung überhaupt gehe. Und war äußerst dankbar über meine ungefähre Wiedergabe der Tagesordnung. Das irritierte mich dann schon: Wie kann ein Böser so ahnungslos sein? Dann öffnete er seinen mehrfach und mit geheimen Zahlenkombinationen verschlossenen Aluminiumkoffer. Oben drauf Butterbrot, darunter die Bildzeitung. Sehr familiär also. Keine Schecks, kein Bargeld, keine Fahndungsfotos von Bestsellerautoren. Das Butterbrot war natürlich ein ebenso dezenter wie kollegialer Hinweis, das Mittagessen im Buchhändlerhaus unbedingt zu meiden.

Am Tag darauf die erste Abgeordnetenversammlung. Steif, gravitätisch, ein Ritual von äußerst gestandenen Herren, die ebenso konstant schweigsam wie konstant zustimmungswütig waren. Diskussionsbeiträge oder einfachste Fragen, erst recht von Neulingen, wurden gnadenlos in die Ecke des Querulantentums gestellt. Das gehörte sich einfach nicht. Ich fand mich in einer sehr kleinen Minderheit wieder: drei, vier Stimmen, hauptsächlich aus Berlin, fast immer dagegen – völlig zu Recht übrigens. In dieser kleinen Schar der Außenseiter immer dabei ein damals schon grauhaariger, schmaler und irgendwie auch eleganter Herr. Ich hielt ihn für einen angenehm originellen Kleinstverleger, wegen des norddeutschen Akzents vermutlich aus Pinneberg, tatsächlich aber kam er aus Reinbek und war kaufmännischer Geschäftsführer von Rowohlt, schon wieder brach ein Weltbild zusammen.

Dann Länderrat, mehr Arbeit im Landesverband und schließlich Verbandsreform. Das letzte hatte Tempo, das hat Spaß gemacht. Warum macht man das so selten? Es gibt so viel Potential, nicht nur intelligente, auch phantasievolle und produktiv querdenkende Leute, die man für die schnelle und unkonventionelle Lösung komplizierter Fragen oder Projekte gewinnen kann. Das kostet auch nicht viel: Honorar für mindestens 40 Stunden Arbeit war damals eine anständige Flasche Rotwein, die uns Herr Heker schicken ließ.

Zum Schluss doch noch was ins Stammbuch – to whom it may concern. Der Grund: Eine merkwürdige Koinzidenz. Als ich das Schreiben vom Vorstand wegen der Ehrung und einer Begründung (Arbeit im Landesverband etc.) erhielt, kam am selben Tag von Frankfurt eine Mail der Pressestelle, die, etwas verblümt zwar, aber doch eindeutig das glückliche Ende unserer angeblich vorsintflutlichen föderalen Struktur ankündigte.

Also muss jetzt abschließend eine kurze Botschaft folgen (bleiben Sie bitte sitzen): Die weltweit einzigartige Buchhandels- und Verlagslandschaft in Deutschland lässt sich nur mit vitalen Landesverbänden bewahren, und das hat absolut nichts mit Provinzialität oder Vereinsmeierei zu tun. Auch ein Bundesverband ist angewiesen auf den Nachwuchs und auf Ideen und Aktivitäten, die aus den Landesverbänden kommen. Der Börsenverein ist ja für sich, als eingetragener Verein, nicht richtig viel wert. Wertvoll und auch politisch attraktiv machen ihn die vielen, vielen Mitglieder, die Großen und die immer noch erstaunlich große Menge der Mittleren und Kleinen. Diese Kultur der Vielfalt und damit auch die Vielfalt der Kultur für die Zukunft zu erhalten, das ist wirklich unser aller Anstrengungen wert!"