Oktoberrevolution: Novitäten zum 100. Jahrestag

Revolution!

27. Dezember 2017
von Börsenblatt
Im zweiten Anlauf hat es im November 1917 geklappt: Den Bolschewiken gelang es, aus dem multi-ethnischen Zarenreich die Sowjetunion zu formen. Bücher zum 100. Jahrestag.     

»Historiker sind auch Zeitgenossen«: Dieser Satz eröffnet das wohl umfangreichste Werk zum Thema, »Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt« (C. H. Beck, 912 S., 38 Euro). Es ist keine streng wissenschaftliche Abhandlung, eher ein essayistischer Spaziergang durch eine untergegangene Lebenswelt, die Autor Karl Schlögel oft bereist und erlebt hat. Betrachtungen über die Rolle des Gummibaums, der Eisenbahn, Speisekarten sowie die Angebote auf Basaren und Märkten: Schlögel entwickelt aus diesen »Ausstellungsstücken« eine fesselnde und facettenreiche Kulturgeschichte des sowjetischen Alltags und spürt ihren Auswirkungen bis heute nach. Auch wenn die Sowjetunion politisch untergegangen sein mag – kulturgeschichtlich sind ihre Spuren und Einflüsse evident.

Einen spannenden Ansatz verfolgt »100 Jahre Roter Oktober. Zur Weltgeschichte der Russischen Revolution« (Ch. Links, 352 S., 25 Euro): In elf wissenschaftlichen Essays fragen die Autoren nach den Auswirkungen in den jeweiligen Jahrzehnten des sowjetischen Jahrhunderts. So wird in Zehn-Jahres-Schritten deutlich, wie sehr sich die Erinnerung an die Revolution verändert und für aktuelle Politik und Machtspiele genutzt wurde. Den Autoren gelingt dabei ein faszinierendes Kaleidoskop, das viel über die Mechanismen der Erinnerungskultur verrät. 

Auch die Beiträge in »1917. 100 Jahre Oktoberrevolution und ihre Fernwirkung auf Deutschland« (Nomos, 286 S., 54 Euro) beleuchten die teils abstrakteren, teils ganz konkreten Verbindungen von Marx, Engels, Lenin und Stalin und die Verflechtungen der Kommunistischen Partei. Hochaktuell ist dabei unter anderem Gerhard Simons Betrachtung über die Frage der Nation und das schier paradox agierende Wesen des Sozialismus: äußerst lesenswert. Mindestens ebenso lehrreich widerlegt Catherine Merridale in ihrer literarischen Reportage »Lenins Zug« (S. Fischer, 384 S., 25 Euro) das Gerücht, Lenins Zugreise von Zürich über Deutschland nach Petrograd sei von Deutschland finanziert worden. Die britische Historikerin zeichnet ­Lenins Fahrt minutiös nach und verdichtet dramaturgisch, sodass man fast einen Roman zu lesen glaubt, dem es hier und da an einer wissenschaftlichen Distanz zum Sujet fehlt.

 Dass Distanz nicht immer gegen die Lesbarkeit von Monografien spricht, zeigt der Historiker und Journalist Victor Sebestyen in »Lenin. Ein Leben« (Rowohlt, 704 S., 29,95 Euro) eindrücklich. Er folgt den Spuren des »Berufsrevolutionärs« Wladimir Uljanow, der de facto nur vier Jahre an der Macht war und dennoch ein Jahrhundert beeinflusste. Doch was war sein Antrieb, welche Ideen (und vor allem welche Frauen) machten ihn zu der Person, die er wurde? Sebestyen versucht, den Menschen hinter der Legende freizulegen und fokussiert auf die Kindheit Lenins, seine Exilzeit und seine Beziehungen zu den Frauen. Die Frage, wie er »solch außergewöhnliche Dinge tun konnte«, bleibt dabei aber weiterhin offen. 

Wer lange Texte scheut, dem sei unter Hinweis auf einen phänomenalen »Erkenntnis-pro-Seiten-Faktor« Alexandra Litwinas und Anna Desnitskayas »In einem alten Haus in Moskau« ­(Gerstenberg, 24,95 Euro, ab 12) ans Herz gelegt: 100 Jahre ­sowjetische Alltags- und Kulturgeschichte auf 60 Seiten! Dabei zeigt das Buch mit seinen großflächigen Wimmel-Illustra­tionen nicht nur, was das sowjetische Zeitalter für die Menschen bedeutet hat, sondern auch, wie sich scheinbar große und abstrakte Politik auf die Lebenswirklichkeit niederschlägt. Famos!