Novitäten aus Südamerika

Mehr als Tango und Amazonas

14. Juni 2017
von Anita Djafari
Charismatische Politiker, Fußball und gesellschaftliche Verwerfungen – Autoren aus Südamerika geben mit aktuellen Titeln spannende Einblicke in ihre Heimatländer. 

Kolumbien
Ein einflussreicher Karikaturist auf dem Höhepunkt seiner Karriere, eine lebende Legende. Nach einer Veranstaltung ihm zu Ehren trifft er eine junge Frau, die ihn vor über 30 Jahren bei der Aufklärung eines sexuellen Übergriffs um Hilfe gebeten hatte. Ihm fällt jetzt als Schuldiger ein Politiker ein, den er noch nie leiden konnte – und vernichtet dessen Existenz mit einer niederträchtigen Karikatur. Ein hochaktuelles Lehrstück über Macht und Medien, Moral und Doppelmoral. Weltklasse. 

Juan Gabriel Vásquez: "Die Reputation", Schöffling, 192 S., 19,95 €

Chile
Eine alt gewordene, zurückgezogen lebende Schriftstellerin stürzt in ihrem Haus und fällt ins Koma. Eine französische Studentin ist von deren Werk besessen und zieht nach Chile, um für ihre Doktorarbeit über sie zu forschen. Der Nachbar Daniel, ein un­glücklich verheirateter Architekt, ist der Kultautorin freundschaftlich verbunden und besucht sie täglich im Krankenhaus. Dort trifft er die Studentin, und nach und nach entfalten sich – erzählt aus drei Perspektiven – die lebenslangen Geheimnisse, die die drei Protagonisten miteinander schicksalhaft verbinden. Ein raffiniert angelegtes Konstrukt, spannend wie ein Krimi.

Carla Guelfenbein: "Stumme Herzen", S. Fischer, 384 S., 24 €

Chile
Zambra ist ein lässiger Erzähler, der mit diesen Geschichten großes Vergnügen bereitet. Die Klammer ist die Erinnerung an früher, ans Heranwachsen im Chile der 1980er Jahre, an persönliche Ereignisse und an gesellschaftlich relevante wie den Fußball. Es sind Episoden, Momentaufnahmen, Ausschnitte, die etwa vom ersten Computer erzählen, von (meist fehlgeschlagenen) Beziehungen, vom Versuch, ein Held zu werden, egal auf welchem Gebiet, und vom Rauchen.

Alejandro Zambra: "Ferngespräch", Stories, Suhrkamp, 238 S., 22 €

Argentinien
Mit diesen Erzählungen lernen wir eine ganz neue Stimme aus Argentinien kennen. Eine, die den Finger in die Wunden der Gesellschaft legt, deren Mittelschicht vom kontinuierlichen Abstieg bedroht ist. Ihre Figuren befinden sich bereits  allesamt auf der Verliererstraße: Eine junge Frau verfolgt einen obdachlosen Straßenjungen, der ihr verdächtig erscheint. Ein junger Mann macht Stadtführungen auf den Spuren berühmter Schwerverbrecher und wird vom Gespenst eines Massenmörders heimgesucht. Ein Mädchen fühlt sich von einem Geist dazu getrieben, sich selbst zu verletzen. Und so geht es weiter mit den knallhart realistischen, dabei in ruhigem Ton erzählten Geschichten, die eine enorme Kraft entfalten und die man trotz allem bizarren Elend gern liest. Weil sie spannend geschrieben sind, voller Sympathie für ihre Protagonisten, ohne jede Sentimentalität.

Mariana Enriquez: "Was wir im Feuer verloren", Ullstein, 240 S.,18 €

Bolivien
Ein junger Bolivianer palästinensischer Herkunft mit Wohnsitz in den USA schreibt über die Geschichte einer deutschen Auswandererfamilie: Auf gerade mal 141 Seiten verdichtet er das Drama um Hans Ertl, der als einstiger Kameramann Leni Riefenstahls im Nachkriegsdeutschland nicht mehr erwünscht ist und mit Frau und drei Töchtern nach Bolivien geht. Doch das neue Leben gestaltet sich für alle nicht einfach, der Vater ist ein Getriebener, der ständig zu neuen Abenteuern aufbricht. Die Familie kommt damit nicht zurecht, seine seelisch instabile Tochter Monika schließt sich auf der Suche nach Halt den radikalen Strömungen in ihrer Umgebung an. Meisterhaft!

Rodrigo Hasbún: "Die Affekte", Suhrkamp, 142 S., 18 €

Brasilien
Ruffato zeigt uns die andere Seite des Tropenparadieses mit seinen schillernden Metropolen und führt uns ins staubige Hinterland zu den Armen und Elenden in den 1970er Jahren, die Zeit der Militärdiktatur. Wer irgendwie kann, zieht raus aus den Verschlägen in den Stadtteil "Paraíso" und baut ein Häuschen aus Stein, mit fließendem Wasser ... In fast atemlos vorgetragener Prosa, im unverwechselbaren Stakkato, gibt er denen eine Stimme, die sich nichts weiter als ein besseres Leben wünschen – mit rührenden, hoffnungsvollen, traurigen, wütenden Lebensgeschichten.

Luiz Ruffato: "Teilansicht der Nacht", Assoziation A, 144 S., 16 €

Venezuela
Eine so autokratische und umstrittene, charismatische Gestalt wie Hugo Chávez, von 1999 bis 2013 Staatspräsident von Venezuela, musste eines Tages zu einer literarischen Figur werden. Der Roman umfasst den letzten Lebensabschnitt zwischen der Krebsdiagnose 2011 und seinem Tod. Dabei gelingt es dem Autor, durch ständigen Perspektivenwechsel die höchst unterschiedlichen Ansichten zu schildern, die in diesen beiden letzten Jahren über den gleichermaßen Verehrten und Verhassten geherrscht haben, der den Abgrund, vor dem das Land jetzt steht, mit verursacht hat. Ein erhellendes literarisches Zeugnis.

Alberto Barrera Tyszka: "Die letzten Tage des Comandante", Nagel & Kimche, 256 S., 22 €

Kolumbien
Ein Tyrann, der seine beiden fast erwachsenen Zwillingssöhne als Versager betrachtet. Eine Mutter, die darüber verrückt geworden ist. Alle leben und arbeiten zusammen in einem Hotel am karibischen Strand. Als die drei Männer eines Tages zum Fischen hinausfahren, geraten sie in Seenot. Nach stunden­langem dramatischem Kampf mit den Naturgewalten geht der Vater über Bord, und die Brüder müssen eine Entscheidung fällen über Leben und Tod. Archaisch.

Tomás González: "Was das Meer ihnen vorschlug", Mare, 160 S., 18 €