Neue Märchen-Fantasy-Titel

Märchenhafte Helden

16. November 2017
von Maren Bonacker
Immer wieder werden sie um- und fortgeschrieben: In diesem Herbst kommen besonders viele Novitäten der "Fairy Fantasy" auf den Markt.

Wen immer man fragt – fast jeder kann ein Lieblingsmärchen nennen. Bei Rhiannon Thomas ist es das Märchen von Dornröschen, das sie in ihrem Zweiteiler "Ewig. Wenn Liebe erwacht" und "Ewig. Wenn Liebe entflammt" (Sauerländer, je 400 S., 16,99 Euro) weitertreibt: Die oft auch über Feminismus schreibende Autorin hinterfragt den süßesten Moment der Geschichte, den Kuss. Die vom Prinzen geküsste Aurora erwacht und kommt recht schnell zu der Erkenntnis, dass sie es überhaupt nicht selbstverständlich findet, ihn nun auch zu heiraten. Indes erwarten die Königsfamilie und das ganze Volk eine baldige Hochzeit samt Happy End, das nicht nur dem jungen Paar ein glückliches Leben garantieren, sondern vor allem den Wohlstand wieder ins Land bringen soll.

Mit viel Feingefühl erzählt Thomas die Geschichte einer jungen Frau, die zwischen 100-jährigen Konventionen und einer alten Prophezeiung einerseits und ihrem eigenen, allmählich immer stärker werdenden Willen andererseits gefangen ist. Wie Aurora sich von der bewusst naiv gehaltenen und immer wieder eingesperrten Prinzessin durch heimliche Ausflüge in die Welt vor den Schlosstoren zu einer immer selbstbewusster werdenden jungen Frau mausert, wie sie die Intrigen bei Hofe erst nur instinktiv spürt und dann immer klarer erkennt – das schildert die Autorin überzeugend. Natürlich darf auch der emotionale Konflikt nicht fehlen: Prinz Rodric, der ihr zugedachte Prinzgemahl, ist liebenswert, ohne das Potenzial eines Märchenhelden zu haben, und so treten mit dem schneidigen Prinzen Finnegan und dem lebenslustigen bürgerlichen Tristan vielversprechende Gegenspieler auf. Rhiannon Thomas lässt ihre Leser die Geschichte durch Auroras Perspektive erleben, ohne dass diese dabei als Ich-Erzählerin auftaucht. So erspürt man viele Eindrücke, ohne dass sie überdeutlich ausformuliert würden – ein Highlight der aktuellen Märchenfantasy.

In einen ganz anderen Kulturkreis nimmt Jessica Khoury ihre Leser in dem Buch "Ein Kuss aus Sternenstaub" (cbj, 445 S., 9,99 Euro) mit: in die Welt aus 1001 Nacht. Doch die syrisch-schottische Autorin verändert ein kleines Detail, indem sie den Lampengeist zur weiblichen Ich-Erzählerin macht. Diese versucht nach Art der Dschinn, sich dem Herrn der Lampe zu entziehen, aber zugleich wird ihr ein Leben in Freiheit in Aussicht gestellt, wenn es ihr gelingt, einen besonderen Auftrag zu erfüllen – und das kann sie nur, solange Aladdin der Herr der Lampe ist. Die konfliktgeladene Ausgangssituation verschärft sich noch, als der Dschinny klar wird, dass sie zwar eigentlich kein Herz hat, sich aber dennoch in Aladdin verliebt. Eine mitreißende Geschichte mit mehr als einer starken Frauenfigur, gefährlicher Magie und voller Abenteuer – genau das Richtige für Fans orientalischer Märchen.

Nicht einzelne Märchen, sondern gleich die ganze Märchenwelt steht als Kulisse für weitere Romane bereit. So ist etwa Christian Handels Novelle "Die Hexenwaldchroniken. Rosen und Knochen" (Drachenmondverlag, 200 S., 12 Euro) eine faszinierend düster geschriebene Märchenadaption, in der zwei Dämonenjägerinnen unter ihren Küstlernamen Schneeweißchen und Rosenrot den Geist der Hexe aus dem Wald vertreiben sollen. Geschickt verwebt Handel einen modernen Plot in bester "Buffy"-Tradition mit zahllosen Anspielungen auf verschiedenste Märchen und schafft zudem eine so unheimliche Atmosphäre, dass man den schmalen Band am besten ohne Unterbrechung liest. Die angekündigte Fortsetzung der Chroniken  dürfte von den Fans ungeduldig erwartet werden.

Das Motiv der in einen Schwan verwandelten Frau sowie weitere Märchenmotive haben Regina Meißner zu ihrem Buch "Der Fluch der sechs Prinzessinnen .Schwanenfeuer" (Sternensand, 354 S., 12,95 Euro) inspiriert. Sie erzählt abwechselnd aus der Perspektive der Protagonistin Estelle und des Jägers Ayden, der sie am See verwundet hat. Die Heldin möchte nicht, dass Ayden hinter ihr Geheimnis kommt, er bleibt hartnäckig – gemeinsam versuchen sie, den Fluch zu brechen: märchenhaft-romantische Fan-Fiction.

Das wohl fulminanteste Werk, das verschiedenste Märchen in sich vereint und doch eine neue Geschichte erzählt, ist Soman Chainanis Serie "The School for Good and Evil", deren drei erste Teile der Ravensburger Verlag jetzt im Schuber herausbringt (1.664 S., 39,99 Euro). Hinter traumschönen Covern verbirgt sich eine verschlungene Märchenadaption um zwei Mädchen, die sich gegen alle Märchenklischees verhalten und weiterentwickeln. Besonders Mädchen zwischen zwölf und 15 Jahren mögen die Serie, die an einer Schule spielt und neben vertrauten Märchenfiguren und Helden mythologischer Geschichten auch gänzlich neue Charaktere einführt. Das richtige Weihnachtsgeschenk für märchenbegeisterte Vielleserinnen und aufgrund des internationalen Erfolgs auch noch nicht zu Ende – im Frühjahr 2018 geht es unvermindert spannend mit den ungleichen Mädchen weiter.

An einer Schule spielt auch Sarah D. Littmans "Krönchen, Chucks und sieben Zwerge" (Boje, 222 S., 12 Euro), doch liegt diese nicht im Märchenreich, sondern mitten in New York. Das macht Rosies Leben aber nicht leichter. Als Tochter von Schneewittchen und Prinz Charming ist sie die Einzige, die ausgerechnet keine Einladung zum Ball bekommt – und dass ihre Mutter ihr eine Puderdose mit sprechendem Spiegel schenkt, tröstet sie nicht wirklich. Witzig-frech und unverdrossen findet Schneewittchens Tochter ihren eigenen Weg zum Traumdate – ein pfiffiger Lesestoff für Mädchen und junge Frauen.

Das mit einer dystopisch anmutenden und äußerst kreativ inszenierten technologisierten Welt zweifellos ungewöhnlichste Setting entwirft Mara Lang im Auftakt ihrer Dilogie "Almost a Fairy Tale. Verwunschen" (Ueberreuter, 394 S., 17,95 Euro). In diesem Roman steckt der Märchenbezug in vielen Details (etwa im Restaurant "Zum Tischlein deck dich"), die immer wieder die Brücke zu den vertrauten Märchen der Brüder Grimm schlagen. Als sich die 17-jährige Natalie als strengen Regeln unterworfene A-Magische in den mensch­lichen Prinzen Kilian verliebt, wird schnell klar, dass persönliches Glück in dieser Welt wenig Raum hat – es sei denn, man ist bereit, Grenzen zu überschreiten. Die drei abwechselnd erzählenden Hauptfiguren drohen ob der grandiosen Gestaltung der phantastischen Welt und der temporeichen Erzählweise in den Hintergrund zu geraten, die Mischung aus Dystopie, Märchen und Action macht jedoch zweifellos neugierig auf die Fortsetzung.