Neue Hörbücher

Albträume und Erinnerungsräume

19. Oktober 2017
von Börsenblatt
Was soll man hören an den langen Herbst- und Winterabenden? Wolfgang Schneider hat ausgewählt: zehn herausragende Hörbücher für rund 240 Stunden Hörgenuss.

Ob es wirklich das "größte Hörspiel aller Zeiten" ist, möge dahingestellt bleiben – ein grandioses Hör­erlebnis ist es allemal: die Vertonung des Mammutromans "Unendlicher Spaß" von David Foster Wallace (Hörverlag, 10 MP-3-CDs, 36,95 Euro) mit 1.400 Sprechern. Wir haben es zu tun mit einer Form akustischer Rudelbildung: mit lauter Liebhabern des Romans, die dem Aufruf des Hörspielmachers Andreas Ammer gefolgt sind, für das zunächst im Internet gestartete Wallace-Projekt jeweils eine Seite zu lesen.

Der Roman spielt zu großen Teilen im "Jahr der Inkontinenzunterwäsche" (Sponsoren bestimmen inzwischen den Kalender), es geht neben tausend anderen Dingen um Tennis und Küchenschaben, Depressionen und Drogen, um die entfesselte Unterhaltungsindustrie und einen mysteriösen Film, der als Terrorwaffe einzustufen ist: Die Leute lachen sich beim Anschauen einfach tot. »Unendlicher Spaß« ist die Bibel eines ironischen Lebensgefühls; die zudringliche Wirklichkeit wird mit wortverliebtem Sprachzauber gebannt. Während der Marsch über dieses skurrile Textgebirge mit einem einzigen, noch so brillanten Sprecher bald zu Ermüdungserscheinungen führen würde, sorgt hier der ständige Wechsel der Stimmen dafür, dass die Aufmerksamkeit beim Zuhören immer wieder aufgefrischt wird. Dass dieses Hörspiel auch ohne professionelle Sprechkunst nie dilettantisch klingt, verdankt sich den Arrangements mit der »Goldenen Maschine«, einem analogen Synthesizer, der durch seine unendlichen Soundvariationen für die artifizielle Rahmung sorgt. 79 Stunden dauert der Spaß – länger als etwa die komplette Serie "Breaking Bad".

Ein Klassiker der Science-Fiction ist Philip K. Dicks Roman "Träumen Androiden von elektrischen Schafen?" (Argon, 2 MP3-CDs, 14,95 Euro). Unter dem Titel "Blade Runner" schrieb er Kinogeschichte; in vielen Punkten weicht der Roman jedoch ab von der Adaption Ridley Scotts. Deshalb hat die ungekürzte Hörbuchfassung einen ganz eigenen Reiz und Überraschungswert.

Das beginnt schon mit der Eingangsszene, in der sich der Androiden-Kopfgeldjäger Rick Deckard mit seiner (im Film nicht auftretenden) Ehefrau einen heftigen Streit um die richtige Einstellung ihrer beiderseitigen Emotionen (Wut? Harmonie? Sexuelle Ekstase?) an der "Gefühlsorgel" liefert – einem Stimmungsmanipulationsgerät, das im Film ebenfalls nicht vorkommt. Der Roman spielt in einer verstrahlten Welt, in der die meisten Tiere ausgestorben sind. Um sich endlich ein echtes Schaf leisten zu können, muss Deckard deshalb wieder auf Androidenjagd gehen. Wie aber unterscheiden sich diese täuschend ähnlichen Kunstgeschöpfe von unser einem? Das entscheidende Kriterium der Menschlichkeit ist nicht Intelligenz, sondern Empathie. Kein Android oder "Andy" ist demnach Torben Kessler, denn seine zugleich ruhige und mitreißende Lesung des Romans besticht durch viel Einfühlungsvermögen.

Den Androiden der Zukunft entsprechen die Sklaven der Vergangenheit. Dass die Sklaverei wieder ein großes Debattenthema ist, dazu haben zwei Romane beigetragen: Colson Whiteheads literarische Rekonstruktion der "Underground Railroad" (Hörbuch Hamburg, 7 CDs, 15,95 Euro), jener legendären Fluchthelferroute vom Süden in den Norden (gelesen wird der Roman von Helene Grass), sowie Yaa Gyasis viel beachtetes Debüt "Heimkehren" (DAV, 2 MP3-CDs, 15,95 Euro). Jedes Kapitel dieses Buchs widmet sich einer anderen Figur – so entsteht ein historischer Roman über sieben Generationen und zwei Jahrhunderte, ein Stimmenchor, der in der Hörbuchfassung von 13 Sprechern übernommen wird, darunter Bibiana Beglau, Bjarne Mädel und Stefan Kaminski. Das Besondere an diesem gründlich recherchierten und zugleich sehr lebendig erzählten Roman ist, dass er nicht nur den fortwirkenden Rassismus in den Verei­nig­ten Staaten beklagt, sondern auch die Verhältnisse an der afrikanischen Goldküste in den Blick nimmt und dabei eine historische Wahrheit nicht unterschlägt: Die weißen Männer aus Eu­ropa handelten zwar mit Sklaven; die menschliche Ware wurde ihnen jedoch zur Verfügung gestellt von afrikanischen und arabischen Sklavenjägern. Ein nachhaltiger Widerstand gegen die seit Jahrtausenden in den meisten Kulturen verbreitete Sklaverei ging erst von der europäischen Aufklärung aus.

Und noch mehr amerikanische Albträume. Zwei Altmeis­ter des Grauens finden zusammen bei "Es" (Random House Audio, 5 MP3-CDs, 14,95 Euro): Stephen King und Vorleser David Nathan, dessen bewährter Thrill-Stimme man sich mit wohligem Schaudern anvertraut, wenn er Kings Klassiker über den Schrecken aus den Kanälen erzählt. Der monumentale Roman spielt auf der Klaviatur der finstersten Kinderängste und scheut nie zurück vor konventionellen Spannungstricks, wie ominösen Vorausdeutungen oder skrupellosen Cliffhangern. Da schlägt die Stunde des Horrorclowns, genauer: 52 geschlagene Stunden sind es insgesamt.

Kein Horrorclown, aber ein Veranstalter dunkler Späße ist jener Tyll Ulenspiegel, den Daniel Kehlmann um drei Jahrhunderte mitten in die Schreckenszeit des Dreißigjährigen Krieges versetzt. Der Roman  "Tyll" (Argon, 9 CDs, 29,95 Euro) liefert ein fulminantes Epochen-Bildnis, ohne es damit doch immer ganz ernst zu nehmen. Er spielt mit den Quellen und Anachronismen, und er zeigt den Autor auf der Höhe seiner Kunst: souverän im Stoff, leichthändig im Stil, der so schlicht wie suggestiv, so klar wie hintergründig daherkommt – und sehr gut zu hören ist. Wenn dieses Buch dann auch noch gelesen wird von Ulrich Noethen, dem Sonderbeauftragten für große historische Epik unter den deutschen Hörbuchsprechern, dann kann man nur ausrufen: perfekt!

Für ähnliche Begeisterung sorgt immer wieder die preisgünstige Klassiker-Reihe bei DAV, in der nun auch Heimito von Doderers "Die Strudlhofstiege" (3 MP3-CDs, 9,95 Euro) erscheint – in der ungekürzten Länge von 33 Stunden. Wenn man in diesem grandiosen Wien-Roman Handlung ausmachen kann, dann ist sie nicht ganz ernst zu nehmen: Ein Zigarettenschmuggel, eine Zwillings-Verwechslungskomödie, der Verlust eines hübschen Beins, den Mary K. erleidet – im ersten Satz wird er angekündigt, aber erst im Finale passiert der legendäre Straßenbahnunfall. Wichtiger ist Doderers Kunst der Atmosphäre und seine Musik des Tonfalls. Bergausflüge und Gartenpartys, Picknickfreuden und Bootsfahrten, verbummelte Stunden im Kaffeehaus, Streifzüge durch die Wiener Bezirke – die "Strudlhofstiege" ist ein großes Sommerbuch. Ein ewiger August scheint die Welt in seinen Bann genommen zu haben, und Peter Simonischeks warme, einschmeichelnde Lesart macht diese Stimmungsprosa zum Hörgenuss.

Was Doderer für Österreich, bietet Anthony Powell für England: einen Gesellschafts- und Konversationsroman der gehobenen Kreise. Sein 3.000-seitiger Romanzyklus "Ein Tanz zur Musik der Zeit" ist für manche das bedeutendste Werk der britischen Literatur nach 1945. Erschienen sind die zwölf Bände zwischen 1951 und 1975. Damals standen das subtile realistische Erzählen und der konservative Habitus nicht gerade hoch im Kurs. Deshalb dauerte es eine Weile, bis sich Powells Zyklus gegen die Spät- und Postmoderne durchsetzen konnte. Heute wird er immer öfter mit Proust verglichen. Der erste Band – "Eine Frage der Erziehung" – liegt nun als Hörbuch ungekürzt bei Speak Low vor (2 MP3-CDs, 19,95 Euro). Frank Arnolds Lesung klingt vornehm, trocken und präzise und bringt das Understatement und den feinen Humor dieses Erzählers gut zur Geltung. Sie entspricht Powells Parlando-Ideal: zu schreiben, als würde man "über den Esstisch erzählen".

Europäi­sche Leidensgeschichte bietet Natascha Wodins "Sie kam aus Mariupol" (Argon, 8 CDs, 19,95 Euro). 1945 als Kind ukrainischer Zwangsarbeiter in Fürth geboren, verbrachte die Autorin ihre Kindheit in Lagern für Displaced Persons; nach dem Selbstmord ihrer Mutter kam sie ins katholische Kinderheim. Der Roman unternimmt die Rekonstruktion der eigenen Familiengeschichte, von der Wodin die längste Zeit ihres Lebens selbst nichts wusste: eine faszinierende Erinnerungsreise in das Russland zwischen Zar und Revolution, zu den Massakern des Bürgerkriegs und den Schrecken des ukrainischen Holodomors, in die Deportationsgebiete des Stalinismus und die Arbeitslager des Dritten Reichs. Wodin gelingt es, die verschiedenen Tonlagen von Recherche, Erzählung, Memoir und Dokumentation zu verbinden. Die Schauspielerin Dagmar Manzel überzeugt in der Rolle der Ich-Erzählerin; Pathos und Lakonie dieses großen Geschichtsromans bringt sie zum Ausdruck mit ihrer sensitiven Lesart, die durch die leichte Ostberliner Färbung nie abgehoben wirkt.

Familiengeschichte, die auf sehr ­repräsentative Art in die politischen Konflikte und Wirren des 20. Jahrhunderts verstrickt ist, bietet schließlich die große Box mit Originaltonaufnahmen der Familie Mann: Interviews, Vorträge und Radiogespräche. Gebannt lauscht man, wenn der kluge Golo Mann über Kindheit und Jugend im Haus des Schriftstellers spricht. Oder wenn Erika Mann und Theodor W. Adorno über das Exil, die Sehnsucht nach Deutschland und beglückende Erlebnisse der Rückkehr ("Rehbraten mit Rahmsoße") diskutieren. Herrlich, wie Adorno auf Erikas Klage über die Ödnis der amerikanischen Kleinstädte zu einer "Ver­tei­digung des Drugstores" ansetzt.

Aber auch die alte Katia Mann plaudert wunderbar frisch und unverkrampft. Mit ihren Anekdoten macht sie deutlich, dass es im "Kreis des Zauberers" (Hörverlag, 17 CDs, 61,95 Euro) oft auch ziemlich komisch zuging. Etwa wenn sie berichtet, wie Thomas Mann in Kalifornien nicht von seiner Gewohnheit des ausgiebigen täglichen Spaziergangs mit Hund lassen wollte, schon deshalb, weil er dabei über den Fortgang seine Werke nachzudenken pflegte. In Amerika aber erregen Fußgänger Verdacht oder Kopfschütteln. Immer wieder hielten deshalb wohlmeinende Autofahrer neben dem Schriftsteller an, um ihn mitzunehmen. Thomas Mann aber lehnte ein ums andere Mal ab – nein, er wolle tatsächlich lieber zu Fuß gehen. Auch dies: ein Hör­erlebnis.