NDR-Kultur-Sachbuchpreis vergeben

Große Gala für das Sachbuch

23. November 2017
von Börsenblatt
Im Schloss Herrenhausen in Hannover wurde das Sachbuch gefeiert: Magnus Brechtken erhielt den NDR-Kultur-Sachbuchpreis, Andreas Cassee den "Opus Primum" der Volkswagenstiftung.

An Buchpreisen herrscht in Deutschland eigentlich kein Mangel. Praktisch jeden Tag, so rechnete Joachim Knuth, Programmdirektor Hörfunk beim Norddeutschen Rundfunk, dem Publikum in Hannover vor, könnte in Deutschland ein Literaturpreis vergeben werden. Allerdings meist für Belletristik; das Sachbuch bliebe weitgehend ungepriesen. Ein Missverhältnis! Damit das ein wenig ausgeglichen wird, gibt es seit mittlerweile neun Jahren den NDR-Kultur-Sachbuchpreis. Er ist mit 15.000 Euro dotiert, also durchaus ein Schwergewicht unter den Literaturpreisen, und er wird im Rahmen einer glanzvollen Gala im Schloss Herrenhausen in Hannover vergeben.

Jüngster Preisträger ist der Münchener Historiker Magnus Brechtken. In seinem Buch "Albert Speer. Eine deutsche Karriere" (Siedler) beschreibt er, wie sich Hitlers Lieblingsarchitekt und Kriegsminister nach dem Krieg als Biedermann und Technokrat präsentierte, dem es nur darauf ankam, seine Aufgaben so gut wie möglich zu erledigen, und der vom Grauen der Konzentrationslager nichts gewusst haben wollte.

Traditionellerweise ist die Vergabe des NDR-Kultur-Sachbuchpreises mit einer weiteren Ehrung verknüpft, der Vergabe des "Opus-Primum"-Preises der Volkswagenstiftung. Der mit 10.000 Euro dotierte Förderpreis ging an den Philosophen Andreas Cassee für sein Buch "Globale Bewegungsfreiheit – Ein philosophisches Plädoyer für offene Grenzen" (Suhrkamp). Darin vertritt Cassee eine These mit einer gewissen argumentativen Sprengkraft. Er sagt, Menschen hätten ein moralisches Recht, selbst zu bestimmen, wo sie leben wollen – ganz grundsätzlich. Dass die Volkswagenstiftung ein Buch auszeichnet, das die Grenzen einer Politik der Grenzen markiert, spricht für das Selbstbewusstsein der Preisstifter – und dafür, dass Sachbücher immer noch Debatten anstiften und befeuern können.

Andreas Cassee setzt sich in seinem Buch auch mit den Argumenten der Zuwanderungsgegner auseinander. Diese Fähigkeit, stets auch die Perspektive des anderen einnehmen zu können, forderte die Schriftstellerin Thea Dorn in ihrem "Aufschlag" genannten kurzen Referat zur Eröffnung der Festveranstaltung. Ihr Thema: die aktuelle Sexismusdebatte. Ihre Haltung: Die offene Gesellschaft lebt davon, dass unterschiedliche Weltbilder nebeneinander bestehen können. Ihre Angst: von "neuen, aggressiven Zugkräften" könnten unsere Gesellschaft "im Herzen zerrissen" werden.

Sachbücher, da war man sich bei Sachbuch-Gala einig, können für Klarheit sorgen und Orientungshilfe schaffen. Aber Sachbücher fallen nicht vom Himmel. Über die Schwierigkeiten und auch über die Leidenschaft beim Publizieren von Sachbüchern diskutierten Regula Venske, die Präsidentin des deutschen PEN-Zentrums, die Verlegerin und Literaturagentin Elisabeth Ruge und Jo Lendle, der Chef des Hanser Verlags.

Das Gespräch über Bücher wandele sich, meinte Jo Lendle. Die Wirkmacht der großen Feuilletons sei am Schwinden, und auch das Zeitbudget der Leser habe sich verändert: "Menschen schauen heute eben Netflix". Mit Elisabeth Ruge war er sich einig, dass der Output von Autoren heute viel größer sei als früher – auch das sei eine Folge der digitalen Wende. Umso wichtiger sei ein starkes Lektorat in den Verlagen, und Elisabeth Ruge bekräftigte: "Verlage schwächen sich, wenn sie ihr Lektorat schwächen und wichtige Entscheidungen ins Marketing verlagern". Regula Venske wies in der Diskussion noch darauf hin, dass viele Autoren in anderen Teilen der Welt gar nicht unbedingt die Buchform zum Publizieren zur Verfügung hätten, sie würden sich in Blogs äußern. Für sie sei freier Zugang zum Internet besonders wichtig. 

Einen starken Lektor lobte am Ende auch der ausgezeichnete Sachbuchautor Magnus Brechtken: "Ich hatte einen hervorragenden Sparringpartner im Siedler Verlag", sagte Brechtken. Lektor Bernd Klöckener und Siedler-Programmleiter Jens Dehning hätten "dafür gesorgt, dass aus den 450.000 Wörtern, die ich geschrieben habe, 315.000 Wörter im Buch geworden sind". Das macht immerhin noch 900 Seiten. Aber sehr lesenswerte.