Die Lyrik und der Buchmarkt – das ist unter ökonomischen Gesichtspunkten immer schon eine angespannte Beziehung. Die Faszination von Dichtung bemisst sich ohnehin nicht in Verkaufszahlen, und die Aufmerksamkeit, die ihr nicht erst seit Jan Wagner entgegengebracht wird, wurzelt eher in einer unterschwelligen Ablehnung von Marktmechanismen. Das Interesse an ihr ist zudem Ausdruck einer wachsenden Abneigung gegenüber einer ubiquitären Mediensprache, die Leser mit stereotypen Formulierungen und abgerichteten Textformaten überzieht, die immergleiche Muster wiederholen.
Die Lyrik – oder weiter gefasst: die poetische Kurzform – besinnt sich hingegen auf die Wurzeln der Sprachwerdung zurück. Sie ist das Laboratorium der Sprache, in dem neue Sprachmoleküle entstehen oder verkrustete Sprachtrümmer zentrifugiert und remixt werden.
Artenvielfalt auf der wirtschaftlichen Magerwiese
Schaut man sich die aktuelle lyrische Produktion, insbesondere die deutschsprachige, einmal an, dann kann man auf der wirtschaftlichen Magerwiese eine erstaunliche Artenvielfalt beobachten. Dabei reicht das Spektrum von einer eher konventionellen Lyrik, die vertraute Gestaltungsmittel wie den Reim einsetzt, bis zu avantgardistischen Formen.
Martin Hielscher, Programmleiter Belletristik bei C. H. Beck, sieht etwa fünf bis sechs verschiedene Strategien am Werk, die sich entweder einer offenen, lockeren Erzählform bedienen oder aber strengere, klassische Stilmittel wie den Reim oder Formen wie das Sonett wählen. Während der größere Teil der Gegenwartslyrik "dezidiert antihermetisch" sei, gebe es auch Vertreter einer sehr verschlüsselten Lyrik, die häufig an das Werk Thomas Klings anknüpfe, beispielsweise die Dichtung Monika Rincks; andere Lyriker hingegen könne man eher zu den epigonalen Vertretern dieser Richtung rechnen.
Bei dieser Art Dichtung finde man einen unzugänglich wirkenden "geschlossenen Raum vor, den man nur auf Zehenspitzen betreten darf". Andererseits gebe es Konzeptlyriker wie Nico Bleutge (bei C. H. Beck), die sich bewusst mit Erinnerungsspuren in Landschaften beschäftigen und auf ihre Weise das Landschaftsgedicht neu erfunden haben.
Andere Dichterinnen wie Nora Gomringer kommen aus der Poetry-Slam-Richtung, wieder andere bedienen sich einer Sprachartistik, die an das große Vorbild Oskar Pastior denken lässt. Und virtuos ist allemal, was Jan Wagner in seinen "Regentonnenvariationen" aufbietet.
Konzert der Lyriker
Heinrich Detering, Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und selbst Lyriker (zuletzt im März bei Wallstein erschienen: "Wundertiere. Gedichte"), sieht ebenfalls die verschiedenen Schreibweisen im Konzert der Lyriker und beobachtet zugleich, dass die Fraktionsbildung in der deutschsprachigen Gegenwartslyrik rückläufig sei. Dafür spreche etwa, dass die Leipziger Auszeichnung für Jan Wagner von Kollegen unterschiedlicher Couleur begrüßt worden sei. So habe etwa Marcel Beyer von "einem Preis für die Lyriker" gesprochen. Insgesamt, so Detering, genieße die Lyrik seit einiger Zeit mehr Aufmerksamkeit. Und er erinnert daran, dass mit Jürgen Becker einer der bedeutendsten deutschen Lyriker mit dem Büchnerpreis 2014 ausgezeichnet worden sei.
Eine stattliche Anzahl unabhängiger Verlage pflegt – teilweise schon seit Jahrzehnten – die Gattung und hat auf diese Weise Lyrikerinnen und Lyriker bekannt und groß gemacht: der Verlag Das Wunderhorn in Heidelberg (zuletzt Marcus Roloff, "reinzeichnung"), kookbooks, Luxbooks, Voland & Quist, Horlemann, die Connewitzer Verlagsbuchhandlung, der Poetenladen (ursprünglich als Lyrik-Webportal gestartet), das Verlagshaus Berlin (unter der Leitung von Johannes CS Frank), die Edition Rugerup und der gerade von Ulf Stolterfoht gegründete Verlag Brüterich Press – um nur eine Auswahl zu nennen.
Dichter*innenselbstverteidigung
"Wir machen Bücher, die wir wichtig finden, selbstverständlich auch Debüts", sagt Daniela Seel, Verlegerin von kookbooks und Lyrikerin, – "das steht vor dem Ökonomischen". kookbooks, in dem etwa Monika Rinck, Uljana Wolf oder Farhad Showghi veröffentlichen, ist aus einem Künstlernetzwerk hervorgegangen, dem es von vornherein darum ging, mehr Sichtbarkeit für die lyrische Produktion herzustellen. "Der Markt und der Buchhandel allein machen es nicht. Deshalb haben sich viele Dichterinnen und Dichter entschieden, selbst an einer Infrastruktur mitzubauen, um Lyrik zu verbreiten, etwa durch die Organisation von Festivals oder die Herausgabe von Zeitschriften, im Netz und in Print. Auch kookbooks nenne ich lieber eine Dichter*innenselbstverteidigung als einen Verlag im klassischen ökonomischen Sinn", sagt Seel. Monika Rinck wird übrigens im November mit dem hochrangigen Kleist-Preis geehrt – unter anderem für ihren bei kookbooks erschienenen Gedichtband "Honigprotokolle" (2012). Im März 2015 erschien dort ihre Essaysammlung "Risiko und Idiotie. Streitschriften".
Bei Voland & Quist gehört die Lyrik von Anfang an als Schwerpunkt ins Programm. Jeder Gedichtband erscheint zugleich mit einer CD, weil "Lyrik eine Gattung ist, die man auch hören will", so Sebastian Wolter, der den Verlag 2004 gemeinsam mit Leif Greinus gegründet hatte. Vor allem mit Nora Gomringer, deren schnelle, pointenreiche Gedichte die Poetry-Slam-Erfahrung der Autorin verraten, hat der Verlag größere Leserkreise erreicht. Im Übrigen wünscht sich Wolter "mehr Präsenz im Buchhandel". Eine kleine Lyrikecke täte jeder Buchhandlung gut. Doch meist seien es bundesweit nicht mehr als 50 bis 80 Buchhandlungen, die sich für Lyrik engagieren. Von Nora Gomringer ist im März bei Voland & Quist der Band "Morbus" erschienen.
Neben der regen Independent-Szene sollte nicht das Engagement der mittleren und größeren (Konzern-)Verlage übersehen werden, die in ihren Programmen bedeutende Vertreter der (deutschsprachigen) Gegenwartslyrik sowie Klassiker der Dichtung pflegen: Suhrkamp, Hanser, DVA, C. H. Beck, S. Fischer, Schöffling, Wallstein und viele andere. "Wir haben die ganze Bandbreite im Programm", sagt Hanser Verleger Jo Lendle – "darunter viele Titel preisgekrönter Autoren wie Tomas Tranströmer. Und keineswegs nur hermetische Bücher, die Berührungsängste auslösen. Jan Wagners 'Regentonnenvariationen' enthalten Gedichte, die für viele Leser zugänglich sind – und sich zugleich in Sprachwitz und Formbezügen auf mehreren Ebenen lesen lassen."
Frankfurter Lyriktage
Eine wesentliche Rolle bei der Vermittlung von Lyrik spielen Festivals – in Kürze etwa die "Frankfurter Lyriktage", die vom 10. bis 20. Juni an zahlreichen Veranstaltungsorten der Finanzmetropole und der Rhein-Main-Region stattfinden und in diesem Jahr die Gegenwartslyrik in den Mittelpunkt stellen. Die Liste der Autorinnen und Autoren bildet die deutschsprachige Szene sehr genau ab; Gäste sind aber etwa auch Dichter aus Indonesien, dem diesjährigen Gastland der Frankfurter Buchmesse, und den USA. Insgesamt sind 23 Veranstaltungen mit 65 Akteuren geplant.
"Die vierten Frankfurter Lyriktage stellen wichtige Positionen der deutschsprachigen und internationalen Gegenwartslyrik vor, die eine Kunst auf der Höhe der Zeit zeigen", so die Programmleiterin Sonja Vandenrath. "Dass wir auf ein Motto verzichten, öffnet den Raum für unterschiedliche Veranstaltungen, die jeweils einen eigenen thematischen Fokus setzen."
Zu den Höhepunkten des Festivals zählt in diesem Jahr die Eröffnungsveranstaltung am 10. Juni im Dominikanerkloster: Auf Initiative der Frankfurter Lyriktage entwickelte Marcel Beyer gemeinsam mit dem Ensemble Modern-Mitglied Hermann Kretzschmar ein Lesungskonzert, das zur Eröffnung der Frankfurter Lyriktage seine Uraufführung erlebt. Für dieses gemeinsame Projekt hat Marcel Beyer ein Kompendium aus eigenen und ihm wichtigen Gedichten zusammengestellt, die vielfältiger Musik des 20. und 21. Jahrhunderts gegenüberstehen. Marcel Beyer und das Ensemble Modern schaffen so gemeinsam eine Durchdringung von zeitgenössischer Poesie und Musik, wie man sie selten erlebt.
Weitere Höhepunkte sind Veranstaltungen unter anderen mit Lutz Seiler (11. Juni), Nikola Madzirov, Ilma Rakusa und Aleš Šteger (12. Juni), Michael Krüger und Jan Wagner (15. Juni), Bernd Begemann und Maike Rosa Vogel (13. Juni), Ulla Hahn (18. Juni) sowie ein indonesischer Lyrikabend mit Musik vom Ensemble Modern (16. Juni).
Unter dem Titel "Thomas Kling in memoriam" erinnern zudem Marcel Beyer, Hans Jürgen Balmes und Peer Trilcke am 14. Juni an den bedeutenden Lyriker. Bei der Podiumsdiskussion "Lyrik? Cool!" am 18. Juni sprechen unter anderem Nora Gomringer, Léonce W. Lupette und Daniela Seel über neue Formate der Lyrikvermittlung. Zum Abschluss der Frankfurter Lyriktage findet am 20. Juni eine lange Lyriknacht im Neubau des Historischen Museum Frankfurt statt, für die unter anderem Paulus Böhmer, Heinrich Detering, Marion Poschmann und Clemens Setz ihre Teilnahme zugesagt haben.
Wünsche an den Buchhandel
Was aber soll der Buchhandel tun? Er könnte zum Beispiel, so der in Kiel lebende Dichter Arne Rautenberg (zuletzt erschienen: "seltene erden", Edition Voss / Horlemann), "in einem Lyrikregal eine gut sortierte Auswahl an Gedichtbänden bereithalten, stolz darauf sein und bei passender Gelegenheit darauf verweisen". Neben Klassikern oder Themenbänden, wie sie zum Beispiel Reclam herausgibt, sollten Gedichtbände der älteren und jüngeren Generation nicht fehlen – "und zwar sowohl Positionen der großen Verlage als auch ausgewählte Positionen der in der Lyrik engagierten Kleinverlage wie Kookbooks, Luxbooks oder Horlemanns Reihe Lyrikpapyri". Dazu natürlich Periodika wie das "Jahrbuch der Lyrik" und – Kindergedichte. Hanser-Verleger Jo Lendle wäre auch schon zufrieden, wenn Buchhändler nur ein paar Lyrikbände so gut komponiert und aufeinander bezogen auswählten, dass die Kunden sie für sich entdecken können. Lyrikregal hin oder her: Das ursprüngliche Interesse an poetischer Sprache zu wecken, wäre also die vornehmste Aufgabe des Buchhandels.
Eine Liste mit Lyrik-Empfehlungen für 2015 haben die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, das Lyrik Kabinett München, die Literaturwerkstatt Berlin und der Deutsche Bibliotheksverband zusammengestellt (www.lyrik-empfehlungen.de). Ein PDF der Liste finden Sie hier.