In München ist am 1. Mai das neue NS-Dokumentationszentrum eröffnet worden. Erst jetzt, könnte man sagen. Denn München, später von den Nazis zur "Hauptstadt der Bewegung" erhoben, war der Ort, von dem der Nationalsozialismus seinen Ausgang nahm und an dem die NSDAP 1920 aus ihrer Vorgängerorganisation DAP (Deutsche Arbeiterpartei) hervorging. Hier, im Bürgerbräukeller und im Zirkus Krone, begann Adolf Hitlers politische Karriere. In der Ausstellung des NS-Dokumentationszentrums wird dies und die weitere Entwicklung der NS-Bewegung – von der Machtübernahme über Krieg und Holocaust – sowie die Zeit nach 1945 anhand zahlreicher Fotos, Filme und Textzeugnisse dargestellt. Den Katalog zum NS-Dokumentationszentrum hat Gründungsdirektor Winfried Nerdinger unter dem Titel "München und der Nationalsozialismus" bei C.H. Beck herausgegeben (624 S., 38 Euro). Der Band enthält einen Katalogteil mit 850 zum Teil bisher unveröffentlichten (Farb-)Bildern und Texten der Dauerausstellung sowie einen Aufsatzteil mit 23 Beiträgen renommierter Historiker – darunter den Aufsatz "Hitler, München und die Frühgeschichte der NSDAP" des Goebbels-Biografen Peter Longerich, den Aufsatz "'Volksgemeinschaft': Gleichheit und Ungleichheit" des Zeithistorikers Ulrich Herbert sowie (als letztes Kapitel) der Beitrag "Der Umgang mit der 'zerlumpten Vergangenheit' Münchens" von Winfried Nerdinger. Dieser Katalog bietet reiches Anschauungsmaterial und Geschichtswissen, das sich sowohl als Fundus für jeden historisch Interessierten als auch für einen anspruchsvollen Geschichtsunterricht, nicht nur in bayerischen Klassenzimmern, eignet.
Neben München gehörte das 1938 an das Deutsche Reich "angeschlossene" Österreich, im Nazi-Jargon "Ostmark" genannt, zu den Rekrutierungsgebieten der NSDAP und ihrer Sicherheitsapparate. Hitlers schon in "Mein Kampf" erklärtes Ziel, Österreich und Deutschland zu vereinen, stieß in Österreich auf breite Resonanz. Es ist daher kein Zufall, dass sich auch zahlreiche Österreicher in den Dienst des Nationalsozialismus und seines Vernichtungsapparats stellten. Drei Viertel der Kommandanten der Vernichtungslager in Polen stammten aus Österreich, 40 Prozent des Personals ebenfalls. Odilo Globocnik, der Organisator der "Aktion Reinhardt", bei der etwa 1,6 Millionen Menschen (meist Juden, aber auch rund 50.000 Roma) im besetzten Polen ("Generalgouvernement") ermordet wurden, stammte aus der Alpenrepublik. Ebenso Ernst Kaltenbrunner, der nach Reinhard Heydrichs Tod Nachfolger als Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) wurde. Der in Halle / Saale geborene Heydrich, seit 1934 Chef des SD, ab 1936 Leiter der Sicherheitspolizei und ab 1939 Chef des RSHA, rekrutierte für die Sicherheitspolizei (Sipo) und den SD zahlreiche Österreicher, deren Karrieren Matthias Gafke in dem Buch "Heydrichs Ostmärker. Das österreichische Führungspersonal der Sicherheitspolizei und des SD 1939–1945" (WBG, 332 S., 59,95 Euro) eingehend beschreibt. Den Strukturen des Sicherheits- (und Vernichtungs-)Apparats widmet Gafke ein eigenes Kapitel. Im Anhang finden sich 51 Kurzbiographien von Mitgliedern des SD- und Sipo-Führungspersonals.
Eine Opfergruppe des Nationalsozialismus, die selten in den Fokus rückt, sind die Homosexuellen. Etwa 10.000 bis 15.000 Männer wurden in Konzentrationslager verschleppt, wurden gedemütigt, gequält, kastriert oder gezielt ermordet. Mehr als die Hälfte aller schwulen Häftlinge überlebte das Lager nicht. Vor allem das KZ Sachsenhausen war berüchtigt: Dort wurden allein bei einer Mordaktion im Sommer 1942 etwa 200 Homosexuelle ermordet. Das im Männerschwarm Verlag erschienene Buch "Homosexuelle Männer im KZ Sachsenhausen" (Neuauflage des Austellungskatalogs aus dem Jahr 2000; herausgegeben von Andreas Sternweiler und Joachim Müller, 400 S., 28 Euro) geht dem Schicksal der verfolgten Homosexuellen im Lager Sachsenhausen nach. Es werden Vorgeschichten erzählt, die Situation im Lager (zum Beispiel Isolierungsmaßnahmen) geschildert, Biografien homosexueller Künstler und ebenfalls internierter homosexueller SS-Leute präsentiert und der diskriminierende Umgang mit homosexuellen Verfolgten nach dem Zweiten Weltkrieg kritisch beleuchtet. Zu Beginn des Buches, zwischen Einleitung und Geleitwort, ist die Toten-Liste der bisher namentlich bekannten Homosexuellen des KZ Sachsenhausen abgebildet.
Die Shoah hat nicht nur die überlebenden Opfer traumatisiert, sondern auch mitmenschliche Beziehungen während der Shoah selbst vor eine Zerreißprobe gestellt. Darüber schreibt die studierte Germanistin und Psychoanalytikerin Johanna Bodenstab in ihrem Buch "Dramen der Verlorenheit: Mutter-Tochter-Beziehungen in der Shoah" (Vandenhoeck & Ruprecht, 274 S., 23,99 Euro; aus der Reihe: Schriften des Sigmund-Freud-Instituts). Sie hat zahlreiche Video-Interviews analysiert, in denen Mutter-Tochter-Geschichten erzählt werden – oftmals schockierende Fälle, in denen beispielsweise eine Mutter ihr Baby ertränkte oder Töchter von ihren Müttern weggeschickt wurden, um ein schlimmeres Schicksal abzuwenden. Hauptquelle der Interview-Analysen sind Zeugnisse aus dem Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies an der Yale University in New Haven (USA).
Eine umfassende und zugleich gut lesbare Geschichte der deutschen Gesellschaft im "Dritten Reich" liefert die auf sieben Bände angelegte, von Norbert Frei im Verlag C. H. Beck herausgegebene Reihe "Die Deutschen und der Nationalsozialismus". Als einer der ersten beiden Bände ist Markus Roths Darstellung "'Ihr wisst, wollt es aber nicht wissen'. Verfolgung, Terror und Widerstand im Dritten Reich" (296 S., 16,95 Euro) erschienen. Darin schildert er die ersten Einschüchterungs- und Terrorattacken der neuen Machthaber nach dem 30. Januar 1933, den immer offener zutage tretenden und zugleich bürokratisch organisierten Rassismus gegen Juden, Sinti und Roma und andere Minderheiten, die Radikalisierung der Rassenpolitik bis hin zur Ermordung der Juden; aber auch die Herausbildung der unterschiedlichen Widerstandskreise bis hin zu den Widerstandskämpfern des 20. Juli 1944. Im Herbst wird die Reihe unter anderem mit dem Band "'Dieser Krieg ist der große Rassenkrieg'. Krieg und Holocaust in Europa" von Birthe Kundrus fortgesetzt.
Weitere Titel zu den Themen Holocaust und Nationalsozialismus werden im Börsenblatt Spezial Fachbuch (Heft 18 / 2015) vorgestellt.
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