Lieblingsbuchhandlung: Martin Becker über die Castroper Leselust

Schnaps und Reue

23. November 2017
von Börsenblatt
Wie Martin Becker die Buchhandlung Castroper Leselust in Castrop-Rauxel lieben lernte.

Dass es in Buchläden auf angenehme Art eigenwillig riecht, ist ein alter Hut. Doch der Geruch der Buchhandlung Schadwinkel in meiner Heimatstadt Plettenberg war noch viel spezieller. Schadwinkel hatte nämlich nicht nur Bücher im Sortiment, es gab auch Zeitungen und Zeitschriften, Schreibwaren – und eine Ecke, in der man Rubbellose kaufen und seinen Lottoschein abgeben konnte.

Daher rührte meines Erachtens auch dieser eigenartige Geruch, der sich mir bis heute eingebrannt hat: die Druckerschwärze der Tagespresse, die Lederjacken der älteren Herrschaften, die Woche für Woche für Glück aufs Spiel setzen, dazu natürlich die belletristischen Neuerscheinungen, die auf einem langen Tisch präsentiert wurden. Schadwinkel war die Buchhandlung meiner Kindheit. Und so fing mein literarisches Leben auch dort bei Schadwinkel an, zwischen Lottoscheinen und Schulbuchumschlägen: Irgendwann entdeckte ich in der Schule Franz Kafka – und bestellte mir seine gesammelten Werke als Taschenbuch.

Die Recherche nach Büchern erfolgte übrigens fast bis zum Schluss nicht am Computer: Die Buchhändlerin blätterte in ­dicken Katalogen, folgte mit ihrem Finger den winzig gedruckten Zeilen und bestellte die Bücher dann telefonisch. Schad­winkel gibt es mittlerweile nicht mehr. Die Familie hat das Geschäft aufgegeben. Übrig vom allerletzten Schlussverkauf sind von der Sonne ausgeblichene Bildbände im Schaufenster des leeren Ladenlokals, die niemand mehr kaufen kann. Gar nicht so weit entfernt von Plettenberg habe ich neulich aus heiterem Himmel wieder an die Buchhandlung meiner Kindheit gedacht: Ich war eingeladen zu einer Lesung nach Castrop-Rauxel, in die dortige Castroper Leselust. Steht man vor dem Laden, dann schaut man von der Fußgängerzone aus auf eine stillgelegte ­Zeche. Raue Ruhrpottromantik. Der Buchladen von Martina ­Tielker war für mich wie ein kleines Wunder, eine Erinnerung an alte Zeiten: Regalmeter um Regalmeter liebevoll bestückt mit aktueller Literatur. Es gibt sie noch, dachte ich: die mit Enthu­siasmus und Liebe betriebenen Buchläden westdeutscher Kleinstädte. Zur Stärkung bekam ich vorab ein Brötchen mit Schinken und Käse serviert – und dazu ein Bier. Dass ich noch eine Zigarette auf der Toilette im Keller rauchen konnte, darf ich wahrscheinlich nicht verraten, aber es gehört nun mal zu meiner ­Geschichte mit der  Castroper Leselust. Vor der Veranstaltung gab es dann Bier für alle – und die Buchhändlerin ging mit einem Tablett voller ­Wacholderschnaps durch die Reihen.

Seither bereue ich mehrere Dinge: Dass ich nicht bleiben konnte (es hätte noch genug Wacholderschnaps für literarische und außerliterarische Diskussionen bis in die Nacht gegeben), weil ich am selben Abend noch abreisen musste. Dass ich nicht in der Nähe von Castrop-Rauxel lebe, denn ich würde in der Castroper Leselust jeden Tag alles finden, was mir das Leben wichtig macht. Ein Laden, der die Literatur geradezu verehrt, wo man noch auf archaische Weise an die Kraft des Lesens glaubt. Hätte ich gerade heute Kafka entdeckt – ich würde mir seine gesammelten Werke bei Martina Tielker kaufen. Auch, wenn es bei ihr im Laden keine Ecke mit Lottoscheinen gibt.

Martin Becker, 1982 ­geboren, ist im ­sauerländischen ­Plettenberg ­aufgewachsen. Er lebt heute in Leipzig und Prag. Sein aktueller Roman "Marschmusik" (Luchterhand) führt zurück in eine Kindheit am Rand des Ruhrgebiets.

Martina Tielker führt die Buchhandlung Castroper Leselust in Castrop-Rauxel. Ihr Motto: "Wir lieben Menschen und sind vernarrt in Bücher."