Leseexemplare

Warum werden Titel zur Vorablektüre als Leseexemplare abgestempelt?

25. März 2015
von Börsenblatt
Die fette Markierung von Büchern zur Vorablektüre mag Gründe haben. Aber stellen nicht Verlage damit alle Buchhändlerinnen unter Verdacht? Das – und was sonst so vor Bestellungen geschieht – erörtert Jochen Jung.

Sie hatte vor dem Einschlafen noch gelesen, ein sogenanntes Leseexemplar. Das Wort stand groß auf den Umschlag gedruckt, und sie fragte sich wieder einmal, wozu man Bücher denn sonst noch gebrauchen könnte, wenn nicht zum Lesen. Natürlich hatte sie auch darauf eine Antwort: zum Verkaufen natürlich. Aber genau das wollte der Verlag offenbar verhindern, dass sie dieses Exemplar weiterverkaufte, wahrscheinlich war auch noch fett ein Datum in die Titelei gestempelt, genau, die Verlage betonten ja gern, wie sehr sie ihre Buchhändlerinnen liebten, auch wenn es sie nicht daran hinderte, sie alle unter Generalverdacht zu stellen. Also, sie hatte darin gelesen, und dass sie dann müde und tatsächlich eingeschlafen war, hatte nichts mit diesem speziellen Buch zu tun; es war kein Krimi und trotzdem nicht langweilig, ja, das gab es immer noch; heute Abend würde sie weiterlesen.


Nein, Lesen war für sie einfach immer eine gute Vorbereitung fürs Schlafen gewesen, ein etwas langweiliger Tag bekam so am Ende doch noch ein kleines (wenn auch geliehenes) Highlight. Und irgendwie war eine gut erzählte Geschichte doch auch so etwas wie ein einladendes Kopfkissen, und eine ansteckende Vorbereitung für einen gut geträumten Traum war es sowieso, man geriet ja schnell mal von den handgreiflichen Leichtfertigkeiten hübscher Romanladys in die eigenen Heimlichkeiten. Ganz zu schweigen von all dem, was einem ein schlechtes Gewissen verschaffte. Manchmal hatte sie ihr Buch am nächsten Morgen tatsächlich irgendwo im Bett gefunden, nach einem etwas drückenden Traum, aber meistens, und so auch gestern, hatte sie es ordentlich auf den Nachttisch gelegt und sich erst dann zur Seite gedreht.


Natürlich lag Sinn und Zweck des Leseexemplars nicht zuletzt darin, dass sie sich rechtzeitig überlegte, welche Zahl sie in ein paar Tagen dem Vertreter nennen sollte, gestern Abend vor dem Einschlafen hatte sie sogar gedacht, sie könnte ja mal wieder eine halbe Partie (mit Ergänzung) versuchen, aber schon beim Zähneputzen hatte sie sich zur Vernunft gerufen: drei Exemplare, mehr nicht, man würde sehen. Sie hatte sich selber schon viel zu oft mit ihren Kundinnen verwechselt. Der Roman war vielversprechend, aber ob er seine Versprechen auch halten würde? Der davor war ja nahezu als Erfolg angesehen worden. Aber was war heutzutage schon ein Erfolg? Jetzt musste sie nur noch achtgeben, dass bis zur Buchhandlung nicht aus den drei Exemplaren ein halbes wurde.


Seltsam genug, was die Autoren sich so ausdachten. Und was für Einfälle sie hatten, um das dann in die Köpfe ihrer Leser zu bringen, am besten so, dass es da lange nicht wieder rausfand. Fast so seltsam wie der eigene Kopf, in den, seit sie ihn durch die Welt trug, sich immer mehr hineinzwängte, ohne dass er größer geworden wäre. Sehr geheimnisvoll, wie so vieles. Ihre Kasse zum Beispiel. Eigentlich legte sie den ganzen Tag etwas hinein; merkwürdig, dass am Abend nicht mehr drinlag. Sie hatte sowieso das Gefühl, dass ihr jeder 50-Euro-Schein, den ihr jemand herüberreichte, so merkwürdig bekannt vorkam.