Lektoren und Verleger stellen ihre liebsten Kriminovitäten vor

Leseverdächtig

1. Juni 2017
von Christiane Petersen
Diese Bücher fallen auf: Lektoren und Verleger über ihre Krimi-Highlights der kommenden Monate.

Nina Grabe, Rowohlt

Ganz besonders begeistert hat mich das Debüt "... und morgen werde ich dich vermissen" des Norwegers Heine Bakkeid, das mit einem wunderbar düsteren Humor gesegnet ist. Depressive Ermittlerpersönlichkeiten aus Skandinavien gibt es ja viele – aber kaum eine ist so gut gezeichnet wie Thorkild Aske. Thorkild war früher interner Ermittler bei der norwegischen Polizei, nun steht er vor dem Nichts. Nach einem Unfall mit Todesfolge frisch aus dem Gefängnis entlassen, darf er nicht in seinen Beruf zurück. Obendrein plagen ihn körperliche Schmerzen und massive psychische Probleme. Thorkilds Psychiater Ulf, den er im Gefängnis kennengelernt hat, hält Arbeit für die beste Therapie: Als ein befreundetes Ehepaar seinen Sohn Rasmus als vermisst meldet, überredet er Thorkild, ihn zu suchen. Rasmus arbeitete auf einer verlassenen Leuchtturmwärterinsel – die Polizei ist sicher, dass es sich bei seinem Verschwinden um einen Tauchunfall handelt. Herbststürme schwemmen tatsächlich eine Leiche an den Strand. Doch es ist nicht Rasmus, und Thorkilds Spürsinn erwacht ... Bakkeid versteht es, in ganz wenigen Sätzen atmosphärisch viel zu erzählen. Beim Lesen pfiff mir tatsächlich der Herbstwind um die Nase. Übersetzt hat das Buch Ursel Allenstein, eine Übersetzerin, mit der wir schon häufig erfolgreich zusammengearbeitet haben. Auch "... und morgen werde ich dich vermissen" ist ihr ganz wunderbar gelungen.

Heine Bakkeid: "... und morgen werde ich dich vermissen", Rowohlt Polaris, Juni, 416 S., 14,99 €

Markus Naegele, Heyne Hardcore

Wir freuen uns besonders auf "Zeit der Ernte" vom Krimigroßmeister James Lee Burke, ein Titel, der im Original schon 1971 erschienen und noch immer hochaktuell ist. Der Plot: Der Anwalt Hackberry Holland kehrt im Jahr 1967 aus dem Koreakrieg in eine texanische Kleinstadt zurück. Von vielen Seiten wird er zu einer politischen Karriere gedrängt. Aber Holland setzt sich lieber für einen mexikanischstämmigen Landarbeiter ein, der kurz vor seiner Freilassung im Gefängnis ermordet wird. Es kommt zu scharfen Auseinandersetzungen mit der Polizei und gewaltbereiten Rednecks. Holland ist ein Held alter Schule – er lässt sich nicht korrumpieren, kämpft eisern für Gerechtigkeit und lässt sich nicht von seinem Weg abbringen.

Wie immer, besticht Burke auch hier mit seinen unglaublichen Naturbeschreibungen, mit einer farbenprächtigen lebendigen Szenerie an der texanischen Grenze. Wie Protagonist Holland, ist auch Burke ein alter Kämpfer fürs Gute, ein aufrechter Demokrat und eine Autorität in Sachen Gerechtigkeit. Ihm geht es nicht nur um einen guten Plot, sondern auch um eine innere Haltung. Burke, mittlerweile über 80 Jahre alt, hat für diese Ausgabe ein Nachwort geschrieben, in dem er unter anderem Bezug nimmt auf die aktuelle politische Situation in den USA. "Zeit der Ernte" komplettiert die Hackberry-Holland-Trilogie – ein Grund mehr, warum das Erscheinen des Buchs am 28. August allseits heiß ersehnt wird.

James Lee Burke: "Zeit der Ernte", Heyne Hardcore, August, 384 S., 18 €

Else Laudan, Argument Verlag

Über "Gewaltkette" von der indischen Literatin Anita Nair kann ich nicht sprechen, ohne sofort eine Gänsehaut zu bekommen – das Buch ist meine dringende Empfehlung für den Herbst. Nair hat sich als Romanautorin bereits einen Namen gemacht, "Gewaltkette" ist ihr erster Kriminalroman: Inspector Gowda ist Mordermittler in Indiens drittgrößter Stadt Bangalore, er soll die vermisste Tochter seiner Haushaltshilfe suchen. Zeitgleich verlangt ein komplizierter Mordfall seine Aufmerksamkeit: Ein reicher Anwalt wurde erschlagen. Inspector Gowda hadert mit seiner Ohnmacht in vielen Lebensbereichen – aber wenn es ums Ermitteln geht, macht er keine Kompromisse.

Nair packt mit einer starken, eindringlichen Prosa ein schreckliches Thema an, nämlich: Kinder als Ware. Sie recherchierte zwei Jahre lang und arbeitete bei der Sozialarbeits-NGO Bosco mit, was wohl zu den härtesten Erfahrungen ihres Lebens gehört. Das Besondere an "Gewaltkette" ist die Diskrepanz zwischen Thema und Sprache: Der Roman ist thematisch hart und nichts für weiche Gemüter, aber er ist in einer poetischen, fließenden Sprache geschrieben. Der Leser spürt sofort die große Dichterin, die ihn ganz distanzlos in die Normalität der indischen Gesellschaft katapultiert und ihm innerhalb einer Kriminalgeschichte ein atemberaubendes Panorama der indischen Kultur eröffnet – mit allen Facetten, Widersprüchen und Problemen. Karen Witthuhn hat "Gewaltkette" ganz wundervoll ins Deutsche übersetzt – ein unwiderstehliches Buch für jeden, der Freude an inhaltsvoller Kriminalliteratur hat.

Anita Nair: "Gewaltkette", Argument Verlag, Ariadne, August, 320 S., 19 €

Günther Butkus, Pendragon Verlag

Eines unserer Herbst-Highlights ist das Krimidebüt "Der weiße Affe" von Kerstin Ehmer, die ihre Leser in das Berlin der 20er Jahre versetzt, mit seinen schillernden Bars, der sexuellen Befreiung, dem immer stärker aufkeimenden Antisemitismus und den Vorboten des Nationalsozialismus. Die Geschichte ist spannend: Kommissar Ariel Spiro ist gerade aus der Provinz nach Berlin gezogen und übernimmt gleich seinen ersten Fall: Er soll den Mord an dem jüdischen Bankier aufklären, der erschlagen im Hausflur seiner Geliebten aufgefunden wurde. Die Ermittlungen deuten zunächst auf ein politisches Motiv hin, aber dann zieht auch die Familie des Toten Spiros Aufmerksamkeit auf sich. Der junge Kommissar verliert sich im schnellen Rhythmus der Stadt, und als dann auch noch die schöne Tochter des Toten seine Nähe sucht, muss er aufpassen, dass ihm der Fall nicht aus den Händen gleitet. Ehmer gelingt es ganz wunderbar, eine spannende Kriminalgeschichte vor der lebendigen Szenerie des Berlins der 20er Jahre zu erzählen. Tempo, Sprache, Farben, Gerüche – der Leser findet sich in den Bars und Clubs des »sündigen Berlins« wieder. Kerstin Ehmer kennt sich selbst aus im Nachtleben der Hauptstadt: Seit 16 Jahren betreibt sie mit ihrem Mann die legendäre Victoria Bar in Berlin. Als Autorin schrieb sie das Buch "Die Schule der Trunkenheit", das sich zu einem Longseller entwickelte und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. "Der weiße Affe" ist ihr erster Kriminalroman – und die Leser werden ihn lieben.

Kerstin Ehmer: "Der weiße Affe", Pendragon, September, 264 S., 17 €