Kommentar von Lars Baumann zum Offenen Brief von Susanne Dagen

Mediale Aufmerksamkeit durch Weglassen von Fakten und Suggestion

20. Oktober 2017
von Börsenblatt
"Wenn der Börsenverein dazu aufruft, sich 'aktiv auseinanderzusetzen', kann nur ein ausgemachter oder vorgeblicher Dummkopf darin eine Aufforderung zur Gewalttätigkeit sehen", meint Lars Baumann. Der Inhaber der Buchhandlung Zweitbuch in Oberhausen setzt sich in einem Kommentar mit dem offenen Brief von Susanne Dagen auseinander.

Demokratie muss viel aushalten, auch dass im Zuge der garantierten Meinungsfreiheit Äußerungen fallen, die sich direkt gegen die Demokratie richten. Das trifft auch im Umgang mit der Neuen Rechten zu. Wir als Demokraten müssen sie aushalten, was aber nicht heißt, dass wir sie vorbehaltlos und unkritisch hinnehmen müssen. Wir sind moralisch dazu verpflichtet, diesem System der Verwischung, Verschleierung und Drohung entgegenzutreten. Alle politischen Systeme, die diesem Muster folgten, sind gescheitert. Diese Welten der Bespitzelung, Denunziation, Unterdrückung, Menschenverachtung und Schießbefehl sind völlig zu Recht abzulehnen und argumentativ zu bekämpfen.

Gewalt ist in meinem Weltbild fehl am Platze, egal von welcher Seite, weshalb ich die Auswüchse auf der diesjährigen Buchmesse von allen Seiten für anstandslos und unzivilisiert halte. Protest ja, aber keine Schlägereien, Diebstähle oder Sachbeschädigungen – sie dienen wohl kaum dem Diskurs, da sind sich wohl alle einig. Wenn der Börsenverein dazu aufruft, sich „aktiv auseinanderzusetzen“, kann nur ein ausgemachter oder vorgeblicher Dummkopf darin eine Aufforderung zur Gewalttätigkeit sehen. Eine Auseinandersetzung auf geistiger Ebene wurde da erwartet, denn der Börsenverein ist kein Boxclub. Wie diese absichtliche Fehlinterpretation in die Welt kam, ist mir völlig schleierhaft und ihre Nutzung eine abgefeimte Unverschämtheit.

Nun wurde das Thema schon reichlich bearbeitet. Und plötzlich taucht eine Onlinepetition mit dem Titel „Charta 2017“ auf, die „...gegen jede ideologische Einflußnahme, mit der die Freiheit der Kunst beschnitten wird...“ zur Gegenzeichnung aufruft. Moment mal – welche ideologische Einflußnahme denn? Die Buchmesse hat nun einmal den Auftritten der Verlage und Protagonisten der Neuen Rechten Platz eingeräumt und keine Verbote ausgesprochen, wie es einer Demokratie geziemt. Natürlich wurde zum Diskurs aufgerufen, dieser ist auch ausdrücklich erwünscht. Die Meinungsfreiheit ist gewährleistet worden. Wo liegt denn nun das Problem? Vielleicht darin, dass in der Petition sowie im begleitenden offenen Brief der Buchhändlerin Dagen Halbwahrheiten verwurstet werden? Das ist nun leider wenig überraschend, da das eine der Haupttechniken der unisono „Lügenpresse“ krakelenden Neuen Rechten ist. Was unangenehm ist und nicht ins Weltbild passen darf, wird verschwiegen und unterdrückt. Auch dem gilt es sich entgegenzustellen.

Vielleicht bin ich ja besonders naiv, was den Bildungsgrad meiner Kolleginnen und Kollegen angeht. Ich bin mir aber sicher, dass die Gruppe der BuchhändlerInnen politisch, moralisch und ethisch gefestigt ist und durch ihre Neugier auf die Welt gar keine antidemokratische Haltung einnehmen kann! Aber, wie schon erwähnt, vielleicht bin ich zu naiv und schließe nur von mir auf die Gesamtheit. Trotzdem: In den 1990er Jahren hatte meine Generation das Gefühl, dass die Welt besser wird. Was zum Teufel ist da eigentlich nach der Jahrtausendwende passiert, dass diese Strömungen wieder Fuß fassen können?

Besonders die Personalie Susanne Dagen wirft Fragen auf. Abgesehen von einer unfassbar naiven Selbstdarstellung in der „Zeit“ im Frühjahr 2017, die nicht nur ich für Kalkül halte, gibt es in ihren Äußerungen Aspekte, die mich nachhaltig irritieren. So erwähnt sie zum wiederholten Male, „eine in der DDR Geborene“ zu sein. Wie sieht denn ihre Erinnerung an dieses Staatenkonstrukt aus, das seine Bürger eingemauert, bespitzelt und bis ins Kinderzimmer militarisiert und gedrillt hat, unliebige Bürger ins Arbeitslager oder Zuchthaus gebracht, ausgebeutet und gefoltert hat, und diejenigen, die von der Repression die Nase voll hatten, an der Grenze (wie mehrfach dokumentiert) erschossen hat?

Nach der Erfahrung dieses Systems ist es für mich ein Wunder, dass Frau Dagen gegen die Vorboten des „Sozialismus“ (egal ob National oder real existierend) nicht aufsteht, sondern Sympathien für Pegida, AfD und Co hegt. Für mich passt das nicht zusammen. Ich hege den Verdacht, dass ein gewisses Maß an Ostalgie / Nostalgie vorliegt und eine Verklärung der Umstände forciert. Das ist bei den Neuen Rechten und ihrer Verklärung des Dritten Reichs ja auch nicht anders.

Übrigens weiß ich, wovon ich rede, ich bin nämlich der Sohn von „Republikflüchtlingen“, die unter Lebensgefahr der sozialistischen Diktatur den Rücken gekehrt haben. Die Großteil der Familie hat bis 1989 weitergelitten, unter Mangel und Repression. Die Tochter des besten Freundes meines Vaters wurde im Frühsommer 1989 in Ungarn verraten und saß bis zur Wende in Bautzen ein. Sie weigert sich bis heute, darüber zu sprechen und wenn sie spricht, dann nicht mehr unter Benutzung der deutschen Sprache. Das Auftreten eines örtlichen AfD-Funktionärs in meinen Geschäft im Sommer 2016, der mir ein Gespräch über „deutsche Kultur“ aufdrängte, aber leider geistig völlig unbewaffnet kam und sich mit den Worten verabschiedete, dass ich mich „nach der Machtergreifung“ auf der Straße öfter umdrehen müsse, ist sicherlich für mich auch nicht unerheblich und stellt wunderbar die Verfahrensweise dar: Bin ich zu ungebildet, drohe ich mit Gewalt. Das ist für mich Grund genug, gegen diese Entwicklungen auf- und einzustehen. Und deshalb habe ich auch ein persönliches Wort für Frau Dagen: Treten Sie aus dem Börsenverein nicht aus, denn ich will und werde Ihnen und Ihren wahrheitsverdrehenden Absonderungen KEINEN FUSSBREIT Freiheit überlassen und Ihnen entgegentreten, wo auch immer es nötig sein wird! Und:
ich habe keine Angst!

Wenn diese im Kern unwahre und mit dem erbärmlichen und billigen Opfergehabe spielende Petition an den Börsenverein weitergegeben wird – bitte. Was dann zählt, ist der Umgang damit. Und ich bin mir sicher, dass die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen, Verlegerinnen und Verleger, Autorinnen und Autoren, diesen echten Demokratiefeinden entgegentreten werden, und zwar argumentativ, nicht mit den Fäusten! Nur eine Frage bleibt am Ende: Was ist mit Uwe Tellkamp los?