"Lassen Sie mich mit einem so herzlichen wie verdatterten Dank beginnen. Dass Sie mich mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik 2015 auszeichnen, erfüllt mich mit grosser Freude, aber auch mit ungläubigem Erstaunen. Nie im Leben hätte ich mit einer solchen Auszeichnung gerechnet. Als Torsten Casimir vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels am 29. Januar auf der Redaktion der "NZZ am Sonntag" anrief, um mir die frohe Botschaft mitzuteilen, war ich zunächst begriffsstutzig.
Ich glaubte, es würde ein Laudator gesucht, denn in diesem Geschäft habe ich ein bisschen Erfahrung. Das Schaffen kreativer Köpfe in Wort und Schrift preisen zu dürfen – das zählt zu den schönen Seiten meines Berufs. Aber dass ich selber belobigt werden sollte – das ist mir noch nicht gar oft passiert, und von so hoher Warte schon gleich gar nicht. Deshalb musste Herr Casimir beim erwähnten Telefonat Geduld beweisen, bis sich bei mir der Groschen zum Fallen bequemte. Und als ich schliesslich realisierte, was mir gerade mitgeteilt worden war, konnte ich mein Glück gar nicht fassen, und im Grunde tue ich es bis heute nicht – zumal mich der Namensgeber des Preises vollends verzagen lässt und ich von Peter Haffners Laudatio überwältigt bin. Lieber Peter, sei bedankt und lass mich trotzdem sagen: Eric Ambler, einer unserer gemeinsamen Lieblingsautoren, hätte Deine lobenden Worte aus einer Ecke des Saales mit der trockenen Bemerkung "herzergreifend und unzutreffend" kommentiert.
Alfred Kerr: Wer sähe nicht ehrfurchtsvoll auf zu diesem wortmächtigen Autor, der das Feuilleton des ausgehenden Kaiserreichs und der Weimarer Republik geprägt hat wie kaum ein anderer, der als Theaterkritiker in einer Reihe steht mit Lessing und Fontane, der aber wie Heine und Börne in ihren Pariser Jahren auch die Form des berichtendes Briefes meisterhaft beherrschte? Marcel Reich-Ranicki schrieb über Kerr, seinen grossen Wahlverwandten, in seinen späten Jahren einmal die folgenden Sätze:
"Es war nicht seine Sache, wissenschaftliche Gutachten zu liefern. Etwas anderes strebte er an, und er verwirklichte es auf eine bis dahin unbekannte Weise. Er machte aus der Kritik ein zusätzliches Spektakel, ein geistiges Schauspiel. Dies aber konnte ihm nur gelingen, weil er, der sich vom Komödiantischen betören liess, selber ein komödiantisches Temperament hatte. Seine Rezensionen waren aufsehenerregende Darbietungen eines Virtuosen, eines jauchzend in seine Kunst verliebten Artisten. Die Egozentrik war die Voraussetzung seiner kritischen Tätigkeit und darüber hinaus seiner ganzen schriftstellerischen Existenz, die Eitelkeit der Motor seines Schreibens, der Selbstgenuss sein Stilprinzip."
Die Deutungshoheit ist dem Feuilleton abhandengekommen
Das sind, meine Damen und Herren so brillante wie boshafte Sätze. Das Besondere an ihnen aber ist: Sie treffen auf Alfred Kerr nicht weniger zu als auf Marcel Reich-Ranicki selbst. Der Porträtist hat sich hier – freiwillig oder unfreiwillig – selbst ins Bild gemalt und damit eine seither versunkene Epoche der Literaturkritik evoziert. Damals gab es noch eine Deutungshoheit des artistisch entflammten Grossfeuilletons, die uns inzwischen weitgehend abhandengekommen ist. Frank Schirrmacher, der allzu früh verstorbene FAZ-Herausgeber, war wohl der Letzte, der diesen Anspruch und diese Autorität noch verkörperte. Imperatoren wie Joachim Kaiser und Fritz J. Raddatz gehören samt ihrem grossbürgerlichen Habitus der Vergangenheit an.
Glauben Sie nun bitte nicht, dass ich das beklagen würde. Das Gegenteil ist der Fall. Ich finde es gut, dass die Feuilletons nicht mehr allmächtig sind. Ich befürworte die Demokratisierung des Wissens. Und ich bin entschieden der Meinung, dass wir Literaturkritiker uns nicht als Tyrannen gerieren sollen. Unsere Aufgabe ist eine vermittelnde und damit eine dienende. Respekt gegenüber jeder schöpferischen Tätigkeit sollte uns selbstverständlich sein, auch und gerade wenn wir es mit Menschen zu tun haben, die jünger und unerfahrener sind als wir. Das hat uns schon Peter Suhrkamp gelehrt.
"Unsere Mimikry hat ihre eigene Arroganz"
Mit dieser Feststellung bringe ich mich hier natürlich in Schwierigkeiten. Sie steht im Widerspruch zu dem, was ich gerade – und durchaus zustimmend - zitiert habe. "Darbietungen eines jauchzend in seine Kunst verliebten Artisten". Ein solches Lob könnte und wollte ich nicht für mich in Anspruch nehmen. Zum Jauchzen sehe ich selten Anlass, wenn ich meine eigenen Texte betrachte. Doch ich will mich nicht bescheidener geben, als ich bin. Auch wenn wir in der Schweiz gern so tun, als stammten wir alle von Robert Walser ab und wären entsprechend lautere, sich vom Weltgeschehen hübsch beiseit haltende Seelen: Wir sind es nicht. Unsere Mimikry hat ihre eigene Arroganz. Auch bei uns gibt es keine Literaturkritik ohne Eitelkeit. Wir kaschieren sie nur anders.
Natürlich ist es, wenn wir es ein wenig feierlich formulieren wollen, unsere Aufgabe, dem Guten auf die Welt zu helfen und vor dem Schlechten zu warnen. Wir tun das so redlich wie möglich und unter Offenlegung unserer Kriterien. Müsste ich die meinen auf zwei Begriffe herunterbrechen, so müssten sie lauten: Unverwechselbarkeit des Stils, Welthaltigkeit des Inhalts. Das waren freilich im Grunde auch schon Kerrs Kriterien.
"Der Hochstapler Felix Krull ist unser Schutzheiliger"
Zum feuilletonistischen Schreiben braucht es nicht nur ein gewisses Grundvertrauen ins eigene Urteilen und Meinen, so wunderlich es anderen manchmal vorkommen mag, sondern auch jene Neigung zum Komödiantischen, von der Reich-Ranicki spricht. Diese entspringt unserer Unzulänglichkeit. Wir stehen wie das von Peter Haffner so freundlich zitierte Kind mit seinem Eimerchen am Meeresstrand und tun so, als hätten wir den Überblick über Literatur, Musik und Kunst, Philosophie, Geschichte, Soziologie, über den Kanon der Klassik wie über die Lüftchen der Saison. Doch so sehr wir uns auch bemühen: Unsere Zeit ist zu kurz, unsere Kräfte sind zu klein, der Druck der täglichen Redaktionsarbeit ist zu gross. Wir gleichen einer Handvoll von Komparsen, die in einem Provinztheater das römische Heer geben müssen. Schnell müssen wir hinter der Bühne durchrennen, um vorn wieder würdig schreiten zu können. Der Hochstapler Felix Krull ist unser Schutzheiliger. Mit dem Komödiantischen allein ist es indessen nicht getan. Als Kritiker muss man auch bereit sein, scharf zu urteilen und dafür Feindschaften in Kauf zu nehmen, auch solche fürs Leben. Walter Benjamin hat einmal geschrieben, der Kritiker müsse mit jener grimmigen Lust zu Werke gehen können, mit der ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet, und er hat diese Fähigkeit mehr als einmal unter Beweis gestellt; denken Sie nur an sein vernichtendes Verlagsgutachten über Hans Henny Jahnns Roman "Perrudja", in dem er von "Heimatkunst der analen Sphäre" spricht.
Alfred Kerr und andere grosse Kritiker seiner Epoche – ich denke da vor allem an den unvergleichlichen Alfred Polgar, aber auch an Karl Kraus, an Kurt Tucholsky, an Joseph Roth und an den jungen Erich Kästner, der in den 1920er Jahren Hunderte von Feuilletons für die "Neue Leipziger Zeitung" schrieb – verfassten Texte, die über den Tag hinaus wirkten. Gewiss, sie hatten ihre praktische Funktion. Sie sagten "Man gehe hinein" oder eben: "Man gehe nicht hinein". Aber man kann diese hingetupften oder heruntergehauenen Texte bis heute mit Gewinn lesen, auch wenn sie von Büchern oder Aufführungen handeln, die längst im Schattenreich des Vergessens gelandet sind.
Ich will hier jetzt nicht so tun, als wäre ich ein Kerr-Kenner. Ich bin es nicht. Doch ich habe sein Werk immer wieder aufgesucht, am liebsten in den wunderbaren Editionen von Günther Rühle. Alfred Kerr brachte das Kunststück zustande, sich in den Zeitungen, für die er schrieb, nicht erst durch seinen Stil, sondern allein schon durch die typografische Besonderheit seiner Beiträge unverwechselbar zu machen: Kurze Abschnitte, römisch nummeriert. Das war ein so trivialer wie genialer Einfall. Durch ihn machte Kerr sich zur Marke. Und er behielt das Prinzip bei, auch wenn er ganz andere Texte schrieb, Reisefeuilletons zum Beispiel. In ihnen, wie auch in den Briefen, habe ich gleichwohl einen ganz anderen Kerr entdeckt: nicht den Exegeten eines expressionistischen Telegrammstils, sondern einen Meister der flüchtigen impressionistischen Skizze.
Kerr wird vom gefeierten David zum bedrohten Goliath
Als Alfred Kerr um 1890 als Breslauer Student in Berlin seine ersten Kritiken schreibt, ist die auf Sand gebaute Metropole, der im Vergleich mit Rom, Paris, London und Wien etliche Jahrhunderte fehlen und die, wie Kerr bitter beklagt hat, keine Seine, Themse oder Donau, ja noch nicht einmal einen Tiber hat, immerhin die Hauptstadt des deutschen Theaters. Nirgends gibt es mehr Schauspielhäuser, nirgends gibt es mehr Zeitungen. Premieren werden jeweils gleichzeitig in einem Dutzend verschiedener Blätter besprochen. Die müssen sich profilieren. Folglich befehden sie sich. Der junge Kerr steht dabei wie der alte Fontane auf der Seite der Erneuerer. Ibsen, Hauptmann, Schnitzler, Wedekind: Das sind seine Dramatiker der Stunde. Kerr kämpft für sie. Er brilliert als Modernist mit Streitlust und schneidender Schärfe, aber auch als in die eigenen Abbreviaturen verliebter Virtuose. Er pflegt seine Manierismen und die genussvolle Polemik. Keiner beherrscht sie besser als er, keiner weiss das besser als er. Wer so viel Macht hat, gerät leicht zum Opfer der Selbstüberschätzung. Doch Kerr wird alsbald vom gefeierten David zum bedrohten Goliath. Herbert Ihering betritt das Schlachtfeld. Der Hannoveraner ist zwanzig Jahre jünger als Kerr und ein nüchterner Analytiker. Witz und Ironie sind ihm fremd. Brecht ist sein Mann. Auch für Barlach und Bronnen macht er sich stark. Und plötzlich sieht Kerr alt aus. Er gilt als Genussmensch, der Kulturkritik betreibt, als ginge es um teure Restaurants und edle Weine, während Ihering als strenger Theoretiker der Dramaturgie gehandelt wird. Es geht da nicht nur um einen Generationenkonflikt, sondern auch um einen Methodenstreit. Er dauert bis heute an.
Alfred Kerr ist gern und viel gereist. Er hat zwar über vierzig Jahre in Berlin verbracht und die Stadt mit der ihm eigenen Boshaftigkeit geliebt. Keiner hat ihre pulsierende Hektik, ihre Kulturszene und die Schickeria der Belle Epoque treffender geschildert als er. Die Berichte, die er als junger Mann in den Jahren 1895 bis 1900 für die "Breslauer Zeitung" geschrieben hat und die uns seit 1998 in der glänzenden Edition von Günther Rühle vorliegen, sind für mich Kerrs schönstes Buch. Wir erleben ihn hier als selbstbewussten Dandy mit wachem Blick und schnellem Wortwitz. Dabei ist er durchaus noch ein Kind seiner Zeit, dem Duelle, Jagdgesellschaften, Herrenzimmer und die Kunst des Handkusses selbstverständlich sind. Haus, Bibliothek, Flügel, Pferd, Hund und Weib zählt er als Ingredienzen eines standesgemässen Lebens auf – in dieser Reihenfolge.
1933 ist es mit all dieser Pracht schlagartig vorbei. Alfred Kerr, ein Mann von 65 Jahren, der aus seinem Judentum nie ein Hehl gemacht hat, muss nach London fliehen. "Wem Mob will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt", notiert er bitter. Dabei hat er das Unglück kommen sehen. "Was Hitler, der Mann des gebrochenen Ehrenworts, auch dreist behaupten mag", schrieb er schon 1928, "die Herrschaft der NSDAP bedeutet Krieg. Letztes Elend! Deutschlands Zerfall!" Drei Ausrufezeichen.
Von England aus kann er noch einige Jahre lang im deutschsprachigen "Pariser Tageblatt" publizieren. Aber nach der deutschen Besetzung Frankreichs im Jahr 1940 besteht auch diese Möglichkeit nicht mehr. Fünf Jahre lang arbeitet er, verunsichert und zunehmend verzweifelt, an seinem als Novelle deklarierten Buch "Der Dichter und die Meerschweinchen", einem Roman über das Scheitern eines Romans. Es ist ein ergreifendes Dokument des Identitätsverlusts. Kerr, der schnelle, virtuose Alleskönner, hat sich hier kurios gequält.
Erst 2004 ist dieses denk- und merkwürdige Zeugnis erschienen. In ihm scheint Alfred Kerr Busse zu tun. Einst war er der mächtigste Kritiker des Kaiserreichs und der Republik. Seine Worte konnten Existenzen vernichten. Nun ist er ein einsamer Emigrant, der sich selbst als "stellungslosen Teufel" karikiert. Daran sollten wir denken, bevor wir Alfred Kerr auf die Rolle des selbstgefälligen Virtuosen reduzieren. Er war sehr viel mehr als das. Seine wunderbaren Reisefeuilletons aus Paris und Venedig, aus Jerusalem (das er schon 1899 besuchte), aus New York und London, aus Spanien, Algier und Korsika zeigen es aufs Schönste. Wir sind da mit einem urbanen, politisch wachen und erfrischend frechen Geist unterwegs. Er mag sich manchmal täuschen – wer von uns täte das nicht –, aber er schreibt immer mit Spannkraft, mit Ehrgeiz und dem unbedingten Willen, es nicht beim zweitbesten Wort bewenden zu lassen.
"Ein grosser Geist wie Bählam seiner / ist nicht so ratlos wie ein kleiner", heisst es bei Wilhelm Busch. Ich rechne mich, meine sehr geehrten Damen und Herren, durchaus und ohne jede Koketterie zu den kleinen Geistern. Gleichwohl spornt mich Alfred Kerrs Ehrgeiz an. Um es mit einem Notat Alfred Polgars zu sagen: Beim Schiessen verreisst es das Gewehr immer etwas nach unten. Man muss also höher zielen als dahin, wohin man eigentlich treffen will. Ich übersetze das für uns so: Als Feuilletonisten müssen wir jeden Tag versuchen, unser Bestes und Letztes zu geben. Mit etwas Glück wird dann allenfalls etwas Passables daraus.
Ich danke Herrn Riethmüller, Herrn Casimir, Frau Gass, der hochgeschätzten Jury und meinem lieben Freund Peter Haffner nochmals ganz herzlich für Ehre, die Sie mir heute erwiesen haben. Ihnen, meine verehrten Damen und Herren, danke ich für Ihre geneigte Aufmerksamkeit.