Karl Marx: Novitäten zum 200. Geburtstag

Der Weltveränderer

27. Dezember 2017
von Börsenblatt
Der Marxismus wird wieder intensiv diskutiert. Unzählige Novitäten setzen sich mit dem Journalisten, Wissenschaftler und Revolutionär auseinander: eine Auswahl.

Noch längst ist nicht alles gesagt: Zu seinem bevorstehenden 200. Geburtstag am 5. Mai erscheint eine wahre Titelflut von Büchern über Karl Marx. Nicht frei von Ironie, versprechen sich die Verlage von der geradezu ikonografischen Strahlkraft des wohl wirkmächtigsten Kapitalismuskritikers aller Zeiten ein sehr einträgliches Geschäft – und gleichzeitig scheint der rauschebärtige und für seine Streitlust berühmte Trierer, der den Großteil seines Lebens im Londoner Exil fristete (und der die Bezeichnung »Marxist« ausdrücklich von sich wies), schwerer denn je zu greifen. Zumindest darin stimmen die meisten Biografen und Theoretiker überein und werden nicht müde, uns unter die Nase zu reiben, wie schlecht wir selbst nach der Finanzkrise den Verfasser des »Manifests der Kommunistischen Partei« und des »Kapitals« eigentlich kennen.

Vom »Manifest« entfernte sich der Verfasser in späteren Schriften teils deutlich, vom »Kapital« hat er gar nur den ersten Band selbst ausformuliert: Zeitlebens gern säumig, was die Fertigstellung seiner Texte betraf, drückte Marx seinem engen Freund, Ernährer und Mitstreiter Friedrich Engels einen gewaltigen Zettelkasten in die Hand, aus dem dieser die beiden Folgebände erst kompilierte. Dass Engels offiziell für einen unehelichen Sohn von Marx die Vaterschaft anerkannte, zeugt von der Stärke dieser schier unverwüstlichen Männerfreundschaft.

Auf die von ihm prophezeite Revolution des Proletariats und den Niedergang des Kapitalismus warteten Marx und seine Nachfolger vergeblich. Während der Revolten schlug Marx sich stets in das gemäßigte Lager – und so lautet die berechtigte Frage: Was hat Marx uns heute eigentlich noch zu sagen? Geschickt verbindet Jürgen Neffe in seiner Biografie »Der Unvollendete« (C. Bertelsmann, 656 S., 28 Euro) Lebensgeschichte und Kernthesen der marxschen Theorien geschickt mit dem Hier und Heute: von »Entfremdung« bis zu »Produktiv­kräften« wird manches abgehandelt – die wahren Stärken des Buchs liegen aber klar im biografischen Teil. 

Ist Marx letztlich nicht für Millionen Tote und schreckliche Verbrechen an der Menschheit verantwortlich, die im 20. Jahrhundert in seinem Namen begangen wurden? Nicht nur Neffe, auch Terry Eagleton würden hier lautstark widersprechen. »Warum Marx recht hat« (Ullstein, 288 S., 12 Euro) ist ab März 2018 auch als Taschenbuch zu ­haben. Gewohnt streitlustig und streitbar versucht Eagleton in dem 2012 als Hardcover erschienenen Band, zehn Hauptkritikpunkte an Marx (»Der ­Marxismus mündet immer in der Tyrannei«) zu entschärfen. Rhetorisch mag Eagleton den Bogen gelegentlich überspannen, aber seine mit Verve vorgetragenen Thesen (»Nicht der Marxismus ist überholt, sondern der Kapitalismus!«) liest man mit Gewinn.

Noch souveräner und mit beeindruckender Sprachkunst knöpft sich Thomas Steinfeld Marx vor: Jahrelang hat der Journalist auf Marx »herum­gedacht«, erfrischend respektlos rückt er Mann und Werk zu Leibe. Attacken, überraschende Paraden und Nebenkriegsschauplätze wechseln sich in seinem Großessay »Herr der Gespenster« (Hanser, 288 S., 24 Euro) ab. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie zeitgemäß Marx heute noch ist; einige Tritte gegen das allzu hohe Podest des Wirtschaftswissenschaftlers gibt es frei Haus. Die Perle zum Marx-Jubiläum präsentiert sich als ein Buch, das geradezu gespickt ist mit Absurditäten und Trivia rund um Karl Marx – Steinfeld bietet diese dem Leser auf dem Silbertablett an. Hätten Sie gewusst, dass Karl Marx ein eifriger Nutzer der Londoner Bibliothek war, wo er 1 500 Bücher penibel zusammenfasste? Dass der größte Teil des ­umfangreichen marxschen Œuvres aus journalistischen Texten besteht, von ­denen ein guter Teil auf Engels’ Konto geht? Hand aufs Herz: Genau das ist es doch, was den Leser bei der Stange hält.

Mit den Folgen beschäftigt sich auch Rolf Hosfeld in »Karl Marx. Philosoph und Revolutionär« (Pantheon, Februar 2018, 272 S., 15 Euro) intensiv. Marx habe dort die größten Erfolge erzielt, wo er als Theoretiker des gewerkschaftlichen Kampfs aufgetreten sei, seine Heilsbotschaften seien wenig angenommen worden. Die Vertretung der tatsächlichen Arbeiter, habe Marx irritiert feststellen müssen, habe immer Züge der pragmatischen Aufweichung gezeigt: Die Arbeiter wollten staatsbürgerliche Anerkennung. In seiner Biografie beschreibt Hosfeld den recht streitbaren Schreiber, der als 25-Jähriger zum Redacteuer en chef der »Rheinischen Zeitung« aufstieg, mit Blick auf die Zensur aber letztlich viel pragmatischer agierte als sein Vorgänger. Dadurch, dass Hosfeld sehr genau das marxsche Umfeld analysiert, werden die Lebensbedingungen, die finanzielle Situation, die Beziehung zu Jenny von Westphalen sehr plastisch greifbar. Nebenbei nicht uninteressant: Während all seiner Stationen im Exil bis hin zu seinem Tod hatte Marx, von der Schwiegermutter »mitgegeben«, stets ein Dienstmädchen – die 1851 sogar einen Sohn von ihm geboren haben soll.

»Marx und die Folgen« (Metzler, 154 S., 19,95 Euro) heißt es auch bei Christoph Hennig. Sehr solide und streng chronologisch wird hier das Leben des Revolutionärs nachgezeichnet, das Werk übersichtlich dargestellt. So viele Verdienste sich der Autor für diese kompakte Einführung auch erwirbt, das Schlusskapitel sollte der Leser getrost überblättern: Bei so manchen Bezügen zur Popkultur (»Matrix«, »Terminator«) gehen dem Autor schier die Pferde durch. 

Dabei muss man doch gar keine Bezüge herstellen, wo keine sind: In »Das ­Digital« (Econ, 304 S., 25 Euro) lehnen sich die Autoren Viktor Mayer-Schönberger und Thomas Ramge eher lose an Marx’ hochkomplexe Theorien an, um Handlungsempfehlungen für das digitale Zeitalter zu geben. Man merkt ihnen den journalistischen Background auf positive Weise an: Die Thesen sind klar strukturiert, auch für Laien verständlich und lassen sich rasch zusammenfassen. Die neuen, datenreichen Märkte sind effektiver als datenarme, weil sie durch Datenbanken, Algorithmen und künstliche Intelligenz für eine »Revolution« beim Ermöglichen von Transaktionen, etwa dem Erbringen von Dienstleistungen oder der Suche nach geeigneten Handelspartnern sorgen. 

Ramge und Mayer-Schönberger sehen das Zeitalter dieser datenreichen Märk­te heraufziehen. Gemäß ihrer These wird die grundlegende Transformation der Märkte aber nicht ohne heftige Geburtswehen vonstatten gehen: Neben Massenarbeitslosigkeit drohen Superstar-Unternehmen (wie Amazon und Google) den Wettbewerb zu ihren Gunsten (heißt: zum Nachteil der Allgemeinheit) zu beeinflussen. Mit Steuern und vor allem der Pflicht, die erhobenen Kundendaten mit anderen Unternehmen zu teilen, soll den Autoren zufolge der Staat für Gerechtigkeit sorgen, dann würden sich die Scheinriesen auch gesundschrumpfen. 

Einen anderen Ansatz verfolgt der langjährige »Focus«-Feuilletonchef: In »Karl Marx beim Barbier. Leben und letzte Reise eines deutschen Revolutionärs« (Blessing, März 2018, 224 S., 20 Euro) nimmt Uwe Wittstock eine Episode aus Marx’ letztem Lebensjahr als Folie, um rückblickend ein Resümee dieses bewegten Lebens zu ziehen. In der äußeren Form einer Erzählung lässt Wittstock Karl Marx im Februar 1882 in Marseille einen Dampfer nach Algier ­besteigen, wo ihn ein als Friedesrichter tätiger ehemaliger Kämpfer der Pariser Kommune empfängt. Wittstock beschreibt einen kranken, an einer chronischen Bauchfellentzündung leidenden Marx, der den Tod seiner Frau Jenny drei Monate zuvor kaum verkraften kann. Der Autor verknüpft die belletristische Form mit biografischen Sachinformationen, erinnert an Marx’ liberalen Vater mit jüdischen Wurzeln, zeigt die wilden Studentenjahre des Revolutionärs, seine dichterischen Ambitionen, die prekäre Existenz bis zum Exil.

Als man sich 1910 an die Edition der Briefe machte, »war man entsetzt wegen der oft unflätigen Sprache, der wüs­ten Beschimpfungen anderer« berichtet Wilfried Nippel. Der emeritierte Professor für Alte Geschichte in Berlin erzählt in »Karl Marx« (C. H. Beck, 9,95 Euro) kompakt auf 130 Seiten von Marx’ Lebensstationen und seinen Rollen als ­Politiker, Journalist und Wissenschaftler bis hin zu den Neuausgaben der Marx-Texte. Dabei legt Nippel ein Augenmerk darauf, wie Marx auf seine Zeitgenossen gewirkt hat.

Ebenso kompakt bekommen wir den Revolutionär von Journalist und Autor Diethmar Dath präsentiert: In der 100-Seiten-Reihe bei Reclam bietet er mit »Karl Marx« (10 Euro) eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit dem marxschen Leben und seiner Lehre. Lernen kann man von seiner Vorgehensweise: Womit Marx nicht einverstanden ist und was er bekämpfen möchte, das studiert er zunächst einmal intensiv und versucht es zu verstehen, immer mit Blick auf die nackte Realität. Das macht auch seine Aktualität aus, die bis heute anhält. 

Weitere Novitäten: 

Michael Quante, David P. Schweikhard: »Marx Handbuch« (Metzler, 446 S., 49,99 €): Für ein Lesepublikum mit akademischem Interesse sehr empfehlenswert. Werk, Vita und die wichtigsten Zeitgenossen (und Epigonen!) in einem Band.

Christina Morina: »Die Erfindung des Marxismus« (Siedler, 592 S., 25 €): Diese Ideengeschichte veranschaulicht an neun Beispielen, wie aus Bürgerkindern Klassenkämpfer und Revolutionäre wurden, u. a. Rosa Luxemburg, Karl Kautsky und Lenin werden porträtiert. Aufschlussreich!

»Es kommt darauf an, die Welt zu verändern« (dtv, 400 S., 20 €): Klaus Körner versammelt in diesem Marx-Lesebuch wichtige Texte und ordnet sie nach Erscheinen. Hilfreich: die ausführliche Einführung und das kommentierte Literaturverzeichnis.     

Bücherschau zu Marx: Die Frankfurter Buchmesse präsentiert zum 200. Geburtstag von Karl Marx an ihrem Gemeinschaftsstand der deutschen Verlage auf internationalen Buchmessen die Buchkollektion »Karl Marx und die Kritik an der modernen Gesellschaft«. Die Bücherschau der Reihe »Bücher unterwegs« umfasst rund 50 Titel: bit.ly/marx-unterwegs