Interview mit Maurizio Maggiani

"Uralte Geschichten"

23. Juli 2015
von Börsenblatt
Der italienische Schriftsteller Maurizio Maggiani erzählt in seinem Roman "Himmelsmechanik" (Edition Nautilus) die Geschichte der Landschaft, der er selbst entstammt: der toskanischen Garfagnana. Ein Gespräch mit dem Autor.

"Himmelsmechanik“ ist ein Buch, das viele Episoden erzählt – persönliche, familiäre, historische und mythologische. Für einen durchschnittlichen Leser ist es nicht einfach, allen Teilen und Umwegen des Romans zu folgen und nicht den roten Faden zu verlieren. Gleichzeitig ist der Roman ein großes, wundervolles Panorama einer Region und einer Gemeinschaft, die von einem Erzähler präsentiert wird, der Teil dieses Mikrokosmos ist. Aber was ist aus Ihrer Sicht das Zentrum der Erzählung?
Ich glaube, dass das Zentrum dieser Erzählung das neue Leben ist, das noch entstehen soll – die Tochter, die der Erzähler mit seiner Lebensgefährtin Anita haben wird. Die unendlichen Geschichten und Lebensgeschichten, die sich in diesem kleinen Universum miteinander verflechten, wären nicht zu recht erzählt, wenn es darin nicht jemanden gäbe – die Tochter –, die in der Zukunft noch Zeugnis davon ablegen könnte, die lebendiger Teil und auf ihre Weise Erzeugerin eines anderen Lebens und anderer Geschichten sein könnte.
Ein Zentrum zweiter Ordnung ist dann die Landschaft, jenes Universum, das die Lebensläufe enthält, und das wiederum die Lebensläufe Generation um Generation verändern. Es gäbe dort keine Geschichten, wenn darin kein Ort wäre, an dem sich die Geschichten entzünden und entwirren, um sich über die Welt auszubreiten – und, in diesem Fall, zu jenem kleinen Universum zurückkehren, um sich auf ihre Weise zwischen den Schluchten und Bergen zu verflüchtigen. Die Landschaft ist wie ein Katalysator, der Handlungen auslöst, die sich sehr oft woanders abspielen, dabei aber die Merkmale ihrer ursprünglichen Natur mit sich in andere Länder tragen, in andere Begebenheiten, zu anderen Menschen.

Was verbindet Sie persönlich mit der Garfagnana und ihren Geschichten?
Die Garfagnana ist vor allem der Landstrich jenseits der Hügelkette, an der ich geboren wurde und aufgewachsen bin. Obwohl sie sehr nahe an meinem Dorf liegt, habe ich sie immer als einen "anderen" Ort gesehen, geografisch und kulturell weit weg, isoliert und abgeschieden. Die Einwohner der Garfagnana, die ich als meine Cousins aus dem Wald bezeichnen könnte, sind immer von einem Nimbus des Mysteriums und der Magie umgeben gewesen. Vielleicht, weil ihnen immer schon das Gedächtnis unserer uralten Geschichten gehört hat. Tatsächlich sind die Bewohner der Garfagnana auch heute noch dabei, unsere antiken Ereignisse zu erinnern und zu erzählen – in ihren Mai-Gesängen, den sogenannten "Maggi". Das sind mündliche Erzählungen in gesungenen Reimen, Jahrhunderte alt, die die wichtigsten Ereignisse der Geschichte meiner Heimat vom Vater auf den Sohn überliefern. Als Erwachsener bin ich in die Garfagnana gegangen und habe dort wieder einige Jahre gelebt. Ich habe dieses Universum hörend, beobachtend und mit der Hand berührend erlebt und mich wie ein Bruder gefühlt, der nach Jahrzehnten aus einem fernen Exil zurückkehrt.

Erkennen Sie sich in Ihrem Protagonisten wieder?
Mein Protagonist, der keinen Namen hat, weil er jedermann sein könnte, – das bin nicht ich. Und ich glaube auch, dass er deutlich besser ist als ich. Der Protagonist meiner Geschichte ist vielleicht die Summe vieler Charaktere und Temperamente, die ich in der Garfagnana kennen gelernt habe und denen ich dort begegnet bin, und vielleicht ist es derjenige, der ich gern sein würde. Aber da ich mich schließlich entschieden habe, am Meer zu leben, nahe an den großen Verbindungsstraßen, eine Stunde mit dem Flugzeug von der Hauptstadt oder irgendeinem anderen Zentrum der Gegenwart entfernt, konnte ich nicht diese ursprüngliche Würde, diese Entschiedenheit, diesen unbefleckten Stolz bewahren, die meine Erzählfigur und viele Frauen und Männer, die ich in der Garfagnana kennen gelernt habe, besitzen.

Das Buch ist auch eine Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte, dem Zweiten Weltkrieg und den Kriegsverbrechen der Deutschen. Ist das auch ein Stück Verarbeitung der eigenen Herkunft?
In der letzten schrecklichen Periode des Zweiten Weltkriegs war die Garfagnana im Herzen der Gotenstellung, der deutschen Verteidigungslinie, die die Apenninen durchquerte. Meine eigene Familie hat diese dramatischen Ereignisse miterlebt. Meine eigene Familie – die vier Mitglieder unter den Partisanen hatte, von denen zwei getötet wurden –, hat einen deutschen Offizier, der zwei Jahre lang in unserem Haus lebte, seine Essensrationen mit ihr teilte und eine große Menschlichkeit bewies, vor den Gewalteinwirkungen des Kriegsendes beschützt. Die Verbrechen, die von den deutschen Besatzern und ihren italienischen Verbündeten verübt wurden, sind nicht vergessen, aber es ist ebensowenig die Tatsache vergessen, dass der Krieg von Millionen junger und jüngster, unschuldiger Menschen gemacht und erlitten wurde, die von ihren totalitären Regimes gezwungen wurden, das zu sein, was freie Menschen nie hätten sein wollen. Meine Familie hat mich gelehrt, immer zwischen Mensch und Mensch zu unterscheiden, zwischen gerecht und ungerecht, zwischen Opfer und Henker, und in dieser Hinsicht gibt es keine offene Rechnung, weil für die ehrlichen und würdigen Menschen alles klar war – das Unrecht und seine offensichtlichen Ursachen.

Ihren Roman könnte man auch als Loblied auf das einfache, unabhängige Leben in der globalen, technisierten Welt lesen. Ist das nicht eine Art Verklärung der Verhältnisse?
Ich denke wahrhaftig, dass auch in der Gegenwart genügend Raum ist für individuelle und kollektive Entscheidungen, die abweichend sind und im Gegensatz zu den Moden und den Verhaltensweisen der Masse steht, die ihrerseits von den herrschenden Ideen des Konsums unterdrückt wird. Ich glaube, dass man wo auch immer auf der Welt, und nicht nur in der Garfagnana, ein Leben leben kann, das auf Werte der Würde und der Schönheit gestützt ist. Ich glaube, dass man in Deutschland wie in Italien in dieser Hinsicht sehr viele Beispiele aufzählen kann.

Die Geschichte des Vaters, der als brasilianischer Soldat nach Italien kommt, hat auch fantastische Züge. Wie kam Orson Welles in den Roman? Mögen Sie die Filme von Welles?
Die brasilianischen Soldaten waren die ersten alliierten Soldaten, die die Gotenstellung durchbrachen und die Garfagnana von der Besatzung befreiten. Das brasilianische Kontingent war aus jungen Freiwilligen zusammengestellt worden, von denen einige Nachfahren italienischer Einwanderer waren. Orson Welles hat tatsächlich eine lange Konferenzreise durch Brasilien gemacht, um die jungen Leute dieses Landes davon zu überzeugen, sich freiwillig für den Krieg in Europa zu melden. Nichts leichter also als dass der Vater des Romanhelden eine Konferenz mit Welles gehört und beschlossen hätte, sich einziehen zu lassen. Im Übrigen ist es tatsächlich passiert, wie in meinem Roman geschildert, dass ein Kellner in einem Londoner Café, der aus der Garfagnana emigriert war, ein Freund von Oscar Wilde wurde und davon seiner in der Garfagnana zurückgebliebenen Familie erzählte. Er hing sozialistischen Ideen an, und Oscar Wilde war immerhin Besitzer des Parteibuchs mit der Nummer Eins der Sozialistischen Partei des Vereinigten Königreichs. Ich weiß, dass das Leben unüberschaubar ist, weil alles passieren kann, und dass die Fantasie eines Romanciers nichts im Vergleich zu dieser Unendlichkeit ist. Was Welles betrifft: Ich mag ihn nicht sosehr als Regisseur, sondern schätze ihn umso mehr als Schauspieler. Auf jeden Fall ist "Citizen Kane" einer der schönsten Filme, die jemals gedreht wurden.

Schreiben Sie an einem neuen Roman?
Nein, ich schreibe gerade an gar keinem Roman. Ich plane gerade die Konstruktion einer großen Geschichte, eines großen Romans, der komplett mündlich erzählt wird. So wie es in der mittelalterlichen Tradition war, in allen Völkern Europas. Wie meine Vorfahren vor tausend Jahren will ich meine Heimat bereisen und dabei eine große romanhafte Geschichte erzählen.

Interview: Michael Roesler-Graichen

 

Zur Person
Maurizio Maggiani, geb. 1951 in Castelnuovo Magra, hat unter anderem als Gefängnislehrer, Erzieher von blinden Kindern, Fotograf, Kameramann und Regieassistent gearbeitet, bevor er fast zufällig ein erfolgreicher Schriftsteller wurde. Er lebt in Genua und schreibt regelmäßig für die Genueser Tageszeitung "Il Secolo XIX" und die Turiner "La Stampa". Für seinen Roman "Der Mut des Rotkehlchens" erhielt er 1995 den "Premio Campiello". Für die Erzählungen "Die Liebe ist ein Schwindel" (2004) erhielt er 2003 den Literaturpreis "Scrivere per amore". Der Roman "Himmelsmechanik" (it. "Meccanica celeste") ist 2012 bei der Edition Nautilus auf Deutsch (übersetzt von Andreas Löhrer) erschienen (344 S., 22 Euro).