Interview

"Das Buch trifft offenbar einen Nerv"

16. Dezember 2010
von Börsenblatt
"Der kommende Aufstand", das bei Edition Nautilus auf Deutsch erschienene Pamphlet des Unsichtbaren Komitees, entwickelt sich zu einem Bestseller. Warum das Buch des linksintellektuellen französischen Autorenkollektivs auch deutsche Feuilletons und Leser fasziniert – das hat boersenblatt.net Verleger Lutz Schulenburg gefragt.

Sie haben die deutsche Übersetzung von "Der kommende Aufstand" verlegt und bereits 30.000 Exemplare verkauft. In Frankreich wurden die Verfasser terroristischer Anschläge bezichtigt, das Buch als Indiz gewertet. Fürchten Sie keinen Besuch der Staatsanwaltschaft?
Schulenburg: Nein, das nicht. Aber das Buch wird in Deutschland von höchsten Regierungskreisen aufmerksam beobachtet, wie "Le Monde" neulich schrieb.

Haben Sie mit einer solchen Resonanz gerechnet?
Schulenburg: Das Pamphlet ist ja über weite Strecken eine Diagnose unseres gesellschaftlichen Zustands. Schon der erste Satz konstatiert: "Unter welchem Blickwinkel man sie auch betrachtet, die Gegenwart ist ausweglos." Mit seinem frechen Ton und seiner radikalen Argumentation trifft es offenbar einen Nerv. Es ist Ausdruck der Unzufriedenheit über die Alternativlosigkeit des Ist-Zustands.

Sind wir gerade Zeugen einer neuen Protestbewegung – und steht dieses Buch dafür?

Schulenburg: Das Vertrauen in die Problemlösungskompetenz der Politik schwindet. Die Menschen kündigen die Loyalität gegenüber dem Staat auf, weil alle Reformen zu Lasten der Bevölkerung gehen. Nur stillschweigend zu konsumieren und hin und wieder einmal zur Wahl zu gehen, genügt vielen Bürgern nicht mehr – siehe Stuttgart 21, das derzeit krasseste Symptom für einen Sinneswandel. Das Abnicken demokratisch legitimierter, rechtskonformer Entscheidungen lehnen die Menschen mehr und mehr ab. Das Buch selbst löst natürlich keinen revolutionären Prozess aus, sondern formuliert den Widerstand, der sich in der Gesellschaft regt.

Dennoch wundert man sich, dass ein solch radikales Buch in Deutschland überhaupt gelesen wird …
Schulenburg: In Frankreich gibt es eine entsprechende literarische Tradition – Texte, die mit Verve und voller Leidenschaft geschrieben sind. Das wirkt offenbar ansteckend, zumindest bei Feuilletonredakteuren, die von dem Buch fasziniert waren.

Ist es vielleicht die Radikalität des Denkens, des Ausbrechens aus gewohnten Bahnen, die den "kommenden Aufstand" so anziehend macht?
Schulenburg: Es ist eine Schrift, die dem Gefühl, vor einem gesellschaftlichen Umbruch zu stehen, eine Sprache gibt, die einen Raum für Utopien schafft, die seit dem Ende des realen Sozialimus als diskreditiert gelten.

Die "taz" hat das Pamphlet mit Denkern wie Carl Schmitt und Martin Heidegger in Verbindung gebracht und damit in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt. Wie erklären Sie sich das?

Schulenburg: Das war vermutlich eine Trotzreaktion gegenüber den Kollegen der bürgerlichen Feuilletons – eine vollkommen abwegige Unterstellung, weil es dem Unsichtbaren Komitee ja nicht um die Legitimierung einer schrankenlosen Staatsmacht geht, nicht um den permanenten Ausnahmezustand, sondern gerade um die Abschaffung jeder Zentralgewalt.

Wo ist das Buch im Sortiment vertreten?
Schulenburg: Es ist in ordentlichen Stückzahlen von den unabhängigen Sortimenten bestellt worden, aber auch von Amazon und den Barsortimenten.

Nimmt Protestliteratur generell wieder zu?
Schulenburg: Bücher, die gesellschaftliche Fragestellungen aufgreifen, haben derzeit einen starken Zuspruch – gleich welcher Couleur.

Meinen Sie damit auch Thilo Sarrazin?

Schulenburg: Auch, aber ich denke weniger an solche Bekenntnisliteratur für reaktionäre Eliten, sondern eher an Ilija Trojanows und Juli Zehs "Angriff auf die Freiheit", Pierre Bourdieus "Gegenfeuer" oder die "Müdigkeitsgesellschaft" von Byung-Chul Han.

Interview: Michael Roesler-Graichen